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Streikräfte-Fusion
Wie NVA-Offiziere zur Bundeswehr kamen

Die Zusammenführung von NVA und Bundeswehr im Oktober 1990 gilt als Erfolgsgeschichte der Deutschen Einheit. Das hatte es noch nie gegeben: Eine Armee übernimmt die Truppen und Ressourcen eines Gegners und wickelt diese ab - friedlich und ohne einen einzigen Schuss abzugeben. Beteiligte erzählen.

Von Alexandra Gerlach |
    Die Uniformjacke eines Feldwebels der NVA hängt am 12.07.2016 in der Ausstellung des NOstalgiemuseums in Leipzig (Sachsen). Mehr als 30.000 Exponate erinern in der Ausstellung, die am Samstag (16.07.2016) eröffnet wird, an 40 Jahre Alltag in der DDR. Der Großvater der heutigen Museumschefin hatte die Utensilien einst zusammengetragen und das Museum bereits 1999 in Brandenburg an der Havel eröffnet - jetzt ist es in die Messestadt umgezogen. Foto: Hendrik Schmidt/ZB | Verwendung weltweit
    Uniformjacke eines Feldwebels der NVA: Nur drei Prozent der NVA-Ausrüstung wurden von der Bundeswehr übernommen. Der Rest wurde zerstört, verkauft oder verschenkt. (dpa-Zentralbild)
    "'Kompanie Aufstehen! Fertig machen zum Frühsport! Raustreten in drei Minuten!' In der NVA galt Befehl und Gehorsam und sonst nahezu nichts",
    sagt Oberstleutnant a.D. Udo Beßer. Er hatte selbst 20 Jahre in der Nationalen Volksarmee der DDR gedient, bis er 1990 im Oktober seinen NVA-Waffenrock auszog und in die Bundeswehr überwechselte. Aus zwei bis dahin verfeindeten Streitkräften entstand über Nacht eine neue, gemeinsame deutsche Streitmacht, aus den ehemaligen Gegnern – eingebunden in den Warschauer Pakt auf der einen Seite und in die NATO auf der anderen - wurden Kameraden:
    "Die NVA war eine Gefechtsbereitschaftsarmee, ja, wo sich alles nur darum drehte, und die Bundeswehr war eher eine Soldatenarmee. Da war im Endeffekt das Wohlbefinden und der Soldat die erste Priorität und nicht die Gefechtstechnik wie in der NVA. Wobei man ja auch nicht wusste, dass die ganze Bundeswehr Freitagnachmittag heimfährt."
    Vom aktiven NVA- zum Bundeswehr-Offizier an einem Tag
    Udo Beßer sagt von sich, dass er bis zuletzt überzeugter DDR-Anhänger- und Offizier gewesen sei. Dementsprechend einschneidend war für ihn der 4. Oktober 1990, der Tag, an dem er vom aktiven NVA-zu einem Bundeswehr-Offizier mutierte:
    "Schwierig! Ganz, ganz schwierig. Ich war entsprechend erzogen und war von diesem System überzeugt. Ja, ich kann mich heute nicht hinstellen und sagen, ich war einer derjenigen, die die Wende mit herbeigeführt haben. Das war aber nicht das Problem. Das Problem war, innerlich, dass man in einer Uniform steckte, die bisher der Feind war. Der Gegner – nehmen wir das Wort Feind weg, benutzen wir Gegner. Plötzlich war ich auf der Seite dieses Gegners und steckte in dessen Uniform! Und das war an diesem 4. Oktober furchtbar!"
    Bei seinem ersten Lehrgang im Bundeswehr-Zentrum für Innere Führung in Koblenz, lernt Udo Beßer, dass das Selbstverständnis der Bundeswehrsoldaten völlig anders ist, wie das der der NVA. Plötzlich habe er gesehen, dass die im DDR-Jargon "imperialistische Aggressionsarmee der BRD", die Bundeswehr, gar nicht in Bereitschaft lag, und dass die Soldaten einem Selbstverständnis als "Bürger in Uniform" folgten.
    Daran erinnert sich auch West-Generalmajor a.D. Ekkehard Richter. Er führte ab 1990 das Kommando als Befehlshaber für den Wehrbereich 7 in der südlichen DDR und über die 13. Panzer-Grenadier-Division in Leipzig:
    "Anfang '90, da hatten wir noch gar keinen dienstlichen Kontakt zur NVA, haben die ersten NVA-Offiziere in Zivil Bundeswehrkasernen besucht, und da waren sie überrascht, dass die Bundeswehr nicht in Bereitschaft lag, dass sie nicht aufmunitioniert war, und dass nach dem Grundgesetz Angriffskriege verboten sind. Denn das hatte man ihnen immer gesagt, dass die Bundeswehr gerade über die Feiertage angreifen würde, und daher hatte man ja die NVA ständig in 85-prozentiger Bereitschaft liegen. Und sie haben gemerkt, dass die NVA-Führung sie getäuscht hatte und da haben sehr, sehr viele das Vertrauen in die NVA-Führung verloren."
    "Die Rakete können Sie jetzt aus dem Alarmstart rausnehmen"
    Das erleichterte den Fusionsprozess der beiden Armeen. General Ekkehard Richter erhielt 1990 den Auftrag, Angehörige der ehemaligen NVA einzugliedern, Standorte zu schließen und Ausrüstung zusammenzuführen. Im Endeffekt wurden nur drei Prozent der NVA-Ausrüstung von der Bundeswehr übernommen, der Rest wurde zerstört, verkauft oder verschenkt. Das Arsenal war beachtlich:
    "Über 100.000 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, 300.000 Tonnen Munition, 83.000 Radfahrzeuge, 700 Flugzeuge, 190 Schiffe, 4.500 Tonnen Raketentreibstoff, von dem wir gar nicht wussten, wie er zusammengesetzt war."
    Bei seinen Truppenbesuchen in den Standorten der NVA erlebte der Bundeswehr-General auch Überraschungen, so etwa bei der 3. Raketen-Brigade im Thüringischen Tautenhain:
    "Die hatte taktische Raketen. Und dann habe ich mir die Kaserne zeigen lassen, und dann zeigte er mir in einer Halle noch die im Alarmstart befindlichen zwei Raketen. Und da habe ich gesagt: 'Die können Sie jetzt aus dem Alarmstart rausnehmen.' Und da sagte er: 'Ist das ein Befehl?' Sagte ich: 'Ja, das ist ein Befehl!' Und dann war er etwas überrascht und hat die abgeschaltet."
    Interesse der Öffentlichkeit wieder auf die Armee der Einheit richten
    Es sei ein Wunder, dass die Fusion von Bundeswehr und NVA so reibungslos verlaufen ist, sagt der Ex-General. Historisch einmalig sei dieser Prozess, betont der Historiker Professor Dr. Hanno Sowade, und findet es gerade heute besonders wichtig, das Interesse der Öffentlichkeit wieder auf die Armee der Einheit zu richten:
    "Weil die Verankerung der Streitkräfte in der Gesellschaft nach dem Wegfall der Wehrpflicht eine ganz andere ist. Früher war der Sohn, der Nachbarssohn beim Bund. Man hatte Kontakt miteinander, man hat gemeinsam über den Bund geflucht, haben ihn schön gefunden, wie auch immer, aber man hatte persönliche Kontakte in die Bundeswehr hinein. Und dann entscheidet man natürlich ganz anders darüber, ob man diese Menschen, diese jungen Menschen in den Krieg schickt oder nicht. Und das ist zum Teil verloren gegangen."
    Udo Beßer, Oberstleutnant a.D. in NVA und Bundeswehr, hat seinen Weg nicht bereut. Aktiv setzt er sich für die Werbung junger Menschen für die Bundeswehr ein und gibt bereitwillig Auskunft über seine eigene Geschichte. Doch Kontakte mit den NVA-Weggefährten von einst pflegt er nicht:
    "Ich geh zum Beispiel prinzipiell nicht zu irgendwelchen Treffen von ehemaligen NVA-Angehörigen oder so etwas, aus folgendem Grund: Man wird dort anfangs sehr freundlich, sehr nett gegrüßt, aber nach dem dritten Bier ist man wieder der Verräter. Ja!"