Jasper Barenberg: Die Unterzeichnung von CETA auf dem EU-Kanada-Gipfel an diesem Donnerstag ist noch möglich. Das sagt EU-Ratspräsident Donald Tusk, während EU-Parlamentspräsident Martin Schulz heute Morgen hier im Deutschlandfunk damit gar nicht mehr rechnen mochte. Was wird jetzt aus dem umstrittenen Abkommen?
Am Telefon ist der Politikwissenschaftler Wichard Woyke, lange Jahre tätig an der Universität Münster. Schönen guten Tag, Herr Woyke.
Wichard Woyke: Guten Tag nach Köln.
Barenberg: Würden Sie auch sagen, was Martin Schulz heute bei uns im Deutschlandfunk gesagt hat, das wäre kein Beinbruch, wenn das noch mal um ein paar Wochen verschoben werden müsste, dieses Abkommen, die Unterzeichnung?
Woyke: Da bin ich mit Martin Schulz vollkommen einig, denn die Europäische Union ist eine weltweite Institution, die viele andere Dinge schafft und täglich auch schafft, die durch eine Verschiebung dieses CETA-Abkommens bis zum Ende des Jahres inhaltlich nicht leiden würde.
Sie leidet natürlich in ihrem Ansehen, weil es ihr nicht gelungen ist, hier dieses Abkommen zu unterschreiben. Aber wir haben hier das klassische Beispiel, dass es ja eigentlich nicht die Institutionen der Europäischen Union sind, die versagt haben, denn das Parlament und die Kommission sind ja mehrheitlich und eindeutig für dieses CETA-Abkommen.
Aber es ist durch den Rat passiert und es ist ein innerbelgisches Problem, wie Ihr Korrespondent aus Brüssel sehr deutlich gemacht hat, und das ist eigentlich ein Fehlversagen des belgischen Staates, der belgischen Regierung, die CETA schon viel früher in ihren Regionalparlamenten hätte zur Diskussion stellen müssen.
Barenberg: Aber ist das nicht eine Blamage insgesamt für die EU, wenn sie es nicht schafft, einen Vertrag auf den Weg zu bringen, und wenn es möglich ist, dass es einer Regionalregierung, die 3,5 Millionen Menschen vertritt in dieser großen EU, gelingt, die ganze EU quasi in Geiselhaft zu nehmen? Das Stichwort hört man ja häufig die Tage.
Woyke: Ja, natürlich wird das als eine Blamage für die EU gewertet. Aber wenn Sie genau die Gründe sich anschauen, dann ist es ja nicht die EU, sondern dann sind es Regionen und regionale Vertretungen und die belgische Vertretung im Rat, die es nicht geschafft haben, hier eine eindeutige Stimmung, eine eindeutige Klarheit für dieses Abkommen zu schaffen. Aber es wird in der Öffentlichkeit so wahrgenommen, die Europäische Union hat versagt.
Im Übrigen ist ja Handelspolitik eigentlich eine vergemeinschaftete Angelegenheit und es ist aber durch die Nationalstaaten im Verlauf von Jahren dann dazu gekommen, dass man sagt, das ist eine sogenannte mixed economy. Das heißt, da müssen sowohl die Nationalstaaten mitentscheiden als auch die europäischen Institutionen. Und das bedeutet, dass nicht nur das Europäische Parlament, der Europäische Rat hier über CETA entscheiden, sondern auch die 28 Nationalstaaten plus in einigen Ländern, wie wir das in Belgien jetzt gerade sehen, die Regionen.
"Wir brauchen mehr Entscheidungen der EU als Einheit"
Das wäre so etwa, als wenn in der Bundesrepublik Deutschland, wo wir ja auch die Bundesratszustimmung brauchen, wenn beispielsweise das Land Bremen oder ein anderes Land nein sagen würden. Und wenn ich sehe, dass der Herr Magnette nach Kanada gejettet ist, um zu verhandeln - stellen Sie sich vor, wenn der Wirtschaftssenator des Landes Bremen nach Kanada jetten würde und verhandeln über dieses Abkommen, dann können Sie sehen, in welcher schwierigen Situation die Europäische Union, die Kommission war.
Barenberg: Der CSU-Politiker Manfred Weber, Vorsitzender der Europäischen Volkspartei, der Fraktion im Europäischen Parlament, der sagt, dass dieser Verlauf der ganzen Angelegenheit CETA ein Beispiel dafür ist, dass Europa sich ein Stück weit rückabwickelt. Würden Sie diese Einschätzung teilen, dass es eigentlich ein Rückschritt ist? Sie haben darauf hingewiesen: Handelspolitik ist eigentlich eine vergemeinschaftete Aufgabe. Das heißt, Brüssel soll entscheiden.
Woyke: Ja! Dieses ist ein Beispiel dafür in der Tat. Wir brauchten angesichts der internationalen Herausforderungen eigentlich mehr Entscheidungen der Zentrale in Brüssel, der EU als Einheit. Aber wir bekommen das im Augenblick nicht hin, weil auch die gesellschaftliche Öffentlichkeit in Europa, in den europäischen Staaten einer weiteren Abgabe von Souveränität nicht gewogen ist. Und bei der Handelspolitik zeigt sich, dass wir da einen Rückschritt hatten und dass, wenn Sie so wollen, etwa der Wirtschaftsminister Gabriel sehr starken Druck darauf ausübte, dass dieses CETA-Abkommen auch durch die nationalen Parlamente gehen sollte, und wir sehen jetzt, zu welchem Ergebnis das geführt hat.
"Die Europäische Union ist schon ein Schwergewicht in der internationalen Politik"
Barenberg: Ist die Europäische Union dabei, wenn wir den Blick etwas weiten und andere Themen vielleicht noch mit hinzunehmen, sich von der Bühne der Welt zu verabschieden, und da wäre dann CETA nur ein Beispiel unter vielen?
Woyke: Nein, soweit würde ich nicht gehen. Denn die Europäische Union ist nach wie vor ein großer Binnenmarkt mit 500 Millionen Einwohnern, wo andere Staaten sehr erpicht drauf sind, mit dieser Europäischen Union Handel zu betreiben.
Ich glaube, darüber hinaus hat die Europäische Union in mehr als 170 Staaten Vertretungen. Die Europäische Union ist schon ein Schwergewicht in der internationalen Politik und da kann auch solch eine Episode wie das wallonische Asterix-Verhandeln nichts ändern, obwohl es sehr deutlich macht, dass das Räderwerk der Europäischen Union sehr komplex ist und dass man darüber nachdenken müsste, ob es nicht sinnvoll ist, von diesen gemischten Verantwortungsbereichen wieder zurückzukommen zu eindeutigen Verantwortungsbereichen.
Barenberg: Das ist ja auch eine Folge des großen Drucks, den es in der Öffentlichkeit gibt, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen EU-Mitgliedsstaaten, wo die Bevölkerung, wo die Zivilgesellschaft, wenn man das so allgemein sagen kann, mehr Mitspracherecht, mehr Beteiligung fordert. Das ist ja eine Reaktion darauf. Wie rauskommen aus diesem Dilemma zwischen Mitbeteiligung auf der einen Seite und der Notwendigkeit zentraler Steuerung auf der anderen?
Woyke: Die Kommission hat es ja schon sehr versucht, indem sie sehr stark auch auf ihrer Homepage den Verhandlungsstand dokumentiert hatte. Die Frage ist nur immer, wie wird das wahrgenommen.
Auf der anderen Seite: Es gibt auch einen Ausschuss der Regionen, in dem die Wallonen vertreten sind mit neun Vertretern, und in den letzten anderthalb Jahren ist aber nichts zu CETA, auch gar nichts von ihnen gekommen. Das heißt, hier wäre schon eine Möglichkeit gewesen, dieses Problem anzusprechen und der belgischen Nationalregierung klar zu machen, dass hier Probleme sind.
Von daher sehe ich das Verhalten des wallonischen Premierministers auch sehr ähnlich wie Ihr Korrespondent in Brüssel.
"Dieses Problem haben wir seit Gründung der Europäischen Union"
Barenberg: Und das wäre ein weiterer Beleg für die These, dass nationale oder in diesem Fall regionale Interessen vor den Interessen der Gemeinschaft stehen?
Woyke: Ja, dieses Problem haben wir ja seit Gründung der Europäischen Union, dass der Europäische Rat eine Doppelfunktion hat, also der Ministerrat, dass er einerseits ein Organ der Europäischen Union ist, auf der anderen Seite aber in ihm die Vertreter, wenn Sie generell den Rat nehmen, die Außenminister, die Vertreter der Nationalstaaten sitzen. Und das heißt immer, wie sie sich verstehen, und in bestimmten Momenten verstehen sich die Vertreter der Nationalstaaten als Interessenvertreter ihres nationalen Systems, und da wird das Gemeinsame hintangestellt.
Und der Unterschied zu früheren Entwicklungen in der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union ist, dass das gemeinsame Ziel, was man in der Europäischen Union hatte, dass das früher stärker verankert war in diesen Ministerräten und die nationalen Interessen hintangestellt wurden.
Wir hatten auch schon Krisen, de Gaulle hat beispielsweise die Politik des leeren Stuhls betrieben im Jahre 1965 und hat damit auch seine Interessen sehr stark vertreten. Das ist nichts Neues, das hat es schon immer gegeben.
Barenberg: ... sagt der Politikwissenschaftler Wichard Woyke heute hier im Deutschlandfunk. Vielen Dank!
Woyke: Gerne!
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