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Streit um Litfaßsäulen-Austausch in Berlin
Säulenheilige verschwinden

Seit Monaten tobt in Berlin ein absurder Kulturkampf um den Abriss und Neubau von Litfaßsäulen. In diesen Tagen verschwinden die letzten, sie landen auf einer Deponie in Brandenburg und werden geschreddert, inklusive der wild darauf plakatierten Abschiedszeilen der Künstlerin Tina Zimmermann.

Von Andreas Becker |
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Litfaßsäule in Berlin, vor dem Abriß? (Andreas Becker)
"Ich bin bei mir im Kiez eines Tages um die Ecke gebogen und da schwebte eine Litfaßsäule, die da ja immer war auf einmal so in zwei Meter Höhe in der Luft. Und dann hab ich die Bauarbeiter gefragt, was sie da machen, da meinten die so: ja, die sind alle asbestverseucht, wir bauen da jetzt 2500 Stück von ab."
Nackte Litfaßsäulen
Künstlerin Tina Zimmermann war geschockt. Und traurig. Also ging sie erstmal auf den Friedhof und schrieb sich einige Grabsprüche ab: "Gewaltig wie der Tod, ist die Liebe."
Inzwischen waren die Abriss-Säulen einfarbig überklebt worden – warteten also quasi nackt, ohne Werbung auf ihr Ende. Die ersten Graffittis und Protestsprüche tauchten auf. Wieder sollte Berlin ein Kulturgut verlieren. Erst die wuchtigen gelben Doppelbriefkästen mit einem Schlitz für Berlin und einem für den Rest der Welt und jetzt die Litfaßsäulen!
litfaßsäulen werden abgeschafft. Begräbnis einer litfaßsäule litfaßsäulen werden abgeschafft. Begräbnis einer litfaßsäule *** Litfass columns are abolished Funeral of a litfass column Litfass columns are abolished Funeral of a litfass column
Begräbnis einer Litfaßsäule? (www.imago-images.de)
Ganz Berlin in Sorge
Tina Zimmermann startet eine radikale Kunst-Intervention: "Wir haben halt 120 Poster drucken lassen. 24 verschiedene Grabsprüche, die ich dann ausgewählt hatte. Dann bin ich mit Freunden losgezogen und wir haben die dann plakatiert."
Der Abriss war, werbetechnisch gesprochen, schlecht kommuniziert. Ganz Berlin sorgt sich plötzlich um die 1855 von Ernst Litfaß eben hier erfundene Säule. Der hatte damals eine liberale Flugschrift herausgegeben, den "Krakehler". Im Zuge der 1848er Revolution fordert er den Rücktritt mehrerer Minister. Prompt wird das "Krakehlen" in Preußen verboten.
Der Aufrührer-Geist scheint aber auch im heutigen Großberlin noch vorhanden. Erst als man die Aufstellung von rund 1500 frischen Betonröhren ankündigt, legt sich die Aufregung ein wenig.
Stefan Baumann ist Berlinchef des neuen Betreibers Ilg-Werbung. Er lehnt stolz an einer jungfräulichen Säule. Die ersten Plakate werben für E-Zigaretten. Durch eine Handbreit mehr Beton teigen seine Einnahmen enorm. Baumann: "Wir reden über 14 cm Durchmesser-Zunahme. Dafür kriegen wir aber entsprechend ein drittes Plakat da drauf. Sie haben ein Drittel mehr Fläche."
Ressourcen-Verschwendung!
Erneut erhebt sich der Widerstand. Warum reißen "die" "meine" schöne alte, schlanke Säule mit den Konzertplakaten ab und stellen an der gleichen Stelle unbemerkt eine neue auf? Totale Ressourcen-Verschwendung!
Seinen Hauptstadt-Ausflug hatte sich der Freiburger Baumann, seit 35 Jahren in der Branche, einfacher vorgestellt: "Säulenbeerdigung und was hier alles ausgesprochen wurde. Ich hätte nie gedacht, dass Berlin so öffentlichkeits aufmerksam wird, wegen der paar Säulen. Woanders baut man die einfach ab und stellt neue hin. Das reizt mich zum Lachen."
Zu früh gefreut! Zwei kämpferische Mini-Bürger-Vereine bekämpfen plötzlich den Abriß. Der Senat wird nervös – inzwischen ist durchgesickert, dass die alten Säulen einfach wie Müll auf einer Deponie in Brandenburg landen.
Der Denkmalschutz interveniert. Jetzt dürfen 24 historische Litfässer stehen bleiben.
Eine rot abgeklebte Litfaßsäule im Berliner Nikolaiviertel. 
Einige Litfaßsäulen in Berlin werden unter Denkmalschutz gestellt (dpa/Paul Zinken)
Einheitsdesign statt historischer Varianz
Künstlerin Zimmermann steht vor der historischen Säule am Kollwitzplatz – die glänzt mit einer fein gearbeiteten Metallkappe. Der eben gefallene Regen wird kunstvoll durch das Maul eines Löwenkopfes ausgespien. Ihr Grabspruch klebt schon über zwei Monate hier.
Zimmermann: "Ich find das einen unglaublichen, sinnlosen Materialverschleiß. Ich find´s auch bezeichnend, dass die neuen Säulen halt ein bißchen dicker sind, aber auch ganz schön viel häßlicher. Die alten Säulen waren ja aus sechs, sieben verschiedenen Jahrzehnten. Da gab`s noch die von vorm Krieg. Dann gab`s die aus den Siebzigern, Achtzigern. Und jetzt haben wir in Berlin halt das Einheitsdesign mit dem Plastikdeckel oben drauf."
Der aktuelle Werbevertrag erlaubt erst nach drei Jahren ganz neue Standorte. Dann werden es schnell wieder über 2000 sein – alle im langweiligen Standard-Design.
Aber Außenwerber Baumann macht allen Künstlern und Dichtern ein klebriges Angebot: Jeder könne seine Spruchkunst plakatieren lassen. Mindestbuchung 300 Säulen für eine Woche. Macht: grade mal 2100 Euro.
Gedankenfreiheit, ganz im Sinne des geschäftstüchtigen Säulenheiligen Ernst Litfaß. Plakatierer Baumann: "Ich bin hier nicht der Zensor. Ich vermiete diese Fläche. Wenn wir jetzt sagen: lassen wir jetzt rechte Gedichte zu, lassen wir linke Gedichte zu. Oder nehmen wir nur noch Mittelmaß? Also irgendwo hört ´s dann auch mal auf."