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Streit um die Schelde

In langen Verhandlungen haben sich Belgien und die Niederlande auf eine Vertiefung der gemeinsamen Wasserstraße Westerschelde geeinigt. Doch nun hat ein niederländisches Gericht die Bagger gestoppt, weil Ausgleichsmaßnahmen für den Naturschutz nicht vorgenommen wurden.

Von Alois Berger |
    Ein Containerschiff auf dem Weg nach Antwerpen. Bislang dürfen die ganz großen Schiffe nur bei Flut in den Hafen einlaufen. Bei Ebbe ist die Westerschelde nicht tief genug. Das sollte bis Ende dieses Jahres endlich anders werden. 13 Meter tief sollte die Fahrrinne der Schelde ausgebaggert werden.

    Doch vor zehn Wochen hat das höchste niederländische Gericht die Bagger gestoppt, weil die niederländische Regierung die zugesagten Ausgleichsmaßnahmen für den Naturschutz offensichtlich nicht in Angriff nehmen will. Seitdem schlagen die Wellen hoch. Belgische Politiker denken bereits laut über einen Boykott der holländischen Muscheln nach. Der grüne belgische Europaabgeordnete Bart Staes hat zusammen mit acht anderen belgischen Abgeordneten die EU-Kommission aufgefordert einzugreifen.

    "So etwas ist nie schön. Es hat zehn Jahre gedauert, bis wir den Scheldevertrag ausgehandelt hatten; mehr als zehn Jahre sogar. Und jetzt haben wir endlich eine Vereinbarung und da erwarten wir natürlich, dass, wenn man einen solchen Vertrag macht, sich auch alle daran halten."

    70 Millionen Euro verliert der Hafen von Antwerpen jedes Jahr durch die Behinderungen in der Hafeneinfahrt. Belgien hat deshalb 300 Millionen Euro zugesagt, um die Arbeiten in der Hafenrinne und die Ausgleichsmaßnahmen zu bezahlen. Doch die niederländische Regierung, durch deren Gebiet die Schelde ins Meer fließt, traut sich nicht. Denn die Naturschutzmaßnahmen berühren einen empfindlichen Nerv vieler Niederländer. Es geht darum, 600 Hektar Polderland zu fluten: Land, das dem Meer abgerungen wurde, dem Meer zurückgeben - so etwas tut man einfach nicht, sagt der Bauer Lijn Verbrughe.

    "Einen Polder zu fluten, das ist ein großer Fluch. Hier ist es wunderschön ohne Entpolderung, hier gibt es Natur in Hülle und Fülle. Für uns Bauern ist das besonders schlimm. Wir verlieren unseren Boden und unsere Arbeit. Dabei gibt es bei uns viel mehr Vögel als in Naturschutzgebieten, weil wir dafür sorgen, dass sie zu fressen finden. In den entpolderten Gebieten gibt es nichts zu essen. Da herrscht nur Ruhe."

    Der Hedwigepolder, um den gestritten wird, liegt genau an der Grenze zwischen Belgien und den Niederlanden. Im Hintergrund sieht man die Hafenkräne von Antwerpen und im Vordergrund, zum Greifen nah, die Kühltürme des belgischen Kernkraftwerkes Doel. Doch wenn man sich umdreht und Richtung Meer schaut, dann hat man ein Naturschutzgebiet von herber Schönheit vor sich, Schwemmland mit einer eigenartigen Vegetation, die durch den ständigen Wechsel von Salz- und Süßwasser entstanden ist. Genau das sollte auch aus dem Hedwigepolder entstehen, erklärt der Küstenwissenschaftler Marcel Stive von der Uni Delft.

    "Ich halte das für eine herausragende Lösung und sehe das auch nicht als Entpoldern. Da wird vielmehr der Deich zurückverlegt in einen Küstenbereich, wo er hingehört. Das ist eine sinnvolle Lösung für die ganze Bucht und auch lokal ist es gut, weil dadurch ein robusterer Deich entsteht mit Schlick und dem Küstenstreifen davor. Das erhöht die Sicherheit und nutzt der Natur."

    Die meisten Niederländer sehen das anders. Schließlich liegt rund die Hälfte der Niederlande tiefer als der Meeresspiegel, ist also Polderland, das nur durch Deiche trockengehalten wird. Die Verteidigung der Küste gegen das Meer gilt als nationale Aufgabe. Die überwiegende Mehrheit findet schon den Gedanken absurd, absichtlich einen Deich zu zerstören. Maurice Verbrughe ist besonders betroffen. Er will in ein paar Jahren den Hof des Vaters übernehmen, mit Feldern auf dem Hedwigepolder:

    "Entpoldern, das ist ein Strich durch die Zukunft. Weniger Land bedeutet weniger Chancen, den Hof erfolgreich zu führen und auch zu vergrößern. Das widerspricht auch dem Charakter dieses Gebietes. Einen Polder dem Meer zurückzugeben, das ist gegen die Natur jedes Zeeländers."

    Die Regierung in Den Haag hat die Entscheidung über die Flutung des Hedwigepolders immer wieder vor sich hergeschoben. Am 9. Oktober will sie sich nun festlegen. Der Druck ist enorm, von beiden Seiten. Denn ohne Naturschutzmaßnahmen gibt es keine Vertiefung der Westerschelde. Und das wiederum rührt an ein belgisches Trauma. Jahrhundertelang haben die Niederländer die Scheldezufahrt immer wieder geschlossen, um Antwerpen zu schaden, oder auch, um die Belgier zu erpressen. Und viele Leute in Belgien glauben, dass es auch heute wieder darum geht.