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Streiklust oder Betriebsfrieden
Gewerkschaften klagen gegen Tarifeinheit

Kaum sind die Streiks bei der Lufthansa vorbei, liegt dort schon der nächste Arbeitskampf in der Luft. Ein neues Gesetz soll die Macht der kleinen Gewerkschaften nun brechen: das Tarifeinheitsgesetz. Jetzt ist es nach langem Hin und Her in Kraft getreten. Und die ersten Gewerkschaften haben bereits beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Beschwerde eingereicht.

Von Michael Braun und Brigitte Scholtes |
    Teilnehmer einer Mahnwache von dbb Beamtenbund und Tarifunion gegen eine Zwangs-Tarifeinheit halten am 02.03.2015 vor der CDU-Parteizentrale in Berlin ein Plakat mit der Aufschrift "Freiheit statt Tarifdiktatur".
    Die Pilotenvereinigung Cockpit und die Ärztegewerkschaft Marburger Bund stellten zugleich den Antrag, die Anwendung des Gesetzes bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen. (dpa / picture-alliance / Wolfgang Kumm)
    Seit ein paar Wochen starten und landen sie wieder planmäßig – doch bei der Lufthansa liegt schon der nächste Streik in der Luft. Die Schlichtung mit der Pilotenvereinigung Cockpit ist gescheitert, und ausgerechnet mitten in der Urlaubszeit könnten die Piloten mal wieder die Arbeit niederlegen. So mancher Passagier dürfte sich einmal mehr über die Macht der kleinen Gewerkschaft ärgern.
    "Stellen Sie sich vor, alle würden das machen, jede Krankenschwester würde einmal streiken, jeder Doktor!"
    "Ich bin ohnehin kein allzu großer Freund des Streikrechts, in infrastrukturrelevanten Branchen ohnehin schon mal nicht. Es ist nur blöd, wenn man den Kunden als Geisel nimmt."
    Ein neues Gesetz soll die Macht der kleinen Gewerkschaften nun brechen: das Tarifeinheitsgesetz. Heute ist es nach langem Hin und Her in Kraft getreten. Doch schon am gleichen Tag haben die ersten Gewerkschaften beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Beschwerde eingereicht.
    Die Pilotenvereinigung Cockpit und die Ärztegewerkschaft Marburger Bund stellten zugleich den Antrag, die Anwendung des Gesetzes bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen. Auch die Lokführergewerkschaft GdL sieht im Tarifeinheitsgesetz einen Verstoß gegen die im Grundgesetz garantierte Koalitionsfreiheit. GdL-Vize-Chef Norbert Quitter:
    "Gewerkschaften haben nun mal die Möglichkeit, mit einem Arbeitskampf oder der Drohung eines Arbeitskampfes ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Und damit letztendlich auch zu einer Kompromissfindung, zu einem Tarifvertragsabschluss zu finden. Wenn aber Gewerkschaften wie unserer das Streikrecht weggenommen werden soll oder das Streikrecht eingeschränkt werden soll, dann bleibt uns am Ende ja nichts anderes übrig als kollektiv zu betteln. Und wie weit wir mit diesem Betteln kommen, ist jedem bewusst, nämlich gar nicht weit. Und dann ist natürlich die Frage, warum soll sich noch jemand in unsere Gewerkschaft organisieren, wenn wir seinen Anspruch an eine Gewerkschaft nicht mehr erfüllen können."
    Andrea Nahles (SPD), Bundesministerin für Arbeit und Soziales, gestikuliert am 22.05.2015 im Plenarsaal des Bundestages in Berlin
    Bundesarbeitsministerin Nahles während der Abschlussdebatte zum Tarifeinheitsgesetz. (pa/dpa/Jensen)
    Doch der GdL dürfte es nicht nur um Koalitionsfreiheit und Streikrecht gehen, sondern auch ums blanke Überleben. Die Lokführergewerkschaft blickt auf eine bald 150jährige Geschichte zurück - doch jetzt fühlt sie sich in ihrer Existenz bedroht, von einem Gesetz, das die sozialdemokratische Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles auf den Weg gebracht hat.
    "Dass einige Spartengewerkschaften für ihre Partikularinteressen vitale Funktionen unseres gesamten Landes lahmlegen, ist nicht in Ordnung."
    Kleine Gewerkschaften nutzten die Tarifautonomie aus, provozierten „Tarifkollisionen", lautete das Argument der Arbeitsministerin. Es bestehe die Gefahr, dass eine so praktizierte Tarifautonomie ihrer „Aufgabe der Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens nicht mehr gerecht werden" könne, hieß es in der Gesetzesbegründung. Dieser Entwicklung soll mit dem Tarifeinheitsgesetz ein Riegel vorgeschoben werden.
    Ein Betrieb, ein Tarifvertrag - das ist das Ziel dieses Gesetzes: Wenn mehrere Gewerkschaften in einem Betrieb dieselben Arbeitnehmergruppen vertreten, soll nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern in dem Betrieb gelten. Diese Regelung ist allerdings umstritten, weil sie den Einfluss kleiner Berufs- und Spezialistengewerkschaften beschneidet.
    Die Gewerkschaftslager sind gespalten
    Das Tarifeinheitsgesetz habe viele Gewerkschafter erst recht auf die Barrikaden gebracht, sagt Claudius Wagemann, Professor für Gesellschaftswissenschaften an der Universität Frankfurt.
    "Ich denke, ja, weil es zumindest für Gewerkschaften wie die GDL auch ein Stück weit um das Überleben ging. Jetzt vielleicht nicht ‚Überleben' im Sinne von Weiter bestehen oder nicht, aber die Frage, wie weit im öffentlichen Raum überhaupt noch Platz für solch eine Gewerkschaft ist. Und, wie immer bei Überlebenskämpfen, werden natürlich auch die Maßnahmen andere. Und hier, denke ich, ging es dann wirklich an die Substanz, und dann sucht man sich eben auch andere Formen, mit denen man mehr Öffentlichkeit erreicht. Und damit natürlich auch mehr Durchschlagskraft und Durchsetzungsfähigkeit."
    Das Bundesarbeitsgericht hatte eine frühere Regelung zur Tarifeinheit im Juni 2010 gekippt. Denn das Prinzip "ein Betrieb, ein Tarifvertrag" hatte zur Folge, dass die Arbeitnehmer derjenigen Gewerkschaft, die den Tarifvertrag nicht abgeschlossen hatte, überhaupt keinen Tarifvertrag hatten, also tariflos waren. Das aber dürfe nicht sein, meint Olaf Deinert. Er ist Professor für Arbeitsrecht an der Universität Göttingen:
    "Da haben viele Arbeitsrechtler, die ganz große Mehrheit gesagt, das ist eigentlich verfassungswidrig: Weil diejenigen, die in einer Gewerkschaft sind, die einen Tarifvertrag abgeschlossen hat, haben ja eigentlich von einem Grundrecht Gebrauch gemacht. Und jetzt nimmt man ihnen die Früchte davon. Und das hat dann also zu massiven Widerständen geführt, die dann schließlich in dieses Urteil von 2010 mündeten, dass das Bundesarbeitsgericht dann gesagt hat, diese Bedenken nehmen wir ernst. Man kann die Einzelnen nicht tariflos stellen."
    Seither also galt wieder die Tarifpluralität. Dass die Öffentlichkeit sie so stark zu spüren bekam, liegt wohl daran, dass sich Spartengewerkschaften vor allem in den Bereichen der Daseinsvorsorge bildeten: Die Ärzte sind im Marburger Bund organisiert, die Lokführer der Bahn zum großen Teil bei der GdL, der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, und in der Luftfahrt gibt es für fast jede Berufsgruppe eigene Gewerkschaften: Die Vereinigung Cockpit für die Piloten, die Unabhängige Flugbegleiter-Organisation UFO für die Mitarbeiter der Kabine, die Gewerkschaft der Flugsicherung für die Fluglotsen. Die jüngste Gewerkschaft ist die AGIL, die Arbeitnehmergewerkschaft im Luftverkehr, die die Bodenbeschäftigten vertreten will.
    Die Schlichter Matthias Platzeck (2.v.r.) und Bodo Ramelow (2.v.l.), kommentieren in Berlin mit Bahn-Personalvorstand Ulrich Weber (rechts) und GDL-Chef Claus Weselsky (links) das Verhandlungsergebnis.
    Die Schlichter Matthias Platzeck (2.v.r.) und Bodo Ramelow (2.v.l.), kommentieren in Berlin mit Bahn-Personalvorstand Ulrich Weber (rechts) und GDL-Chef Claus Weselsky (links) das Verhandlungsergebnis. (dpa / picture alliance / Wolfgang Kumm)
    Diesen kleineren Berufsgewerkschaften kam die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zupass. Endlich konnte etwa Claus Weselsky im Namen der Lokführergewerkschaft auch für Mitglieder einen Tarifvertrag verlangen, die anderen Berufsgruppen angehörten: Zugbegleiter, Disponenten, Lokrangierführer, die sich womöglich bei der Konkurrenzgewerkschaft EVG nicht gut aufgehoben fühlten. GdL-Chef Claus Weselsky erkannte darin die Pflicht und die Möglichkeit, seine Tarifmacht zu festigen und auszubauen:
    "Wir leben in einer individualisierten Gesellschaft. Und die Bereitschaft, in Gewerkschaften zu sein, ist nicht allzu ausgeprägt. Wir müssen also gute Arbeit als Berufsverband machen, um am Ende des Prozesses für unsere Mitglieder auch attraktiv zu sein."
    Anders als die Berufsgewerkschaften sehen es die DGB-Gewerkschaften: Sie unterstützen überwiegend das Tarifeinheitsgesetz. „Ohne Einheit keine Stärke", postuliert etwa die IGBCE, die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie - eine der großen in der Bundesrepublik. Tarifpluralität tut sie als "Tarif-Tohuwabohu" ab, womit das Prinzip "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" untergraben werde.
    Auch die IG Metall wetterte früh gegen die Tarifpluralität, weil sie die Arbeitnehmer spalte. Allerdings kritisierte die IG Metall zugleich, die Friedenspflicht gesetzlich auszudehnen, denn das sei ein Eingriff in das Streikrecht. Die Gewerkschaft erreichte, dass der Gesetzentwurf geändert wurde. Schließlich konnte sie ihre Bedenken gegen das Tarifeinheitsgesetz zurückstellen, so der Zweite Vorsitzende Jörg Hofmann:
    "Dass wir jetzt das Tarifeinheitsgesetz haben, so wie es auf dem Tisch liegt, das eben keinen expliziten Eingriff durch Gesetze in die Friedenspflicht vorsieht, ist, denke ich, auch ein Erfolg einer politischen Arbeit, die das Thema Tarifautonomie und Streikrecht hoch ansiedelt. Und deswegen auch an der Stelle Korrekturen an der eigenen Positionsbildung über die letzten Jahre mitgetragen hat."
    Streikrecht ist gefährdet
    Dennoch verläuft die Trennlinie im Gewerkschaftslager beim Thema Tarifeinheit nicht nur zwischen "groß" und "klein". Mit der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di gehört auch eine der größten Gewerkschaften zum Lager der Gesetzesgegner, ähnlich wie die Lehrergewerkschaft GEW und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten. Der Grund: Sie sehen mit der eingeschränkten Tarifautonomie das Streikrecht gefährdet. Ver.di-Chef Frank Bsirske sagt, der Grundsatz "ein Betrieb, ein Tarifvertrag" sei richtig. Ihn durchzusetzen, sei aber nicht Aufgabe des Staates:
    "Das ist ein indirekter Eingriff in das Streikrecht der Minderheitsgewerkschaften und in die Koalitionsfreiheit, die das Grundgesetz garantiert. Das lehnen wir ab. Und sind überzeugt davon, dass die Auseinandersetzung um den richtigen Weg tarifvertraglich in den Betrieben politisch geführt werden muss, aber nicht mit juristischen Mitteln durch gesetzliche Vorgaben erzwungen werden darf, und schon gar nicht durch einen Eingriff in Grundrechte."
    Das Gewerkschaftslager ist also gespalten. Umso mehr appelliert der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann an die gemeinsamen Interessen und die Einheit der Gewerkschaften, wie hier im ZDF:
    "Erinnern wir uns an die katastrophalen Zustände in der Weimarer Republik, die mit dazu beigetragen haben, die schrecklichen Folgen des Zweiten Weltkrieges. Und da sind die Gewerkschaften nach 1945 angetreten und haben gesagt: Wir werden uns nie wieder spalten lassen, dass Arbeitnehmer gegeneinander aufgebracht werden. Sondern Tarifeinheit und Einheitsgewerkschaft ist ein enger Zusammenhang, hat einen hohen politischen Wert, den wir auch verteidigen wollen."
    Die Arbeitgeber kommen zu ähnlichen Schlüssen. Ihnen geht es darum, das einstige Tarifmonopol zu erhalten. Sie wollen nicht mit vielen verschiedenen Gewerkschaften verhandeln, wollen vor allem nicht von vielen verschiedenen Gewerkschaften bestreikt werden können. Ingo Kramer, der Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA):
    "Sie müssen sich als Unternehmen ja darauf einstellen können, dass, wenn sie mit einer Gewerkschaft einen Vertrag abschließen, der eine Laufzeit von üblicherweise irgendwo zwischen zehn und 20 Monaten hat, dass während dieser Vertragslaufzeit auch der andere Teil des Vertrages eingehalten wird, nämlich dass es einen Betriebsfrieden gibt und man planmäßig seine Kunden bedienen kann. Wenn sie das nicht mehr können, weil die Planbarkeit verloren geht – denn aus irgendeiner Ecke kann zu jederzeit irgendjemand einen Betrieb stilllegen -, wie sollen sie denn dann noch irgendwelche Verträge mit ihren Kunden eingehen? Das können sie nicht machen."
    Und in der Praxis geht es ihnen darum, Dienstpläne ohne Rücksicht auf unterschiedliche Arbeits- und Pausenzeiten konstruieren zu können. Sie wollen auch um des Betriebsfriedens willen gleichen Lohn für gleiche Arbeit zahlen. Das hat etwa der Personalvorstand der Bahn, Ulrich Weber, in den Tarifverhandlungen mit der GDL immer wieder betont:
    "Tarifkonkurrenz bedeutet nun einmal das Nebeneinander unterschiedlicher Arbeitsbedingungen für ein und dieselbe Arbeitnehmergruppe. Das funktioniert schlechterdings nicht, bringt Unfrieden und Unordnung in ein Unternehmen."
    Weber hat dieses Ziel für die Bahn kürzlich in ellenlangen Schlichtungsverhandlungen mit der GdL erreicht. Als Vorbild nannte der Bahnvorstand etwa die Verfahren, die bei den Allgemeinen Ortskrankenkassen gelten. Dort wollen offenbar alle die innerbetriebliche Gewerkschaftskonkurrenz und ihre Folgen vermeiden. Uwe Deh, Geschäftsführender Vorstand des AOK Bundesverbandes:
    "Natürlich ist es so, dass die Beschäftigten ein Interesse daran haben, dass sie nicht überlegen müssen, wie komme ich in den Geltungsbereich von Tarifvertrag A, B oder C. Das ist einfach vom Ende her gedacht für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass wir vorher die Interessen der Gewerkschaften und der Arbeitgeber in harten Verhandlungen zu einem Ausgleich führen müssen. Das ist die erste Phase. Das ist das harte Tarifgeschäft. Aber zum Schluss streben wir an, dass wir ein Ergebnis haben, was für alle Beschäftigten quer durch die Republik einheitlich wirksam werden kann. Das hat im Übrigen nicht nur etwas damit zu tun, den Betriebsfrieden damit auch zu unterstützen, sondern hat natürlich auch ein paar Vorteile in der ganzen Administration."
    Dass Tarifpluralität bei mehreren Bahngesellschaften wunderbar funktioniere, das behauptet die GDL immer wieder.
    Überprüfen ließ sich das nicht - die von der GDL genannten Bahngesellschaften wollten sich nicht vor dem Mikrofon dazu äußern, die Hessische Landesbahn nicht, die Vogtlandbahn nicht, die NordWestBahn nicht. In einem Hintergrundgespräch hieß es allerdings, das Unternehmen, das nicht genannt werden will, sei "todunglücklich" mit der Situation. Man müsse mit dem leben, was die GDL ausgehandelt habe, weil das Geld fehle, einen Streik auszuhalten. In der Praxis werde das günstigere Tarifrecht angewandt: Wenn die EVG etwa eine Arbeitszeit von elf Stunden ausgehandelt habe, die GDL von zehn Stunden, müssten alle nur zehn Stunden arbeiten. Anders seien Dienstpläne nicht zu schreiben.
    In anderen Berufsgruppen gelingt die Zusammenarbeit der Spartengewerkschaften unterschiedlich gut. Beispiel Flugbegleiter:
    "In einigen Airlines läuft das parallel. Da machen tatsächlich Ufo und Ver.di Tarifverträge, teilweise sogar kooperierend, teilweise dann am Ende gleichlautende Verträge, wo dann in einem Aspekt eher die Ufo vorantreibt, in anderen eher die Ver.di. Im Haus Lufthansa aber ist es zum Beispiel ganz klar, da hat Ver.di zwar den Anspruch, verhandelt aber seit vielen Jahren nicht mehr für die Kabinen, gar nicht, dadurch, dass aber der Vertretungsanspruch nicht aufgegeben ist, ist es nach dem Tarifeinheitsgesetz eine Kollision."
    In einem solchen Fall muss dann gezählt werden, wer mehr Mitglieder hat: Ver.di oder Ufo.
    "Man stelle sich vor, in einem einstweiligen Verfahren sagt der Arbeitsrichter, lieber Notar, jetzt gehen Sie doch mal bitte mit zur Ufo und gucken sich die Mitgliedsdaten an, überprüfen die, stimmen die denn auch? Man kann sich das in der Praxis noch gar nicht richtig vorstellen und der Bund der deutschen Arbeitsrichter hat auch schon abgewunken und gesagt, so eine Entscheidung würden sie in einem Eilverfahren nicht treffen."
    Die Unternehmen könnten sich mit der Tarifeinheit aber auch unliebsame Gewerkschaften fernhalten, befürchtet Arbeitsrechtler Olaf Deinert:
    "Es soll darauf ankommen, welche Gewerkschaft im Betrieb die Mehrheit bildet. Der Betrieb ist aber ein Konstrukt, das der Arbeitgeber letztlich schafft. Das ist eine arbeitstechnische Einheit, die kann er relativ einfach verändern und dadurch natürlich auch verändern, wer die Mehrheiten hat und wessen Tarifvertrag sich durchsetzt."
    Das sei ein immenser Eingriff in das Tarifrecht, kritisiert die Pilotenvereinigung Cockpit. Deren Sprecher Jörg Handwerg erklärt, wie sich das in seiner Branche auswirken könnte:
    "Grundsätzlich ist es natürlich möglich, dass eine andere Gewerkschaft, die zum Beispiel vieles am Boden organisiert hat, hergeht und sagt, wir haben hier zwei Piloten, es gibt zwar noch 500 andere, aber wir beanspruchen jetzt mit diesen zwei Piloten aufgrund unserer vielen Mitglieder die Tarifverträge im Cockpit abzuschließen. Und dann wäre dieser Tarifvertrag für die Cockpitmitarbeiter bindend."
    Und gerade in der Luftfahrt sind die Arbeitnehmer über eine weitere Entwicklung besorgt. Nicoley Baublies von der Flugbegleitergewerkschaft Ufo:
    "Wenn ich mir anschaue, wie die Erosion links und rechts neben dran fürs Bodenpersonal in den verschiedenen Betrieben passiert, das zieht uns mit in diesen Abwärtsstrudel, weil es erstens mal heißt, ja, das Check-in-Personal haben wir schon ausgelagert, die arbeiten schon für 1.000 Euro brutto, warum müsst ihr immer noch so viel verdienen, warum müsst ihr immer noch überhaupt nach eigenem Tarif? Müssen wir euch überhaupt direkt anstellen? Warum machen wir das nicht auch über Personalleasing?"
    Eine Antwort darauf ist die "Interessengemeinschaft Luftverkehr", deren Gründung Ufo initiiert hat. In ihr will sie die Interessen der Arbeitnehmer zwar wieder bündeln, aber nicht in Form einer Flächengewerkschaft, in der einer für alle verhandelt, erklärt der Ufo-Chef:
    "Mit der größtmöglichen Autonomie versehen sollen diese eigenen Bereiche bleiben, unbedingt. Aber formal wird das eben innerhalb einer Industriegewerkschaft sein, die durchaus die Benchmark setzt, die die Korridore miteinander vereinbart. Beispiel: Wenn eine Sparte der Meinung wäre, Leiharbeit ist super, können wir unbegrenzt machen, dann würde eventuell die IGL schon sagen - nicht: Wir übernehmen das jetzt, aber sagen, hey, aber wir haben ausgemacht, Leiharbeit ist kein Tarifziel, denk da noch mal drüber nach."
    Die meisten Juristen sind von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes überzeugt
    Nun also sollen die Richter in Karlsruhe überprüfen, ob das Tarifeinheitsgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Jörg Handwerg, Sprecher der Pilotengewerkschaft Cockpit:
    "Was sich jetzt auftut, ist ja eine riesengroße Rechtsunsicherheit, keiner weiß ja wirklich ganz genau, wie es sich auswirkt, weil das Gesetz eben auch handwerklich schlecht ist. Die Verantwortung wird auf die Justiz abgeschoben, letzten Endes werden hier politische Willensbildung, die stattgefunden hat, die aber nicht verfassungskonform umsetzbar ist, zumindest nach unserer Einschätzung und der vieler Juristen, die wird abgeschoben auf den einzelnen Richter, der dann entscheiden muss, ist ein Streik überhaupt zulässig im konkreten Fall oder ist er eben nicht zulässig? Und das lähmt natürlich die ganze Tariflandschaft."
    Die meisten Juristen seien von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes überzeugt, sagt Olaf Deinert von der Universität Göttingen. Und dennoch habe die Bundesregierung das Gesetz auf den Weg gebracht. Über die Gründe könne man nur spekulieren:
    "Möglicherweise hat man das Gesetz sogar gemacht in der Hoffnung, dass das Bundesverfassungsgericht die Kohlen wieder aus dem Feuer holt und sagt, das ist alles verfassungswidrig. Dann habe ich sozusagen mir als Gesetzgeber nichts zuschulden kommen lassen, ich habe das gewünschte Gesetz gemacht und dann hat's das Bundesverfassungsgericht wieder kassiert. Wenn das so wäre, fände ich es skandalös, wenn man den Schwarzen Peter zum Bundesverfassungsgericht schiebt. Vielleicht deutet sogar eines in die Richtung: Es ist wirklich qualitativ schlecht gemacht, weil sehr viele Fragen offen bleiben bzw. widersprüchlich sind. Da könnte man wirklich den Eindruck, dass der Gesetzgeber sagt, ach, das hat eh keinen Bestand."
    Und zumindest bei einzelnen Gewerkschaften bleibt der Verdacht, die Regierung wolle ausloten, wie viel vom Streikrecht sie einschränken darf.
    Doch auch wenn das Tarifeinheitsgesetz nun zunächst mehr Streit als Einheit bringt: Es ist ein wichtiger Streit, sagt der Politikwissenschaftler Claudius Wagemann. Denn es gehe auch um die Frage,
    "wie wir unsere Demokratie organisieren wollen. Ob wir weiterhin auf große Verbände setzen, wie zum Beispiel die Gewerkschaften, aber das ist ja auch für Parteien relevant, in welche Richtung soll es denn da gehen? Soll es da immer weiter zersplittern? Was ist unsere Idealvorstellung einer funktionierenden pluralistischen Gesellschaft?"