Der Bonner Politikwissenschaftler betonte, kleine Gewerkschaften versuchten auf diese Weise, mehr Einfluss zu gewinnen und nutzten dabei aus, dass sie eine Schlüsselposition in der modernen mobilen Gesellschaft einnähmen. Relativ kleine Berufsgruppen könnten so großen Schaden anrichten.
Die Große Koalition will einen Gesetzesentwurf zur Tarifeinheit vorstellen, der aber angesichts im Grundgesetz verankerter Prinzipien - Vereinigungsfreiheit und Streikrecht - nur lindernd eingreifen kann. "Der Korridor, in dem man einen Kompromiss finden kann, diese Tarifeinheit herzustellen, ist sehr schmal", sagte Schneider.
Der heute begonnene 50-stündige Lokführer-Streik ist bereits der dritte innerhalb von gut einer Woche. Die Gewerkschaften würden jedoch nicht prinzipiell aggressiver, so Schneider. Nach den Arbeitskämpfen der Sechziger- und Siebzigerjahre haben in den letzten Jahren verhältnismäßig wenig große Streiks stattgefunden.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Am Telefon begrüße ich jetzt den Bonner Politikwissenschaftler Michael Schneider. Er befasst sich in seiner Forschungsarbeit intensiv mit der Entwicklung der Gewerkschaften in Deutschland, unter anderem war er tätig für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung. Schönen guten Morgen, Herr Schneider!
Michael Schneider: Guten Morgen, Herr Armbrüster!
Armbrüster: Herr Schneider, das ist jetzt der dritte Lokführerstreik in Deutschland innerhalb weniger Tage. Ist das ein Zeichen dafür, dass die Gewerkschaften in Deutschland aggressiver werden?
Schneider: Also ich glaube nicht, dass man das so verallgemeinern kann. Zum einen erscheint es uns jetzt nur als besonders aggressiv, weil wir in den letzten Jahren, ja, Jahrzehnten verwöhnt worden sind. Wenn wir die Perspektive ein kleines bisschen zeitlich erweitern – na ja, ein kleines bisschen ist geprahlt, also wenn wir bis in die 60er-Jahre zurückschauen –, dann haben wir große Arbeitskämpfe mit 200.000 Streikenden, 300.000 wurde dann die Zahl, wenn man die Ausgesperrten hinzunahm, also wir haben Arbeitskämpfe '63, '72, '74, '78 gehabt mit großen Zahlen von Streikenden und Ausgesperrten. Dann brach das in der Zeit der wirtschaftlichen Depression, in der wirtschaftlichen Krisenzeit ab, sodass wir, wie gesagt, etwas verwöhnt sind. Der Streik der GDL hat aus meiner Sicht ein etwas anderes Signal: Es ist eine doppelte Signalstellung – einerseits eine Entsolidarisierung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung, ...
Armbrüster: Das heißt, dass sich kleinere Gewerkschaften abspalten und versuchen, mehr Einfluss zu gewinnen.
Schneider: ... genau, weil sie eine Arbeitnehmergruppe vertreten, die eine hohe Qualifikation hat und dann eine Schlüsselposition innerhalb ihrer Branche. Das gilt für die Lokführer. Ohne Lokführer fährt kein Zug. Das ist eine ideale Situation. Wenn man dann noch einen hohen Organisationsgrad hat – und den hat die GDL bei den Lokführern –, dann stärkt das die Position nochmal. Aber der zweite Punkt, der dabei eine Rolle spielt, ist, dass dies eine Flanke ist, die die anderen Gewerkschaften offengelassen haben, die Großgewerkschaften des DGB, die eben diese Identifizierung mit dem eigenen Beruf und die Vertretung der eigenen Interessen nur dieser Berufsgruppe hinten anstellt zugunsten einer größer gespannten Solidarität innerhalb von großen Industriegewerkschaften. Wir sehen also einerseits eine Entsolidarisierung, die Möglichkeit, die dann auch genutzt wird – und deren Nutzung uns ja auch letztendlich legitim vorkommt, die eigene Machtposition auf dem Arbeitsmarkt zugunsten der eigenen sozialen Besserstellung auszunutzen, aber damit, mit einer kleinen Schlüsselgruppe, doch einen relativ großen, vielleicht sogar unverhältnismäßig großen Schaden anzurichten.
Armbrüster: Aber das Besondere an der GDL ist ja jetzt, dass sie gar nicht mehr nur diese kleine Schlüsselgruppe der Lokführer vertreten will, sondern im Gegenteil: Sie kämpft ja gerade in diesem Streik dafür, dass sie sozusagen auch andere Bahnangestellte mit ins Boot holen darf, also dass sie sozusagen die große Gewerkschaft wird.
Konkurrenz zwischen zwei Gewerkschaften
Schneider: Das ist die zweite Dimension, die in diesem Konflikt wirklich eine besondere Rolle spielt, dass es ein Streit zwischen der Vertretungsmacht zweier Gewerkschaften ist. Die GDL, die ja eben zum deutschen Beamtenbund und eben nicht zum DGB gehört, fischt damit im Gewässer, in dem vorher – oder noch immer natürlich – die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, die dem DGB angehört, organisiert und die Interessen der dortigen Arbeitnehmer vertritt. Von daher kommt es hier zu einer Konkurrenz zwischen zwei Gewerkschaften, wobei es bis 2010 völlig klar war, dass mit dem Ziel der Tarifeinheit die stärkere Gewerkschaft jeweils auch die Vertretung gegenüber den Arbeitgebern hatte. Mit einem Bundesarbeitsgerichtsurteil ist das aufgehoben, und so eine Gewerkschaft wie die GDL kann ihre Sondertarifverträge gegenüber dem Arbeitgeber versuchen auszuhandeln, und sie ist auf dem Weg dahin. Sie verficht ja auch ganz konsequent, ihren Vertretungsbereich zu erweitern, in diesem Falle zunächst mal eben auf das Zugbegleitpersonal und nicht mehr nur auf die Lokführer.
Armbrüster: Herr Schneider, jetzt reden wir ja hier die ganze Zeit über die Lokführer und die Deutsche Bahn. Sehen wir denn eine solche Entwicklung auch in anderen Branchen, dass sich da kleine Gewerkschaften abspalten und Muskeln zeigen?
Die Macht kleiner Gewerkschaften mit Schlüsselpositionen
Schneider: Ja. Wir brauchen nur auf die ja auch in den letzten Tagen immer wieder in die Schlagzeilen geratenen Streiks bei Lufthansa und Germanwings zu schauen, Cockpit ist auch so eine Spartengewerkschaft, in diesem Falle eben der Piloten. Wir erinnern uns an die Fluglotsen, die mit ihrer eigenen Organisation auch in der Lage waren, Flughäfen lahmzulegen. Der eigentliche Knüller bei dieser Entwicklung ist, dass es, anders als bei diesen Großstreiks, die ich vorhin angesprochen habe, Schlüsselbereiche einer modernen, mobilen Gesellschaft sind, die angesprochen werden. Mit anderen Worten: Wenn bei Mercedes oder bei Audi gestreikt wurde, dann war das für die Werke eine schwere Belastung, aber gelitten haben eigentlich nur diejenigen, die auf die Auslieferung ihres neuen Wagens gewartet haben. Das sieht bei all denen, die im Dienstleistungsbereich und vor allen Dingen eben im Verkehrsbereich tätig sind, deutlich anders aus. Die Auswirkung ist sehr viel breiter. Wir alle können sehr schnell davon betroffen sein, wenn am Wochenende keine Züge fahren, wenn die geplante Reise, in diesem Falle mit Germanwings oder Lufthansa, nicht angetreten werden kann, weil die Piloten streiken. Also kleine Gruppen in kleinen Gewerkschaften mit hohem Organisationsgrad in einer Schlüsselposition haben eine ganz besondere Auswirkung auf unser aller Leben.
Armbrüster: Müssen wir uns da also in den nächsten Jahren auf mehrere solcher Streiks gefasst machen, die unseren Alltag sozusagen lahmlegen?
Schneider: Ich würde denken, also ich sehe eigentlich keine Chance, das in irgendeiner Weise einzubinden oder einzufangen, weiß auch nicht, ob es wirklich richtig wünschbar ist, weil da ja doch zwei ganz wichtige Prinzipien mit auf dem Spiel stehen: Das ist einerseits die Vereinigungsfreiheit und das ist andererseits das Streikrecht. Beides ist im Grundgesetz verankert. Und wenn das eingeschränkt würde, eben im Blick auf diese kleinen Gewerkschaften, dann hätte man oder müsste man die Sorge haben, dass da drunter natürlich auch die DGB-Gewerkschaften fallen, die dann auch Einschränkungen ihrer Handlungsmöglichkeiten hinnehmen müssten. Und ich glaube, das wäre letztendlich nicht wünschenswert, also mit anderen Worten: Ich glaube, wir müssen uns darauf einstellen, dass man mit solchen kleinen Konflikten, relativ begrenzten Konflikten mit ziemlich großen Auswirkungen leben muss.
Armbrüster: Nun hat die große Koalition ja gesagt, dass sie das Problem im Blick hat und auch in den kommenden Tagen dazu einen Gesetzentwurf vorstellen will. Aber der kann wahrscheinlich an dieser Entwicklung auch nicht allzu viel ändern, sondern nur lindernd eingreifen, oder sehen Sie da eine andere Möglichkeit?
Schneider: Also ich sehe im Moment noch keine richtig konkrete Möglichkeit angesichts der Prinzipien, die aus meiner Sicht unantastbar sind: Vereinigungsfreiheit und Streikrecht. Da ist der Korridor, in dem man einen Kompromiss finden kann, diese Tarifeinheit herzustellen, aus meiner Sicht sehr schmal.
Armbrüster: Oder wir müssen das Grundgesetz ändern.
Schneider: Das halte ich weder für wünschbar, noch für machbar. Nein. So weit würde ich wegen eines solchen Konflikts in der Tat nicht gehen wollen, sondern das, was man überlegen kann, ist, wie man dafür sorgt, dass im Vorfeld von Tarifverhandlungen sich die an einem Tarifkonflikt oder an einer Tarifverhandlung beteiligten Gewerkschaften miteinander verständigen müssen. Dafür wird man, könnte ich mir vorstellen, Regelungen finden, die aber nicht in jedem Einzelfall dann wirklich durchschlagend sind, zumal wir mit wechselnden Mehrheiten jeweils zu tun haben würden. Etwa bei den Lokführern hat die GDL die eindeutige Stimmführerschaft wegen des hohen Organisationsgrades. Beim Zugpersonal wird das schon ein bisschen anders, also bei dem Begleitpersonal. Da hat die EVG auch einen hohen Anteil, der muss dann jedes Mal wieder neu bestimmt werden: Wer hätte denn nun eigentlich die Tarifführerschaft? Bei denjenigen, die bei der Bahn in den ganzen Bahnbegleitbetrieben arbeiten, scheint die EVG, die ja insgesamt ohnehin viel größer ist als die Lokführergewerkschaft – die EVG hat ja ungefähr 200.000 Mitglieder und die Lokführergewerkschaft 35.000 –, da scheinen sie die Nase vorne zu haben. Und so sieht es in anderen Bereichen aus.
Armbrüster: Herr Schneider, wir müssen hier leider zu einem Ende kommen. Es sieht aber ganz so aus, als ob wir es da mit einer interessanten Entwicklung zu tun haben bei den Gewerkschaften, da kommen sicher noch interessante Zeiten auf uns zu. Der Bonner Politikwissenschaftler Michael Schneider war das, hier bei uns heute in den „Informationen am Morgen". Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schneider!
Schneider: Auch! Bitte, gerne. Tschüss!
Armbrüster: Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.