Birgid Becker: Streikbereite Piloten bei der Lufthansa, komplizierte Tarifverhandlungen zwischen Bahn und Gewerkschaften - in der Luft und auf der Schiene geht es im Moment alles andere als tariffriedlich zu. Mitgehört hat der Bonner Arbeitsrechtler Gregor Thüsing. Guten Tag.
Gregor Thüsing: Guten Tag!
Becker: Inhaltlich gibt es wohl, Professor Thüsing, keine wesentlichen Überschneidungen zwischen dem Konflikt bei den Piloten und dem Konflikt der Lokführer. Strukturell aber schon, denn in beiden Fällen handelt es sich um sogenannte Spartengewerkschaften, also kleine Gewerkschaften, deren Arbeitskämpfe aber enorm große Wirkung haben, und hier wie dort sitzen ihnen jeweils Arbeitgeber gegenüber, die in der unkomfortablen Lage sind, aß sie es in ihrem Unternehmen nicht mit einer, sondern gleich mit mehreren Gewerkschaften zu tun haben. Gucken wir zunächst nach diesem Phänomen Spartengewerkschaft. Eine kleine Gruppe mit viel Macht - kann das angemessen sein?
Thüsing: Vollkommen richtig. Frau Scholtes hat es ja deutlich herausgearbeitet. Die inhaltlichen Forderungen sind ganz unterschiedliche. Das Gemeinsame ist, dass es jeweils bestimmte Arbeitnehmergruppen gibt innerhalb eines größeren Betriebes, eines größeren Unternehmens, die eine eigenständige Tarifpolitik verfolgen. Das ist bei der Bahn die GDL, die Gewerkschaft der Lokomotivführer, und bei Lufthansa ist das die Vereinigung Cockpit. Und das ist kein neues Phänomen: Die GDL gehört zu den ältesten Gewerkschaften Deutschlands. Aber es ist doch in jüngerer Zeit stärker ins öffentliche Bewusstsein getreten, dass hier nicht mehr das Prinzip gilt, was lange Zeit gegolten hat, nämlich dass man eine Gewerkschaft hat, die für die Belegschaft insgesamt verhandelt, oder mehrere Gewerkschaften gemeinsam auf der einen Seite stehen und auf der anderen Seite dem Arbeitgeber gegenüber Forderungen erheben.
Das heißt also, wir haben hier eine Spaltung der Tariflandschaft, die dann natürlich auch zu einer Vervielfältigung von Streik und Streikdrohung führen kann, denn wenn mehr als eine Gewerkschaft im Betrieb vertreten ist, dann kann auch mehr als eine Gewerkschaft zum Streik aufrufen und es kann dann den Streik für die Lokomotivführer geben und es kann den Streik für das übrige Personal geben, die nicht zeitlich aufeinander abgestimmt sind und die vielleicht auch nicht inhaltlich miteinander verknüpft sind. Diese Mehrbelastung der Allgemeinheit mit Streiks, das ist das, was momentan in den Fokus tritt.
"Deutschland sollte auch Sonderrechte einführen"
Becker: Nun ist es ja so, Sie sagten es, dass diese Spartengewerkschaften zugleich an Schnittstellen des öffentlichen Lebens sitzen. Frage deshalb: Sollte der Gesetzgeber Arbeitskämpfe in der sogenannten Daseinsvorsorge, also im medizinischen Bereich, bei der Feuerwehr, bei Schulen, bei der Kinderbetreuung, im Verkehr, sollte der Gesetzgeber diese Bereiche durch ein eingeschränktes Streikrecht besonders schützen?
Thüsing: Es gibt unterschiedliche Unternehmen, auf die die Öffentlichkeit unterschiedlich angewiesen ist. Ich kann mir vielleicht irgendetwas bestellen, ein Auto oder irgendetwas anderes, und wenn ich dann meinen Wagen streikbedingt zwei Monate später bekomme, dann ist das nicht so schlimm, die Öffentlichkeit betreffend, als wenn ich als Mutter darauf angewiesen bin, dass ein Kindergartenkind betreut wird, als dass ich als Patient darauf angewiesen bin, dass das Krankenhaus reibungslos funktioniert, als wenn ich als Passagier darauf angewiesen bin, dass ich von A nach B komm durch Bahn oder durch Flugverkehr. Das heißt, es gibt einen bestimmten Bereich, auf den die Gemeinschaft, die Gesellschaft besonders angewiesen ist, und das ist die Daseinsvorsorge, und die Frage ist, muss es hier nicht besondere Spielregeln geben, die einen angemessenen Ausgleich des Interesses der Öffentlichkeit, nämlich nicht von Streiks belastet zu werden, und der Interessen der Gewerkschaften, effektiv für ihre Mitglieder Tarifforderungen zu erheben. Das machen andere Länder vor, es gibt dort Sonderregelungen, und die Frage ist, ob sie jetzt in Deutschland auch eingeführt werden sollten, um diesen Interessenausgleich in recht sichere und vielleicht etwas bessere Bahnen zu lenken, als das bislang der Fall ist.
Becker: Wie ist denn Ihre Antwort? Sie sagten, die Frage ist eingeschränktes Streikrecht in der Daseinsvorsorge.
Thüsing: Für mich gibt es zwei Parameter. Einmal: Es muss ganz klar sein, auch kleine Gewerkschaften, auch Spartengewerkschaften haben die Koalitionsfreiheit des Grundgesetzes im Rücken. Das heißt, auch sie müssen effektiv für ihre Mitglieder wirken können. Insofern war das, was Herr Weselsky im Antexter gesagt hat, voll und ganz richtig. Andererseits ist es legitim, wenn der Gesetzgeber sagt, weil wir diesen besonderen Bereich der Öffentlichkeitsleistungen haben, verpflichten wir euch zum Beispiel zu längerfristigen Ankündigungen, dass man sagt, ein solcher Streik muss mit einer Woche angekündigt werden, damit der Passagier, damit der Patient, damit die Mutter und der Vater mit dem Kindergartenkind sich darauf einstellen können. So etwas gibt es im Ausland und ich hielte solche Regelungen oder andere Regelungen wie Verhandlungspflichten wie obligatorische Schlichtungsversuche für sinnvoll, um einerseits effektive Gewerkschaftsarbeit weiterhin möglich zu machen, andererseits deren soziale Akzeptanz zu sichern dadurch, dass man die Öffentlichkeit möglichst weitgehend von Streiks und Streikdrohungen verschont.
Becker: Kurzer Blick noch auf die politische Situation. Im Koalitionsvertrag steht ja, dass man ein Gesetz zur Tarifeinheit anstrebt. Das haben ursprünglich Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam gewollt. Das ist der andere Aspekt unseres Themas: Man versucht, der Tarifvielfalt etwas entgegenzusetzen. Ursprünglich wollten das Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam. Die Gewerkschaften sind abgerückt. Kommt so ein Gesetz zur Tarifeinheit, obwohl es längst nicht mehr allseitig gewünscht wird?
Thüsing: Vorhersagen sind schwierig, insbesondere wenn sie sich auf die Zukunft beziehen. Aber ich glaube, wenn dies kommen soll, gehört politischer Mut dazu. Aber wir haben eine Große Koalition, die Große Koalition ist die Koalition für große Aufgaben, und ich kann mir vorstellen, dass es gelingen kann, wenn sich alle Beteiligten noch einmal zusammen an den Tisch setzen könnten und gucken, können wir nicht doch aufeinander zugehen, gibt es nicht Minimalkonzessionen, die wir machen können. Tarifeinheit wäre ein wichtiger Schritt. Das Wichtige ist, dass man den Weg dorthin verfassungskonform macht. Das darf nicht im Widerspruch zu den Wertungen des Grundgesetzes sein. Kleine Gewerkschaften dürfen nicht per se außen vor gelassen werden. Wenn man sich aber der Aufgabe stellen will als Gesetzgeber, glaube ich, kann es gelingen.
Becker: Danke! Das waren die Einschätzungen des Bonner Arbeitsrechtlers Gregor Thüsing. Einen schönen Tag wünsche ich.
Thüsing: Ich danke Ihnen.
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