30 Streikende verlieren sich an den langen Tischen der Schützenhalle im ländlichen Koblenzer Stadtteil Rübenach. Sie löffeln Erbsensuppe und pinseln Transparente mit Aufschriften wie "Tarifbindung jetzt". Oder: "Mit Swaggies kann man keine Rechnungen zahlen". Sieben Plastikchips, also Swaggies, kann sich ein Amazon-Beschäftigter monatlich mit Wohlverhalten verdienen, für 32 gibt es ein Akkuladegerät. Was Amazon als Wohlverhalten wertet, darüber machen der Konzern und die Streikenden unterschiedliche Angaben: Der Verzicht auf Krankmeldungen gehöre dazu, beschwert sich ein Verdi-Aktivist, eine Unternehmenssprecherin wird das später dementieren. "Amazon soll unsere Forderung nach einem Tarifvertrag und Einzelhandelslöhnen ernst nehmen", verlangt einer, der anonym bleiben will:
"Wir können uns von Swaggies leider keinen Schinken kaufen, uns den Kühlschrank nicht füllen und leider auch keinen Tank vollmachen. Wir wollen nicht behandelt werden wie Kindergartenkinder, die irgendwelche Smileys oder sonst was verteilt bekommen für gutes Benehmen. Wir wollen ernst genommen werden, wir sind erwachsene Menschen."
"Es geht auch ums Grundsätzliche"
Das mannshohe Transparent mit dem orangefarbenen Chip in der Mitte ist fertig, zwei Verdi-Gewerkschafter in Neon-Westen richten es auf. Gleich zum Schichtwechsel tragen sie es vors Werkstor.
"Ich bin nicht zum ersten Mal dabei, das ist jetzt auch mein vierter Streik", konstatiert ein Bärtiger. "Wir brauchen den Einzelhandelstarif, auch mit Blick auf die Alterssicherung", sagt er und nimmt einen Löffel Suppe. Warum Beschäftigte in Koblenz seit einem Jahr, anderswo schon seit drei Jahren immer wieder die Arbeit niederlegen? Es geht auch ums Grundsätzliche, sagt Hans Kroha, bei Verdi Rheinland-Pfalz zuständig für den Handel.
"Amazon versucht, hier in der Bundesrepublik ein ganz exklusives Geschäftsmodell durchzusetzen, das heißt nämlich: Wir wollen gewerkschaftsfrei, tariflos und mitbestimmungsfrei sein. Deshalb ist das kein klassischer Tarifkonflikt, es ist auch ein Tarifkonflikt. Aber es geht darum, dieses Geschäftsmodell, das für die Branche insgesamt eine Bedrohung ist, insgesamt zu verhindern. Niemand, auch die Wettbewerber, dürfen kein Interesse daran haben, dass sich das durchsetzt, denn wo ist denn am Ende Schluss dieser Auseinandersetzung? Wir brauchen Einkommens- und Beschäftigungsbedingungen, von denen Menschen leben können, sonst haben wir künftig Armut in Arbeit und später Armut in Rente - auch darum geht es in dieser Auseinandersetzung.
150 Streikende - im wenig arbeitskampf-erfahrenen Koblenzer Werk ein tolles Ergebnis, findet Kroha. Pakete hätten nicht befördert werden können, das treffe Amazon.
Amazon gibt sich gelassen
In den weitläufigen Koblenzer Hallen blickt Standortleiter Nikolai Lisac auf ein Gewusel von Gabelstaplern, Förderbändern und Hunderten von Beschäftigten. Im Prinzip fehlt hier keiner, stellt er fest:
"Wir sind Stand jetzt knapp 2600 Mitarbeiter hier am Standort Koblenz, stellen noch für die nächsten beiden Wochen Mitarbeiter ein, und sind dann komplett für unser Weihnachtsgeschäft", am Ende mit fast so vielen Saisonkräften wie Festangestellten.
"Wir haben hier eine sehr, sehr geringe Streikbeteiligung am Standort Koblenz. Operativ passiert dadurch nichts. Wir konnten unser Lieferversprechen wie an allen anderen Tagen einhalten und beliefern den Kunden hier rechtzeitig."
Seit drei Jahren straft Amazon die Ausstände mit Nichtachtung. So störend wie Glatteis auf der Straße, aber auch ebenso gut wegzustecken für den weltgrößten Online-Versand. Standort-Chef Lisac präsentiert ihn als Vorzeigearbeitgeber:
"Wir bieten hier ein sehr attraktives Lohn- und Gehaltspaket für unsere Mitarbeiter. Wir bezahlen hier am Standort in Koblenz als Einstiegsgehalt 10, 33 Euro, und wenn sie zwei Jahre als Mitarbeiter hier beschäftigt sind, sind es 12,36 Euro, zusammen mit den Nebenleistungen wie Mitarbeiter-Aktie, Bonuszahlungen, Jahressonderzahlungen liegen wir hier deutlich am oberen Ende dessen, was in vergleichbaren Branchen gezahlt wird."
Der Logistikbranche wohlgemerkt: Im Einzelhandel fiele der Anfangsstundenlohn drei Euro höher aus, rechnet die Gewerkschaft vor.
Das Amazon-Eigenlob beeindruckt die Streikenden vor dem Werkstor nicht. "Pro Amazon mit Tarifvertrag" steht auf dem Transparent, das Birgit Reich hochhält:
"Wäre auch schön, Urlaubsgeld zu haben, auch Weihnachtsgeld. Vor allem Urlaubsgeld, ich mag Urlaub."
Noch ein Versuch, diejenigen Mitstreiter zu gewinnen, die zur Spätschicht wollen.
"Hallo, wir streiken, auch ihr könnt draußen bleiben." Vergeblich. "Ich bin ja nur befristet", murmelt einer. "Irgendwie muss man das doch Geld verdienen", ein anderer. Birgit Reich lächelt trotzdem. "Dann schöne Schicht!"
Verdi kündigt weitere Streiks an
Morgen um halb sieben endet der Ausstand bei Amazon in Koblenz. Vorerst, präzisiert Verdi-Betriebsrat Norbert Faltin:
"Sie können aber davon ausgehen, dass wir vor Weihnachten noch weiter streiken. Wir streiken so lange, bis wir Erfolg Haben. Zumindest bis sich Amazon zu einem Minimum bereit erklärt, nämlich erst mal mit uns zu sprechen."
"Wir sind der Meinung, dass man auch ohne Tarifvertrag ein guter und fairer Arbeitgeber sein kann", kontert die aus München angereiste Unternehmenssprecherin Anette Nachbar.
Bleibt Amazon hartleibig, dann muss die Politik ran, meint Betriebsrat Faltin: "Also, wenn die Bundesregierung, und ich habe da große Hoffnungen auf eine große Koalition gesetzt, den Tarifvertrag Einzelhandel für allgemein verbindlich erklärt, wo der Versandhandel dazu gehört, dann müssten wir hier gar nicht streiken. Bei einer Allgemeinverbindlichkeit müsste nach dem Tarifvertrag Versandhandel bezahlt werden. So einfach ist das."