"De volgende halte is Brussel-Centraal, le prochain arrêt est Bruxelles-Central."
Wer mit dem Zug nach Brüssel hineinfährt, ist kurz vor der Ankunft im Zentralbahnhof einige Sekunden lang abgelenkt: Ins Auge fällt die Häuserwand einer Sozialbau-Platte, dort zu sehen: ein an den Füßen verbundener, herunterhängender Männerkörper, der völlig ausblutet. Die Flüssigkeit tropft über mehr als sechs Stockwerke hinunter. Der Bauch - ausgeweidet, der Kopf - eine einzige Blutlache.
Mit diesem Graffiti empfängt die belgische Hauptstadt seit gut einer Woche ihre Gäste. Das Kunstwerk, offenbar ein gut durchdachtes Projekt, das sich an einem prominenten Vorbild aus dem 17. Jahrhundert orientiert. Und zwar am Gemälde "Die Leichen der Gebrüder de Witt" des holländischen Künstlers Jan de Baen, das den Lynchmord an den beiden niederländischen Machthabern darstellt. Das wirft eine Menge Fragen auf. Erstens: Wie kriegt man ein solch präzises Riesen-Graffiti in so kurzer Zeit da hin? Zweitens: Was ist die Message? Drittens: Wer war es? Und viertens: Darf es da bleiben?
Martialische Graffitimotive
Die Brüsseler Stadtzeitung Bruzz hat sich diese Fragen bereits gestellt. Schon zum zweiten Mal in diesem Monat setzt sich die Redaktion mit martialischen Graffitimotiven auseinander. Zuerst hatte eine Wandmalerei für Aufregung gesorgt, die eine Beinahe-Enthauptung zeigt. Das Graffiti imitiert das Bild des italienischen Barockkünstlers Caravaggio von der Opferung Isaaks durch Abraham. Vieles spricht dafür, dass beide Wandmalereien vom stadtbekannten Graffiti-Künstler Bonom stammen, denn wenn er malt, dann meist in Serien, erklärt der Journalist Kris Hendrickx:
"Das war zwei, drei Tage später, haben Leser uns gemeldet. Habt ihr denn schon die gesehen an der Rue des Brigittines? Das ist noch ein bisschen grausamer. Das ist ja keine Fast-Köpfung, da ist jemand ermordet, aufgehängt an seinen Füßen. Und das ist sicher Teil der Erklärung, warum das so viel Effekt hat diese Malerei, also das Grausame aber auch das sehr Sichtbare."
Grausam und sichtbar. Ein Graffiti an einer Hauptverkehrsader, an der 90 Züge pro Stunde vorbeifahren.
"Da kann man denken: hat es zu tun mit dem Thema aus der ursprünglichen Malerei? Muss man das so lesen: Machthaber in den Niederlanden, die am Ende grausam ermordet wurden? Bedeutet das irgendwie sowas wie: Die Macht muss auch aufpassen, denn sie ist nicht unverletzlich?", so Hendrickx.
Ein Seitenhieb gegen autokratische Herrscher in turbulenten politischen Zeiten? Eine Anti-Trump-Referenz? Peut-être. Der mutmaßliche Urheber hat nichts dazu gesagt und so lebt der Mythos Bonom weiter. Und weil es keine Erklärung gibt, wird auch über das Caravaggio-Graffiti gerätselt, das in der Nähe des Stadtteils Molenbeek zu sehen ist, der als Islamistenhochburg gilt:
"Einige hatten wahrscheinlich den Reflex zu denken: Das ist an der Grenze zu Molenbeek, Köpfung - IS. Ist das eine Lesart? Denn das ist eine biblische Geschichte, die sowohl bei Muslimen als auch bei Christen vorkommt?"
Kris Hendrickx verweist darauf, dass Bonom für mehrdeutige Graffitis bekannt ist und dabei planvoll vorgeht. Der Künstler studiert im Voraus Skizzen, überlegt sich wie er irgendwo hochklettern kann, nutzt Baustellengeländer oder seilt sich ab, sprayt oder malt mit Farbrollen, die an Teleskopstangen befestigt sind. Wenn Bilder von ihm auftauchen, geht das manchmal auch an der Politik nicht vorbei.
Stadt wird zunächst nichts dagegen unternehmen
Der liberale flämische Kulturminister Sven Gatz twitterte, dass die Kunst frei sei, man könne doch keinen Caravaggio verbieten. Und die Stadt? Im Büro von Karine Lalieux, der Brüsseler Stadträtin für öffentliche Sauberkeit und Kultur, kommen zwar auch Beschwerden von Eltern an, die die Graffitis ihren Kindern nicht zumuten wollen, doch laut dem Sprecher Emmanuel Angeli gibt es erst mal keinen Handlungsbedarf:
"Wir sind eine offene Stadt, wir fürchten wegen der Graffitis nicht um unser Image. Im Gegenteil: Die Bilder zeigen, dass wir eine offene Stadt sind, bei dem Bild mit der herunterhängenden Leiche gibt es nur ein Problem. Auf der Wand findet bereits ein Künstlerwettbewerb der regionalen Sozialwohnungsbaugesellschaft statt."
Deswegen wird das Bild auch entfernt. Fünf Künstler sind in der Auswahl und Ende März entscheidet eine Jury, wer den Zuschlag erhält. Das Kuriose dabei: In der Auswahl ist auch Bonom. Vielleicht ist er den Juroren also zuvorgekommen.