In Berlin treffen sich im Kanzleramt alle Ministerpräsidenten mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. So uneins war man vor einer solchen Konferenz schon lange nicht mehr. Großer Streitpunkt ist das Beherbergungsverbot. Wer in einer Stadt oder in einem Landkreis wohnt mit mehr als 50 Infizierten in einer Woche pro 100.000 Einwohnern, der bekommt gewaltige Probleme, in die Herbstferien zu fahren. Thüringens Gesundheitsministerin Heike Werner von der Linken spricht sich klar gegen das Beherbergungsverbot aus.
Friedbert Meurer: Ihr Bundesland ist gegen das Beherbergungsverbot.
Heike Werner: Ja.
Meurer: Zählt also zu dieser Minderheit von im Moment nur fünf Bundesländern. – Warum sind Sie dagegen?
Werner: Ja, wir waren schon, als die erste Diskussion zum Beherbergungsverbot im Raum war, dagegen, weil wir gesagt haben, wir schauen auf die Gesundheitsämter vor Ort. Wenn die entscheiden würden, dass eine Region so hohe Inzidenzen hat, dass tatsächlich man empfiehlt, dass es ein Ausreiseverbot oder eine Quarantäne gibt, dann müsste man als Land auch reagieren. Aber solange das nicht der Fall ist, sind wir der Meinung, dass man nicht alle Menschen über einen Kamm scheren kann. Das heißt, dass man hier nicht eine Stigmatisierung vornehmen darf für Menschen, die aus einer bestimmten Region kommen.
"Momentan beherrschen wir das Infektionsgeschehen, wenn wir nachverfolgen können"
Meurer: Sie meinen jetzt, jedes Gesundheitsamt in einem Bundesland, etwa in Nordrhein-Westfalen, das soll entscheiden, unsere Leute dürfen nicht raus?
Werner: Wir wissen doch, dass die Infektionen vor Ort ganz verschieden sind. Das heißt, es kommt darauf an: Ist es eine Großstadt, ist es eine ländliche Region, ist es ein Infektionsgeschehen, das zum Beispiel nicht mehr nachprüfbar ist, wo die Kontaktverfolgung nicht möglich ist, oder sind es lokal begrenzte oder auf bestimmte Einrichtungen begrenzte Infektionsherde. Solange die Gesundheitsämter einschätzen können, wir können dieses Risiko einschätzen in der Region, gehe ich davon aus, dass hier auch entschieden werden könnte, ob es eine Quarantäne gibt oder nicht. So was gab es ja auch schon. Bei uns in Thüringen gab es auch schon einen Landkreis, eine Region, wo es eine Quarantäne gab, weil das Infektionsgeschehen nicht mehr beherrschbar gewesen ist. Aber momentan beherrschen wir das Infektionsgeschehen, wenn wir nachverfolgen können.
"Besonders hohe Ausbrüche gibt es in Pflegeeinrichtungen oder in Krankenhäusern"
Meurer: Was sagen Sie jemandem in Thüringen, wenn Sie von einem Bürger oder einer besorgten Bürgerin angesprochen werden, warum verhindern Sie nicht, wenn es nach Ihnen geht, dass jemand aus einem Risikogebiet wie Köln oder Berlin zu uns in den Thüringer Wald oder zu uns nach Weimar kommt?
Werner: Ja, weil ich nicht glaube, dass wir dadurch tatsächlich die Infektionsgefahr signifikant erhöhen. Wir wissen, die meisten Gefahren für eine Ansteckung passieren im Familienkreis, bei Familienfeiern, bei Partys. Wir wissen, besonders hohe Ausbrüche gibt es in Pflegeeinrichtungen oder in Krankenhäusern. Aber es sind nicht die Reisenden innerdeutsch, die hier wirklich Infektionen mitbringen. Dann, finde ich auch, hat es ein bisschen was von einer Doppelmoral, weil auf der einen Seite lassen ja alle Länder trotz alledem zu, dass Pendler beispielsweise zum Arbeiten in das jeweilige Bundesland kommen, aber die Menschen, die Urlaub machen wollen, die sich den auch hart verdient haben, davon abgesehen, dass viele das sich gar nicht mehr leisten können, die werden ausgeschlossen. Das finde ich auch, ehrlich gesagt, als eine mangelnde Wertschätzung gegenüber den Familien, die jetzt eigentlich in den wohl verdienten Herbsturlaub gehen wollen.
Meurer: Werden Sie sagen, Frau Werner, da es in Thüringen eine niedrigere Infektionszahl gibt – die Ziffer lag gestern Abend bei 12 pro 100.000; 50 ist die entscheidende Marke im Moment -, sind die Thüringer da etwas relaxter sozusagen und haben weniger Sorge, dass sie sich da anstecken könnten?
Werner: Momentan erlebe ich das nicht, dass es hier große Ängste gibt. Wir versuchen auch, tatsächlich nicht auf Panik zu setzen, sondern wir wollen, dass Menschen sich an die AHA-Regeln halten, dass sie risikominimiert sich verhalten, dass versucht wird, so viel wie möglich Normalität auch zu leben, und das mit klaren Regeln, an denen man sich orientieren kann. Ich glaube, Ängste und Unsicherheit und Panik zu schüren und Stigmatisierung ins nicht helfen werden, weil ehrlich gesagt, die anstrengende Zeit, die wird erst kommen, und das sind die Weihnachtsferien.
Meurer: Aber was ist daran Panik, wenn andere Länder sagen, ich will Menschenleben retten?
Werner: Nein, es wird dadurch eine Unsicherheit geschürt. Es wird gesagt, dass alle Menschen, die aus einer bestimmten Region kommen, Infektionsträger sein können, und damit stigmatisiert man ja diese Menschen. Das ist schon mal etwas, was überhaupt gar nicht gut ist, um sich risikominimierend zu verhalten, weil es dazu führt, dass man Frust schiebt, dass man keine Akzeptanz mehr hat gegenüber den Regeln. Es sind ja Menschen, die sich an Regeln auch halten, und denen wird jetzt unterstellt, dass sie potenzielle Überträger einer Krankheit sind, und damit schürt man auf der einen Seite Ängste, die nicht gerechtfertigt sind, weil nicht alle Menschen, die aus einem Risikogebiet kommen, sind wie gesagt Gefährder. Auf der anderen Seite untergräbt man damit auch die Akzeptanz der Regeln, die wir in den letzten Wochen und Monaten eigentlich ganz gut aufgebaut haben. Wir wissen wie gesagt aus der Gesundheitsforschung auch, dass man nicht auf Verbote setzen darf, sondern auf Risikominimierung. Das heißt, die Menschen müssen das mitmachen.
"Man setzt auf Verbote und auch auf eine Stigmatisierung"
Meurer: Wie sehr würde das die Akzeptanz untergraben in Thüringen für Anti-Corona-Maßnahmen?
Werner: Wenn Menschen, die sich an die Regeln gehalten haben, die Abstand halten, die die Maske aufsetzen, die sich an die Hygieneregeln halten, wenn die, nur weil sie in einem Risikogebiet wohnen, plötzlich nicht in den Urlaub fahren dürfen, dann wird das eigene Verhalten, das ich an den Tag gelegt habe, um mich risikominimierend zu verhalten, damit ja auch untergraben. Man setzt nicht auf die Eigenverantwortlichkeit und auf die Nachhaltigkeit der Regeln und der Maßnahmen und der erlernten Regeln, sondern man setzt auf Verbote und auch auf eine Stigmatisierung. Das führt – das wissen wir aus der Gesundheitsforschung – nachhaltig dazu, dass Menschen sich dann nicht mehr an Regeln halten, weil sie den Eindruck haben, es macht ja sowieso keinen Sinn.
Meurer: Es geht ja heute im Kanzleramt auch um den Versuch, wenigstens etwas Einheitlichkeit herzustellen. Ist es sinnvoll, dass jedes Bundesland es anders macht?
Werner: Das sind ja einige der wenigen Dinge, die wirklich jedes Bundesland anders macht. Eigentlich wäre es gut, man würde sich wieder darauf verständigen, was wir uns gemeinsam vorgenommen haben. Wir haben klare Regeln, die AHA-Regeln, wir haben hinzugenommen die Frage der Kontaktnachverfolgung, des Lüftens, wir wissen, dass wir regional schauen müssen, wie sich Infektionszahlen entwickeln, dass man regional schaut, welches sind dann die richtigen Maßnahmen, weil das wie gesagt im ländlichen Raum eine andere Maßnahme ist als beispielsweise im Städtischen. Wenn sich darauf wieder konzentriert werden würde, wenn man gut erklärt, warum welche Regeln wir aufgestellt haben, dass sie nachvollziehbar sind, dass sie vor allem auch lebensweltbezogen sind, dann, glaube ich, haben wir was erreicht, was die Akzeptanz angeht, und das ist, denke ich, auch etwas, worauf man sich gut verständigen kann.
Meurer: Aber der Nachteil ist, wenn jemand im Moment durch Deutschland fährt, Urlaub oder Dienstreise, der muss ja die ganze Zeit googeln im Zug, was er gerade wo in welcher Stadt in jedem Bundesland darf.
Werner: Aber das ist auch die Aufgabe, die uns aufgegeben ist. Wir haben ja nirgendwo eine hundertprozentige Sicherheit und wir haben nirgendwo eine hundertprozentige Vergleichbarkeit. Das heißt, die Regionen vor Ort müssen entscheiden, was in ihrem jeweiligen Bundesland oder in ihrer jeweiligen Region die richtigen Regeln sind, weil es abhängig davon ist, wie die Bevölkerungsstruktur ist, wie viele Pflegeeinrichtungen dort sind, wie Schulen oder Kindergärten betroffen sind. Das ist sicherlich etwas, womit man sich dann mehr auseinandersetzen muss, aber das ist ja etwas, was man erklären kann. Aber wenn wir Regeln aufbauen, die einfach nicht nachvollziehbar sind und die an der Lebenswelt der Menschen vorbeigehen, dann erreichen wir nichts, und ich glaube, dass man auf den gesunden Menschenverstand an der Stelle auch setzen sollte und darauf, dass wir gemeinsam achtsam sind, dass wir solidarisch sind.
Meurer: Nur was sagt der gesunde Menschenverstand dazu: Das gleiche, nicht Maske tragen, kostet in Bayern 250 Euro, bei Ihnen nur 60 Euro?
Werner: Ich würde sagen, dass die meisten Menschen gar nicht wissen, wie hoch das Bußgeld für das nicht Masken tragen ist, und das ist auch nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist – und das ist die Frage, die mir gestellt wird -, dass wir diese Maske tragen auch kontrollieren, dass das auch nachverfolgt wird, dass es da die Unterstützung gibt durch die Ordnungsämter und durch die Polizei an der Stelle, dass man hier an der Stelle konsequent ist und das nicht lax gehandhabt ist. Das ist das, was aus meiner Perspektive die Menschen interessiert, und nicht die Höhe des Bußgeldes, und das wissen wir auch aus anderen Bereichen. Ich nehme jetzt mal das Autofahren, wenn es um die Geschwindigkeit geht. Das Bußgeld oder dass man seine Fahrerlaubnis verlieren kann, hat die meisten noch nicht davon abgehalten, schnell zu fahren, aber wenn es kontrolliert wird und geahndet.
Meurer: Aber sie sind in jedem Bundesland gleich.
Werner: Ja. Und trotz alledem: Es muss geahndet werden. Das ist der entscheidende Faktor an der Stelle.
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