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Streit um EU-Rettungsmission "Sophia"
"Man muss gemeinsam handeln"

Italien blockiert die Anti-Schleuser-Operation "Sophia" der EU - das Land will nicht länger die dabei geretteten Flüchtlinge alleine aufnehmen. Christopher Hein, ehemaliger Direktor des italienischen Flüchtlingsrats, äußerte im Dlf-Interview Verständnis, dass sich Rom eine gerechtere Verteilung der Lasten wünscht.

Christopher Hein im Gespräch mit Daniel Heinrich |
    Christopher Hein, ehemaliger Direktor des italienischen Flüchtlingsrates (CIR), aufgenommen am 23. April 2015, als er noch im Amt war, während der ZDF-Talksendung "Maybrit Illner" zum Thema: "SOS Flüchtlinge - gerettet, um zu bleiben?" Foto: Karlheinz Schindler | Verwendung weltweit
    Christopher Hein, hier 2015 bei Maybritt Illner, äußert Verständnis für Italiens Ruf nach mehr europäischer Solidarität bei der Verteilung geretteter Flüchtlinge. (Karlheinz Schindler / dpa / picture alliance)
    Daniel Heinrich: Herr Hein, Italien mag nicht mehr mitmachen beim EU-Einsatz Sophia. Druck wolle man aufbauen auf andere EU-Staaten. Haben Sie eigentlich Verständnis für Rom?
    Christopher Hein: Ich habe sehr viel Verständnis. Wenn man sich die Zahlen anguckt, sehen wir, dass in Italien in den letzten sechs Monaten sehr viel mehr Bootsflüchtlinge angekommen sind als im selben Zeitraum im letzten Jahr und auch mehr als im zweiten Semester von 2016, während die Zahl neuer Asylbewerber in allen anderen europäischen Ländern heruntergeht. Das ist natürlich ein Widerspruch. Wenn man von einer europäischen Antwort und einer europäischen Solidarität reden will, dann muss etwas geschehen, und zwar sehr konkret und auch sehr schnell geschehen, damit Italien in dieser Lage nicht allein gelassen wird. Es gab jetzt an diesem Wochenende wieder weit über 5.000 Ankünfte über den Kanal von Sizilien, von Libyen nach Süditalien. Es gab Proteste von Bürgermeistern, die keine Flüchtlinge mehr aufnehmen wollen. Es macht sich Unruhe bemerkbar, auch gerade darüber, weil es keine wirkliche Mitwirkung und Mitübernahme von Verantwortung seitens anderer europäischen Länder gibt. So ist jedenfalls die allgemeine Einschätzung hier.
    "Mangel einer europäischen Antwort mit allen Konsequenzen"
    Heinrich: Teil dieser europäischen Antwort, wie Sie sagen, Herr Hein, ist diese EU-Mission Sophia. Das Ziel eigentlich: Bekämpfung der Schleuserkriminalität. So die offizielle Tonart. In Wirklichkeit hat alleine die deutsche Marine seit 2015 21.000 Flüchtlinge in italienische Häfen gebracht. Hat man Italien alleine gelassen?
    Hein: Na ja, einer der Vorschläge der italienischen Regierung ist ja das Überdenken der Regeln dieser Sophia-Operation. Das heißt, dass die Menschen, die von den Schiffen gerettet werden, nicht nur in italienischen Häfen dann anlaufen und die Menschen ausgeschifft werden, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Aber da scheint es mir, dass es da keine konkrete Antwort darüber gibt. Es gab ja heute den Rat der Außenminister der EU in Brüssel, und auch dort ist offenbar über Sophia geredet worden, aber nach wie vor ohne irgendeinen Hoffnungsschimmer, sagen wir mal, dass es tatsächlich schnell eine konkrete Änderung geben wird. Aber ich meine, die Menschen kommen nach wie vor an, bleiben nach wie vor ganz, ganz überwiegend in Italien. Das heißt, es kommen immer mehr Menschen rein, es gehen immer weniger Menschen raus aus Italien, weil einfach auch die Lage in den Nachbarstaaten, in Ventimiglia zu Frankreich und in anderen angrenzenden Ländern, so ist, dass da praktisch auch abgeschirmt wird und niemand reinkommt. Das kann auf die Dauer nicht so weitergehen. Das wird einfach wahrgenommen werden und wird bereits jetzt wahrgenommen als ein Mangel einer europäischen Antwort mit all den Konsequenzen, die das in einem Land wie Italien hat, was immer außerordentlich europafreundlich gewesen ist.
    "Unmenschliche Zustände in libyischen Abschiebezentren"
    Heinrich: Sie sprechen von Abschottungspolitik auch von Ländern wie Frankreich? Wir gucken in der hiesigen Debatte ja häufig auf Polen, auf Ungarn, aber Sie nehmen Frankreich dezidiert mit ins Programm.
    Hein: Aber ja! Ich meine, seit Monaten gibt es die Lage zwischen Ventimiglia und Menton an der italo-französischen Grenze, wo relativ wenige - Das sind immer nur ein paar hundert, aber diese paar hundert, die werden dann auch sofort festgenommen von der französischen Polizei und werden nach Italien wieder zurückgebracht. Ich meine, das ist genau das Gegenteil wirklich von einer solidarischen Beteiligung an der Lage. Da muss irgendwas geschehen, damit dieses Hin und Her, dieses Pingpong der Menschen, das dort an der Grenze zwischen Italien und Frankreich stattfindet, endlich zu Ende geht.
    Heinrich: Mehrere Stimmen gab es im Verlauf der Vergangenheit immer wieder. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz, der hat sich zu Wort gemeldet. Der hat gesagt, er ist für die Schließung der Mittelmeer-Route. Heißt: Gerettete Flüchtlinge kommen nicht mehr nach Italien. Spricht der aus, was viele denken?
    Hein: Jedenfalls spricht er nicht aus, was ich persönlich denke. Die Frage ist doch, was dann. Wohin kommen die Menschen? Ich meine, man redet viel von gemischten Migrationen, aber nach wie vor nach italienischer Spruchpraxis sind über 40 Prozent aller Menschen, die über das Meer ankommen, Flüchtlinge im rechtlichen Sinne. Das heißt, die haben einen Anspruch auf Rechtsschutz. Und die soll man jetzt nach Libyen zurückschicken. Das wurde heute gerade auch von der Vertreterin der EU für die Außenpolitik Mogherini gesagt. Ich meine, es gibt unhaltbare, unmenschliche Zustände in diesen Abschiebezentren in Libyen. Was soll das bedeuten? Soll man jetzt die Menschen retten auf dem Meer, um sie dann in die Hölle, in diese Abschiebezentren zurückzubringen?
    Libysche Grenzschützer, auszubilden reiche nicht
    Heinrich: Vor diesem Hintergrund, Herr Hein, vielleicht die Frage: Die EU-Grenzschutzmission bildet unter anderem libysche Grenzschützer aus. Was halten Sie denn davon?
    Hein: Das ist sicherlich eine sehr wesentliche Sache. Aber was passiert dann in den libyschen Gewässern? Die Boote werden aufgefangen und die Menschen werden genau in diese Zentren zurückgebracht. Eine Alternative dazu besteht bisher nicht. Das heißt, es wird der dritte Schritt vor dem ersten gemacht. Es gibt nach wie vor keine Möglichkeit, irgendeine Art von Schutz oder von Rechten in Libyen zu bekommen, weder als Asylbewerber, Flüchtling oder Migrant. Man ist der allgemeinen Willkür ausgesetzt, man ist der Gewalt der Milizen ausgesetzt, vor allem gerade auch Frauen, und auf dieser Grundlage muss man sagen, ja gut, man bildet die libysche Küstenwache aus, dass sie ihre Arbeit besser machen, aber auch da, was passiert hinterher, und diese Frage ist nach wie vor unbeantwortet.
    Heinrich: Was ist denn Ihre Erklärung dafür, dass diese Frage unbeantwortet ist?
    Hein: Na ja, es ist natürlich eine Besorgnis, dass sich eine Lage wie im Herbst 2015 wiederholen könnte, was meiner Ansicht nach völlig verfehlt ist. Erstens sind es völlig andere Zahlen, über die wir hier reden, und nicht Hunderttausende wie im Herbst 2015. Und zweitens ist es gerade in einer Reihe von Ländern der Europäischen Union ein politisches Kalkül, wo die Politiker meinen, es gäbe eine öffentliche Meinung, die für die Abschottung ist. Ich muss Ihnen sagen, ich rede mit so vielen Leuten, auch gerade mit vielen Journalisten, und sehe eigentlich immer das Gegenteil davon. Aber offenbar befürchten viele Politiker in den Wahlen negative Ergebnisse, wenn man ein Zeichen gibt einer solidarischen Antwort auf das Flüchtlingsproblem. Ich wiederhole: Die Zahlen gehen überall zurück und trotzdem gibt es keine Öffnung bisher, die sichtbar wäre.
    "Auf dem Rücken einer Zukunft der EU"
    Heinrich: Aussitzen, Taktiererei auf dem Rücken von Menschen?
    Hein: Auf dem Rücken von Menschen, aber auch auf dem Rücken, sagen wir mal, einer Zukunft der Europäischen Union. Wir hatten vor ein paar Monaten die großen Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge mit sehr feierlichen Erklärungen über die Zukunft der Europäischen Union. Aber wenn es wirklich darauf ankommt, dann muss diese Union da auch dastehen. Man muss gemeinsam handeln und nicht nur Sprüche verbreiten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.