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"Street View, das gibt es eigentlich schon viel früher"

Google-Street View ist vor seiner technischen Implementierung von heute schon längst vorhanden: als Begehren. Und eigentlich ist der Google-Dienst harmlos - verglichen mit dem, was militärtechnologisch um 1800 eingeführt wurde, meint Kulturtheoretiker Kittler.

Friedrich Kittler im Gespräch mit Michael Köhler |
    Michael Köhler: Seit Giotto di Bondone sind Stadtansichten und Menschenporträts untrennbar miteinander verbunden. Der Mensch als Teil vor der Fassade und Bestandteil der Fassade auf der Straße war öffentlich geworden, schon in der Malerei des frühen 14. Jahrhunderts. Die Stadtansichten von Street View sind vergleichsweise harmlos. Auch medienhistorisch und nachrichtentechnisch waren die medientechnologischen Neuerungen während der französischen Revolutionskriege schon weiter, vor 200 Jahren.

    Ich habe mit dem Berliner Medientheoretiker und Kulturtheoretiker Friedrich Kittler darüber gesprochen, ob die Erhebung der Herzen nicht schon viel früher organisiert wurde, mit der optischen Telegrafie etwa im revolutionären Frankreich? Das waren so Flügeltelegrafen, die auf Häusern und Hügeln standen, mit denen man Nachrichten in einer Stunde vom Rand der Republik in die Mitte schicken konnte, also schon sehr früh übers ganze Land blicken konnte, eine Synchronisierung des Staates aus Teilrepubliken. War das nicht schon ein optisches System vor Street View?

    Friedrich Kittler: Man kann eben den Nachrichtenfluss extrem beschleunigen und entkoppeln von der menschlichen Gegenwart, also dem Reiter, sagen wir mal, dem Reitenden den Boden. Zum ersten Mal trennt sich die nackte Information, nämlich das entcodierte Alphabet, von einer Mühle zur nächsten, so 10 Kilometer Sicht als Stafette, trennt sich die Information von der Kommunikation, und Napoleon kann dann 1809 eben in Blitzeseile erfahren, erst mal durch Boten, die aus München nach Straßburg kommen, und dann über das Chappesche optische Telegrafensystem in Windeseile nach Paris, sodass die Kunde wird vielleicht noch eine Stunde gebraucht haben von Straßburg bis Paris, und dann konnte er eben sofort mobilmachen gegen die Österreicher, die den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite haben wollten. Die griffen zum ersten Mal an und hofften eben, dass er zwei, drei Wochen zur Mobilisierung seiner Verteidigung brauchte. In Wahrheit ging es aber viel, viel schneller, weil diese optische Telegrafie, Vorläuferin der elektrischen, damals eben noch das Monopol der Revolutionshelden und Napoleons war.
    Aber ich denke, Street View, das gibt es eigentlich schon viel früher und es gibt eine wunderbare Studie über den Konstrukteur der Zentralperspektive, Leon Battista Alberti. Der hat unmittelbar vor Gutenbergs Erfindung des Drucks eine Ansicht von Rom hergestellt ...

    Köhler: Ein berühmter Renaissance-Architekturtheoretiker ...

    Kittler: Ja, und Malereitheoretiker. Und weil er Angst hatte vor den Fehlern, die die Kopisten machen, wenn sie Kartenmaterial kopieren immer nur von der Hand her, dann hat er quasi die Polarkoordinaten erfunden und hat einen stehenden Mittelpunkt von Rom sich ausgesucht und dann Entfernung und Richtung aller einzelnen Gebäude der Stadt, also aller wichtigen Gebäude der antiken Stadt Rom, signalisiert, und das konnte jeder dann mit Zirkel und Lineal bei sich zu Hause nachvollziehen. Deshalb hat sich Alberti dann, als die Nachricht von Gutenbergs Erfindung nach Rom in Italien kam, ganz herzlich gefreut und gratuliert.

    Köhler: Street View, die Aufregung darum ist eigentlich harmlos, verglichen mit dem, was militärtechnologisch so um 1800 eingeführt wurde?

    Kittler: Das könnte ich wirklich unterschreiben. Man soll vielleicht beide Seiten dieser Entkopplung von Kommunikation und Information sehen. Die frei gewordene Information fließt über Feuer, oder Elektrizität, oder Glasfaserkabel heutzutage, und auf der anderen Seite muss eben auch immer noch Transport Kommunikation sein von just in time Fertigprodukten einerseits und in Kriegszeiten eben von Mann und Material und Waffen.

    Köhler: Was uns heute so aufregt, der panoramatische Blick, ist quasi in der Kultur schon ganz früh angelegt, oder der Wunsch danach? Der ist quasi schon da, bevor seine technischen Mittel ihn realisieren. Könnte man so sagen?

    Kittler: Ja. Die Geschichte von Alberti, über die wir gerade gesprochen haben, wäre vielleicht ein gutes Beispiel. Aber das dann richtig zu bauen und große Städte danach einzurichten, so radial, so sternförmig, ist vielleicht doch erst eine Sache, die dann, Foucaults richtige Beobachtungen bestätigend, im 18. Jahrhundert mit der Aufklärung einsetzt, der panoramatische Blick, mit Bentham und dem neuen Gefängnisbau, wo ein Wärter in alle Zellen hineinschauen kann, und dergleichen Dinge, und dann das Panorama des 19. Jahrhunderts, wo dieser Blick eingeübt wird für die Touristen. Riesige Schlachten kann man da im Panorama durch Begehen heute noch in Luzern, am Vierwaldstätter See zu besichtigen.

    Köhler: So könnte man sagen, Street View ist eigentlich schon längst vor seiner technischen Implementierung von heute vorhanden, als Begehren?

    Kittler: Ja, das kann man sagen, wird man sagen. Man wird auch an alle Wachtürme denken und an alle Kirchtürme und alle die Sarazenen-Türme, die im Mittelmeer stehen und eben nach allen Seiten Sicherung machen wollen.

    Köhler: Dagegen ist die Bezeichnung des Kabelverlegungsschiffs von Siemens und Halske 1858 als Agamemnon geradezu romantisch?

    Kittler: Ja, das ist wunderbar. Das wäre fast noch ein schöner Schluss. Die Technik weiß mehr über ihre Geschichte, als die Verächter der Technik ihr nachsagen.

    Köhler: ... , sagt der Medientheoretiker Friedrich Kittler über den Überblick, optische Sichtsysteme zur Zeit der revolutionären Kriege, lange vor Street View.