"Es geht um Geld, um politische Macht. Es ist ein Krieg mit vielen Facetten. Der blanke Horror."
Borhan Osman lebt in Kabul. Dort erforscht der Mitarbeiter des Afghan Network neue islamistische Entwicklungen in Afghanistan.
"Taliban, politischer Islam. Das religiöse Leben in Afghanistan versinkt in Anarchie und Chaos und ist nicht mehr so, wie es vorher einmal war."
Die Afghanen leiden. Es ist eingetreten, wovor der renommierte Taliban-Kenner Ahmad Rashid in seinem Buch "Am Abgrund. Pakistan, Afghanistan und der Westen" warnt.
"In Pakistan kämpfen militante Gruppen seit 30, 40 Jahren um die Führungsrolle. Dazu gehören die Taliban und auch Al-Kaida. Neu ist, dass sie von den jungen Sympathisanten des Islamischen Staates attackiert werden. Die rivalisierenden Gruppen überziehen jetzt auch Afghanistan mit Krieg und Terror. Sie wollen ihre Basis und finanziellen Unterstützer nicht an andere Gruppen verlieren."
Auch für die Experten vom Afghan Network ist die Lage in Afghanistan durch die Vielzahl der Akteure sehr verworren und schwer zu durchschauen, sagt Analyst Borhan Osman:
"Nach ihrer Sommeroffensive in Waziristan gegen aufständische Taliban und Söldner vom Islamischen Staat haben es die afghanische Regierung und die mit ihr verbündeten US-Streitkräfte mit einem neuen gefährlichen Gegner zu tun. Islamistische Terroristen aus Uzbekistan, Tadschikistan und Pakistan. Den afghanischen Sicherheitskräften stehen heute fünf bis sechs regionale Terrorgruppen gegenüber."
Die Taliban sind eine paschtunische Bewegung aus dem Süden. Der Name bedeutet Koranschüler. Im Norden Afghanistans, wo weniger Paschtunen, sondern Tadschiken, Uzbeken und Turkmenen leben, ist ihr Einfluss traditionell gering. Jetzt wollen sie auch hier an Boden gewinnen. Die Taliban sind vor etwa 30 Jahren als eine hochmotivierte Bewegung mit einer strengen Moralethik in den afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan entstanden. Damals bekämpften islamische Widerstands-Gruppen die Sowjetische Armee, die in Afghanistan einmarschiert war, und es kam zu afghanischen Flüchtlingswellen nach Iran und nach Pakistan, wo islamistische Regime die Macht übernommen hatten.
"In der islamischen Welt, einer Region mit politischen Umstürzen, werden die Medien von ihren jeweiligen Regimen dazu benutzt, die Gesellschaft zu islamisieren. Das führt in einer Zeit globaler Verteilungskämpfe unter den islamistischen Parteien auch zu einem Konkurrenzkampf der religiösen Narrative. Also wer kennt mehr Aussprüche des Propheten Mohammad und ist daher mehr Muslim. Die Mullahs nutzen ihre religiöse Ausstrahlung zum eigenen politisch-ökonomischen Vorteil. Das ist Bestandteil des islamischen Diskurses in Afghanistan seit 1978."
Warlords aus verschiedenen Ethnien konnten so ihre Kriege leichter religiös legitimieren. Das gilt besonders für die Zeit des Taliban-Regimes. Das islamische Emirat Afghanistan der Taliban war autoritär, antiwestlich und frauenfeindlich. Der inzwischen verstorbene Taliban-Führer besaß keine religiöse Bildung, meint Borhan Osman
"Er konnte ein paar Suren aus dem Koran rezitieren und kannte einige Hadithe, also Aussprüche des Propheten. Sein Nachfolger Mullah Mansour ist ihm darin überlegen. Aber keiner der beiden Taliban-Mullahs hat einen Abschluss einer offiziellen theologischen Fakultät und dürfte den Titel eines Sheikh-ul-lah, Alim oder Maulawis tragen."
Um ihre Bewegung auch theologisch zu legitimieren, haben die Taliban den höchsten zur Verfügung stehenden Mullah rekrutiert.
"Scheich Heibatullah Akhundzadah gehört zu den zwei, drei gelehrten Taliban-Mullahs, die hohes Ansehen genießen, um die Bewegung theologisch aufzuwerten. Der einflussreiche Scheich ist jetzt Stellvertreter von Mullah Mansour und der neue Anführer hat ein Problem weniger."
Ahmad Rashid, der im pakistanischen Lahore lebt, hat oft mit Kommandeuren des alten Taliban-Regimes in Afghanistan über ihre Vision eines "wirklichen" islamischen Staates gesprochen.
"Der Prophet Mohammad lebte in einer Gesellschaft mit Juden und Christen und anderen religiösen Gruppen zusammen. Auch Animisten. Es ist absurd, dass sich islamische Fundamentalisten wie die Taliban auf die Urgemeinde des Propheten beziehen und gleichzeitig eine sunnitische oder wahhabitische Einheitsgesellschaft fordern. Die hat es nie gegeben."
Borhan Osman vom Afghan Network ist halb-Pashtune, halb-Tadschike. Der junge Mann hat nicht nur einen afghanischen Universitätsabschluss in Islamwissenschaft. Sein Vater war zu Lebzeiten ein hochangesehener Mullah im zentralafghanischen Ghazni. In der seit der Antike traditionsreichen Stadt besuchte Borhan Osman als Kind eine Koranschule.
"Ich war auf einer Koranschule in Ghazni. Nicht gerade modern, aber verglichen mit anderen Koranschulen der Region schon fortschrittlich, denn wir haben hier neben Religion auch Geographie, Physik, Mathe und Englisch gelernt."
Die Madrasa ist traditionell ein Ort religiöser Gelehrsamkeit, überall in der islamischen Welt. In der Umgebung der afghanischen Flüchtlingslager an der Grenze auf pakistanischem Gebiet wurden in den 1980er-Jahren Hunderte Koranschulen aus dem Boden gestampft, als Taliban-Kaderschmieden.
"Seit 10-15 Jahren werden daher moderne Koranschulen im Land registriert und unterliegen Qualitätskriterien. Wer also heute dort islamische Theologie studieren will, muss sich einschreiben und Prüfungen ablegen."
Borhan Osman diskutiert auch mit Salafisten, die an Unis in Nord-Afghanistan politisch aktiv sind und dort im städtischen Milieu als Sittenwächter fungieren. Dabei hilft ihm seine am theologischen Diskurs geschulte Sprache. Er ist auch Journalist und hat für die BBC und westliche NGOs gearbeitet. Das könnte ihm den Zorn von Taliban einbringen, die in den entlegenen Dörfern leben, oder den von jungen IS-Sympathisanten, die hier und da mit ihren schwarzen Fahnen auf dem Uni-Campus herumparadieren.
"Ich halte mich mit Äußerungen in afghanischen Medien oder in sozialen Netzwerken zurück, bleibe neutral und gehe respektvoll mit religiöser Terminologie um. Die Gespräche mit Salafisten, Muslimbrüdern und Taliban verliefen daher bislang konfliktfrei. Mit den jungen Leuten vom IS spreche ich gar nicht. Anders als die Taliban, die sich in die Dorfgemeinschaften einbinden und da wo der Staat versagt, behördliche Dienstleistungen anbieten, fehlt es IS-Leuten an jeglichen Prinzipien."
Die neuen Bündnispartner der Taliban, die extremistischen uzbekischen Dschund-ul-Lah oder die pakistanischen Lashgar-e Tayabah, die in Kunduz gerade die Bevölkerung terrorisieren, sind viel aggressiver als die Taliban.
"Die lokale afghanische Bevölkerung ist alarmiert. Selbst die Mullahs sagen, Hey, bei uns gibt's ja Extremismus. Die Vorsteher in den Koranschulen unterrichten traditionell eher den liberalen hanafitischen Islam. Für sie stand bislang fest, Extremismus ist ein Phänomen, das vom Westen kommt, um den Islam zu diskreditieren. Und jetzt irritiert sie, dass sie zuhause damit konfrontiert werden."
Der liberale hanafitische und der dschafaritische Islam, klassische Rechtsschulen im Islam, sind in der afghanischen Verfassung von 2004 verankert. Die Regierung in Kabul hat aber noch keine klare Strategie, wie sie die Vorsteher afghanischer Koranschulen vor Extremisten schützen soll, die sehr strenge Versionen der Scharia in den Gemeinden einführen wollen.
"Auch in den nichtsstaatlichen traditionellen Koranschulen hat man noch keine Mittel gegen den religiösen Extremismus gefunden. Ich bin aber überzeugt, dass die jungen und gut ausgebildeten afghanischen Mullahs speziell im Norden in den Provinzen Kunduz, Takhar und in Zabol einen Weg finden, sich ohne Hilfe aus Kabul gegen die Irrlehren der Extremisten zu wehren."
Die Gewaltbereitschaft fanatischer Islamisten kann nicht verhindern, dass es in Afghanistan weiterhin normales religiöses Leben gibt. In Kabul gehen derzeit viele auch junge Menschen in die Moscheen beten, um Solidarität mit Kunduz zu zeigen, selbst wenn sie sich aus Religion nicht viel machen, oder weil sie sie für Privatsache halten.