Streikrecht
Warum Deutschland nicht zum Streikland wird

Erst der lange Bahnstreik und dann legen auch noch die Mitarbeiter der Flughäfen und des öffentlichen Nahverkehrs ihre Arbeit nieder. Die Streiks scheinen kein Ende zu nehmen. Doch das scheint nur so. Und dafür gibt es Gründe. 

    Ein Teilnehmer einer Verdi-Demonstration steht mit einem Schild mit der Aufschrift "Nicht der Streik gefährdet den ÖPNV, sondern der Arbeitgeberverband" während einer Kundgebung in der Innenstadt von Hannover.
    Warnstreiks im öffentlichen Nahverkehr sind für die Bevölkerung stärker spürbar als etwa in der metallverarbeitenden Industrie (picture alliance / dpa / Michael Matthey)
    In ihrem Kampf für bessere Löhne und Arbeitszeiten hat die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) gerade erst fünf Tage den Personenverkehr lahmgelegt. Kurze Zeit später rief die Gewerkschaft Verdi zu Warnstreiks an elf Flughäfen und in fast allen Bundesländern zu ganztägigen Warnstreiks im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) auf. 
    Die aktuellen Streiks im Verkehrssektor betreffen besonders viele Menschen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass derzeit besonders viel gestreikt wird. Aber auch in den vergangenen Jahren gab es viele Streiks, allerdings oft unter dem Radar der Bevölkerung. Tatsächlich stehen 2024 noch einige weitere Streiks an, da in vielen Branchen neue Tarifverträge abgeschlossen werden.

    Inhaltsübersicht

    Was ist Ziel der aktuellen Streiks?

    Die Sicherheitsleute an den deutschen Flughäfen befinden sich in einem Warnstreik. Sie wollen mehr Geld. Für die 25 000 Beschäftigten möchte Verdi 2,80 Euro mehr pro Stunde und höhere Zulagen aushandeln. Das sind übersichtliche Lohnforderungen. Der nächste Verhandlungstermin findet am 6. Februar 2024 statt.
    Im öffentlichen Nahverkehr geht es vor allem um bessere Arbeitsbedingungen, in Brandenburg, Saarland, Sachsen-Anhalt und Thüringen auch um höhere Löhne und Gehälter. 
    Die GDL will höhere Löhne und eine geringere Wochenarbeitszeit, ab dem 5. Februar verhandeln Bahn und GDL wieder darüber.

    Welche Spielregeln gelten für Streiks in Deutschland? 

    In Deutschland darf nur für Tarifverträge gestreikt werden. Grundlage für dieses Streikrecht bildet die im Grundgesetz formulierte Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3). Streiks, die ein übergeordnetes politisches Ziel verfolgen, sind also nicht erlaubt. Hinzu kommt, dass nur Gewerkschaften dieses Streikrecht wahrnehmen dürfen. Nicht streiken dürfen in Deutschland Beamte wie beispielsweise verbeamtete Lehrerinnen und Lehrer.
    Während Tarifverhandlungen darf auch nicht gestreikt werden. In dieser Zeit besteht eine sogenannte Friedenspflicht. Diese gilt auch während der Laufzeit eines Tarifvertrages. Und wenn es in einem Tarifstreit nicht zur Einigung kommt, müssen die Gewerkschaftsmitglieder in einer Urabstimmung über weitere Streiks abstimmen. Ausnahmen bilden Warnstreiks.
    Mit Warnstreiks darf kurzfristig die Arbeit niedergelegt werden, allerdings nur für wenige Stunden. Dafür braucht es keine Urabstimmung und es kann auch während Verhandlungen gestreikt werden. Mit diesem Mittel soll dem Arbeitgeber die allgemeine Kampfbereitschaft deutlich gemacht werden. Die Gewerkschaft IG Metall sieht darin ein „effektives Druckmittel“.

    Wird mehr gestreikt als früher?

    Schon die vergangenen zwei Jahre waren für deutsche Verhältnisse recht streikintensiv. Viele haben vielleicht noch den gemeinsamen Streiktag von Verdi und der größeren Bahngewerkschaft EVG im Mai 2023 in Erinnerung. Eine Bilanz der Streiktage für 2023 liegt noch nicht vor. Aber dadurch dass sich die Streiks im Verkehrsbereich zuletzt so konzentrierten, also viele Menschen in ihrem Alltag davon betroffen sind, summiert sich das zu dem Eindruck, dass es mehr Streiks sind als früher. 
    Diese Statistik zeigt die Anzahl der Streikenden und durch Streiks ausgefallenen Arbeitstage in Deutschland in den Jahren von 2004 bis 2022. Im Jahr 2022 registrierte das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut in der Hans-Böckler-Stiftung rund 930.000 Streikende und etwa 674.000 anfallenden Ausfalltagen in Deutschland.
    Auch in vergangenen Jahren wurde ähnlich viel gestreikt (Statista/WSI)
    Tatsächlich könnte 2024 noch streikreicher werden. Das liegt an den anstehenden Tarifrunden in der Chemie- und Baubranche und in der Metall- und Elektroindustrie. In all den Branchen wird vermutlich auch gestreikt werden. Diese Streiks werden wir aber weniger spüren als die im Verkehrssektor. 
    Schon 2018 war ein streikreiches Jahr. Für uns nur spürbar durch die Streiks im öffentlichen Dienst. Die meisten Streiktage aber gingen auf das Konto eines Tarifkonfliktes in der Metall- und Elektroindustrie. Auch im Einzelhandel läuft seit etwa neun Monaten ein kaum merklicher Arbeitskonflikt mit Warnstreiks und Arbeitsniederlegungen. Wir bekommen also nur ganz bestimmte Streiks zu spüren. Die vielen Verhandlungen im Hintergrund aber bleiben für uns unbemerkt.

    Wird mehr gestreikt als in anderen Ländern?

    In Deutschland wird deutlich weniger gestreikt als in anderen europäischen Ländern. Das zeigen Zahlen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. So kamen Frankreich und Belgien in der Vergangenheit auf sehr viel mehr Streiktage als Deutschland.
    Eine Statistik zeigt die Streiklust international.
    In Frankreich wird im internationalen Vergleich am häufigsten gestreikt. (2021) (dpa-infografik GmbH)
    Durch das deutsche Streikrecht sind auch in Zukunft keine französischen Verhältnisse zu erwarten. Vor allem dadurch, dass hierzulande keine politischen Streiks vorgesehen sind.

    Ändern sich die Machtverhältnisse zugunsten der Arbeitnehmer?

    Arbeitskräfte werden ein immer begehrteres Gut. Das stärkt theoretisch die Arbeitnehmerseite. Die Gewerkschaften sind mittlerweile nicht mehr die sterbenden Saurier als die sie noch vor einigen Jahren angesehen wurden. Der DGB hat einen Zuwachs von 437.000 Mitgliedern, das sind 37 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
    Zugleich stehen die zentralen Industriebranchen derzeit vor erheblichen Problemen: Energiekosten in der chemischen Industrie, die Transformationsaufgabe in der Autoindustrie. In diesen Prozessen wiederum stehen Arbeitsplätze auf dem Spiel. Gleichzeitig haben die Gewerkschaften in der digitalen Wirtschaft noch nicht ihren Platz gefunden. Außerdem werden ihre Tarifverträge immer weniger angewendet. Paradiesische Zustände für Arbeitnehmer sind also nicht in Sicht.
    Groß angelegte Untersuchungen sehen es als ein zentrales Problem in Deutschland, dass die Löhne seit langem zu niedrig sind. Das sei Ursache für die mangelnde Binnenkonjunktur. Ganz konkret kam es in den vergangenen zwei Jahren zu Reallohnverlusten. Den Gewerkschaften ist es nicht gelungen, den Kaufkraftverlust durch die Inflation auszugleichen. Auch darum geht es in den Tarifrunden 2024, diese Verluste ansatzweise auszugleichen.

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