"Es wäre ein großer Pluspunkt für Osnabrück, wenn man das Haus so nennen würde, wenn man den erfolgreichsten Judenretter Deutschlands in die ehemalige NSDAP-Parteizentrale packen würde; das wäre ein guter Wink der Geschichte."
Joachim Castan ist stellvertretender Vorsitzender der Calmeyer-Initiative, die dafür wirbt, dass der Judenretter in der Villa Schlikker entsprechend geehrt wird. Um zu klären, wie der Lernort in der Villa Schlikker künftig inhaltlich ausgerichtet sein soll, hat die Stadt Osnabrück einen wissenschaftlichen Beirat berufen. Dessen Vorsitzender ist Alfons Kenkmann, Professor für Geschichtsdidaktik an der Uni Leipzig. Seine Sicht auf Calmeyer:
"Er hat bei der Judenrettung Großes geleistet und hat gleichzeitig die deutsche Besatzungsbürokratie aufrechterhalten und gefördert. Das ist die Ambivalenz seiner Figur."
Calmeyer riskierte viel
"Der Begriff Ambivalenz wird immer gern benutzt, wenn man nicht so recht weiß, was man sagen soll." Entgegnet Joachim Castan, Filmemacher und ebenfalls Mitglied des Beirates.
Hans Calmeyer war während der Besatzung zuständig für die Judenselektion und musste entscheiden, wer aus Sicht des nationalsozialistischen Rassenwahns Jude sei und wer nicht. Dem Rechtsanwalt aus Osnabrück war klar, dass viele der von Juden vorgelegten Bescheinigungen Fälschungen waren. Doch in zwei Drittel aller Fälle, in denen er die Abstammung überprüfen musste, akzeptierte er die Unterlagen und rettete diese Menschen so vor der Deportation. Andererseits, so Alfons Kenkmann, sei er aber auch ein Rädchen in der Mordmaschine der Nazis gewesen. Joachim Castan empört sich über eine solche Sichtweise:
"Ich denke, das kann man leicht sagen. Ich finde es schlimm, wenn Historiker diese Art von Argumentation benutzen. In der heutigen Wohlfühllounge in Frieden, Freiheit und Demokratie kann man leicht so argumentieren. Der springende Punkt ist der: Wie viel Menschen hat Calmeyer gerettet?"
Hans Calmeyer selbst erklärte nach dem Krieg, er habe 27.000 Menschenleben gerettet. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen weiß man heute: Es waren es 2.882. Für Michael Grünberg, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Osnabrück, war Calmeyer aber fraglos ein Held:
"Mit jedem Menschenleben, das er gerettet hat, hat er sein eigenes gefährdet. Wenn die Dinge aufgeflogen wären, wäre er sofort von den Nazis ermordet worden."
Für Grünberg ist Calmeyer ein leuchtendes Beispiel, dass man sich auch in einer Diktatur dem Unrecht widersetzen kann.
"Es wird oft gesagt: wir konnten nichts tun. Es geht darum, Farbe zu bekennen und Zivilcourage zu beweisen, und das kann man in diesem Zusammenhang gut erklären."
"Unauflösliche Zwangslage"
Doch Calmeyer hat nach dem Krieg selbst gesagt, er sei kein Held gewesen, er habe Schuld auf sich geladen. Denn durch seine Unterschrift wurden auch mehr als Tausend Jüdinnen und Juden in die Konzentrationslager geschickt. Eine der wenigen, die Calmeyers Selektion überlebt hat, ist die 91-jährige Femma. Die niederländische Historikerin Els van Diggele hat mit ihr gesprochen.
"Femma war nicht gut auf ihn zu sprechen. Er hatte alle Möglichkeiten in seiner Hand, um ihr eine unbeschwerte Jugend zu geben, aber er tat es nicht. Er übergab sie der Sicherheitspolizei, die sie abholten, als sie 15 war. Calmeyer ist derjenige, der ihr Leben zum Teil zerstört hat."
Femma wurde deportiert, obwohl ihr Vater ein Katholik war. Für Joachim Castan ist dieser Fall ein Beispiel für das Dilemma.
"Calmeyer befand sich in einer unauflöslichen Zwangslage. Er hatte Möglichkeiten erkannt, wie er Menschen retten kann als Schreibtischretter, gleichzeitig wusste er, dass diese 25 Prozent deportiert werden mit seiner Unterschrift."
In den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg sahen auch viele niederländische Historiker in Calmeyer vor allem den Judenretter, kritisiert Els van Diggele:
"Von Anfang an wurde Calmeyer von den holländischen Historikern gefeiert. In den 70er-Jahren erschuf unser bedeutendster Historiker das Image vom Judenretter. Auch danach wurde Calmeyer zu einem Symbol des Widerstandes. Man sah in ihm einen Mann, der Widerstand leistete, obwohl er ein Teil der Besatzungsmacht war."
Rettung zumeist wohlhabender Juden
Calmeyer selbst lehnte es nach dem Krieg ab, als Widerstandskämpfer bezeichnet zu werden. Mittlerweile hat sich auch die Einschätzung der niederländischen Historikerinnen und Historiker verändert. So wird darauf verwiesen, dass Calmeyer nur bestimmte Juden vor der Selektion bewahrte. Die gefälschten Dokumente wurden mit Unterstützung von Kirchengemeinden, jüdischen Gemeinden, von Gutachtern und Rechtsanwälten erstellt. Nicht alle machten das unentgeltlich, sagt Alfons Kenkmann:
"Das heißt – so kann es die Forschung sehen -, dass vor allem wohlhabende Juden, die die Mittel hatten, sich diese Fälschungen anzueignen, dass die am ehesten von Calmeyer gerettet wurden. Und hunderten Anderen ist die Unterschrift verweigert worden. Er war ein Judenretter, aber er war Teil der Besatzungsverwaltung und hat auch mitgespielt."
Der Leipziger Historiker warnt auch davor, diese Judenrettung auf Calmeyer zu personalisieren. Denn die niederländischen Archivare, Rechtsanwälte, Fälscher hätten sich ebenfalls einer großen Gefahr ausgesetzt:
"Die kommen nun gar nicht mehr vor. Das sind die, die zentral Widerstand geleistet haben."
Alfons Kenkmann beklagt als Vorsitzender des Osnabrücker Beirats die einseitige Orientierung der Calmeyer-Initiative sowie von lokalen CDU-Politikern. Er betont immer wieder, man müsse multiperspektivisch an die Person Calmeyer und an die künftige Ausrichtung der Villa Schlikker herangehen:
"Wir haben uns dagegen ausgesprochen, das als Hans Calmeyer Haus zu bezeichnen, als Marke der Stadt Osnabrück zu empfehlen neben Remarque und Nussbaum. Das ist eine andere Liga, in der da gespielt wird."
Den Schriftsteller Erich Maria Remarque und den Künstler Felix Nussbaum, der in Auschwitz ermordet wurde, präsentiert die Stadt heute als "Söhne Osnabrücks".
Aufgrund der Auseinandersetzungen um die Person Calmeyer ist bereits der Osnabrücker Historiker Christoph Rass aus dem Beirat ausgestiegen. Und auch Alfons Krenkmann merkt man an, wie genervt er ist:
"Sobald man ein bisschen multiperspektivischer an die Person rangeht, wird man diffamiert, verunglimpft. Das ist mir in dieser Form als Mitglied eines wissenschaftlichen Beirats noch nie passiert. Steht der Friedensstadt Osnabrück eigentlich nicht gut an."