Die Sozialdemokratie wolle ein soziales Europa und keines "von Banken und Spekulanten" wolle. Für den Fall, dass der Luxemburger Jean-Claude Juncker eine solche Politik unterstütze, signalisiert Stegner indirekt Unterstützung für den EVP-Spitzenkandidaten.
Der stellvertretende SPD-Vorsitzende spricht sich in der Diskussion um den Euro-Stabilitätspakt für mehr Flexibilität in der Umsetzung aus. Man müsse Ländern wie Italien oder Frankreich mehr Zeit geben, um die Kriterien zu erfüllen, sagte der Stegner. Schließlich habe man auch hierzulande keine strenge Austeritätspolitik gemacht. "Sie können Staaten nicht einfach abschmieren lassen", so Stegner. Auch halte er eine europäischen Sozialunion für vernünftig.
Medienberichten zufolge verlangen Rom und Paris Zugeständnisse von Bundeskanzlerin Merkel in der Schuldenpolitik im Gegenzug für die Wahl Junckers zum EU-Kommissionschef. Die Finanzminister der Euroländer hatten sich gestern bei Beratungen in Luxemburg dafür ausgesprochen, die Regeln des Stabilitätspaktes zu überprüfen.
Peter Kapern: Mitgehört hat Ralf Stegner, der stellvertretende Vorsitzende der SPD. Guten Morgen!
Ralf Stegner: Guten Morgen, Herr Kapern!
Kapern: Herr Stegner, der Aufmacher der "Süddeutschen Zeitung", der trägt heute Morgen die Überschrift: "Neuer Angriff auf Merkels Sparpolitik". Bringen die Kollegen von der "Süddeutschen Zeitung" das Ansinnen von Sigmar Gabriel richtig auf den Punkt?
Stegner: Na ja, also Angriff würde ich das nicht nennen, aber dass die SPD durchaus andere Vorstellungen hat, auch in der Europapolitik, als die Union, das haben wir schon vor der Bundestagswahl gezeigt, nämlich eine Austeritätspolitik, für die wir ja in Europa überall geworben haben, Frau Merkel und andere. Die wollen wir nicht, sondern wir wollen eine Politik haben, die Wachstum und Beschäftigung ermöglicht. Der Pakt heißt ja übrigens auch Wachstumspakt, Wachstums- und Stabilitätspakt, das heißt etwas, was den Menschen eine Perspektive gibt. Denn wenn wir das nicht tun, dann kann man sich ja vorstellen, dass die nächste Präsidentin Frankreichs vielleicht Le Pen heißt und dass die radikalen Kräfte von rechts Zulauf bekommen. Das können wir nicht wollen, also muss es eine Perspektive für die Menschen geben. Im Übrigen war das ja der Weg, den Deutschland selbst genommen hat. Wir sind aus der Krise rausgekommen, weil wir eben nicht auf einseitige Sparpolitik gesetzt haben und Rotstiftpolitik gesetzt haben, sondern eben sehr wohl Wachstumsakzente gesetzt haben, schon in der letzten Großen Koalition, auch da kam das eher von der SPD. Also insofern, Angriff würde ich das nicht nennen, sondern das ist im wohlverstandenen Interesse Deutschlands und Europas, dass wir das machen.
Kapern: Also keine Austeritätspolitik, und das heißt dann eine Rückkehr zur Schuldenpolitik?
Stegner: Nein, wir wollen ja keine Schuldenpolitik haben, ich bezweifele aber auch, dass wir von einer Staatsschuldenkrise alleine reden können. Unter Reform verstehen viele in Europa immer nur, dass man das zulasten von Arbeitnehmern macht, und teilweise sind ja hohe Staatsausgaben auch deswegen da, weil Menschen nicht genügend Einkommen haben, zu viel Sozialtransfers bezahlt werden müssen, und die Frage ist, wer die Definitionsmacht bekommt. Ob das Banker sind, ob das Leute von Ratingagenturen sind oder ob das nicht am Ende der Primat der Politik sein muss, der dafür sorgt, dass Menschen Perspektiven bekommen.
"Sie können doch nicht einfach Staaten sozusagen abschmieren lassen"
Kapern: Aber der Primat der Politik leiht Staaten, die keine Kreditwürdigkeit mehr haben, kein Geld.
Stegner: Ja gut, aber ich sag mal, Sie können doch nicht einfach Staaten sozusagen abschmieren lassen. Und ich sag mal, wir haben doch in Griechenland, wenn Sie sich das Land mal angucken, nicht hauptsächlich nur das Problem, dass das irgendwie an den Arbeitnehmern dort läge, sondern da gibt es auch viele Leute, die Milliarden auf Schweizer Konten haben, die nicht versteuert werden, und vieles andere mehr – vielleicht auch zu viele Rüstungsimporte und vieles andere mehr, über das man reden kann, was politisch ausgestaltet werden muss. Reformen immer so zu buchstabieren, das geht zulasten der Menschen, und die sollen mal den Gürtel enger schnallen – das ist nicht unsere Vorstellung. Aber Sie haben ja selbst in Ihrem Bericht gesagt, die Regeln sollen gar nicht verändert werden. Sehen Sie, ich bin 15 Jahre Fußballschiedsrichter gewesen, da gibt es ein Regelwerk, aber die Frage, wie man dieses Regelwerk anwendet, mit welchem Fingerspitzengefühl man dieses tut, das ist das, worüber wir hier sprechen. Und es geht darum, dass eben auch Länder wie Frankreich und Italien Perspektiven haben, das zu schaffen, indem man ihnen mehr Zeit gibt und nicht, indem man dogmatisch, als sei das eine wissenschaftliche Entscheidung, verkündet, die dürfen jetzt dies, das oder jenes nicht tun, was wichtig ist für Wachstum und Beschäftigung.
Kapern: Also Herr Stegner, jetzt müssen wir mal ein bisschen Butter bei die Fische tun, weil Bundeskanzlerin Merkel und der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, die haben – jedenfalls nach den Worten des Regierungssprechers – dieser Tage noch darin übereingestimmt, dass sie eigentlich gar keinen Dissens haben. Nun sagen Sie wieder, wir müssen die bestehenden Regeln anders anwenden, keiner sagt aber genau, wie die Regeln anders angewendet werden sollen. Nun sagen Sie doch mal in ein, zwei Spiegelstrichen, wie Sie sich das vorstellen.
Stegner: Na ja, es muss doch möglich sein zu investieren in Wachstum und Beschäftigung, und zwar nach dem, was die demokratisch gewählten Führungen in den Ländern selbst für richtig halten.
"Wir müssen in reale Wirtschaft investieren"
Kapern: Also mehr ausgeben, Mehrausgabenpolitik?
Stegner: Wenn das Investitionen sind in die Zukunft, dann ist das doch vernünftig. Schauen Sie sich Deutschland an: Wir haben doch die Realwirtschaft bei uns gestärkt und nicht diesen mysteriösen Finanzplatz mit der Blase und der ganzen Krise, die ja entstanden ist durch Fehlentscheidungen von Bankern und von Leuten, die immer nur aufs Finanzkapital gesetzt haben. Wir müssen in reale Wirtschaft investieren, und wenn Franzosen und Italiener das tun wollen, ist das doch gut, denn wo sollen wir denn hinkommen bei einer Jugendarbeitslosigkeit von zum Teil über 50 Prozent. Das ist doch eine Jugend, wenn man der sagt, ihr werdet gar nicht gebraucht, die werden sich doch wenden gegen die Demokratie.
Kapern: Also auf den Punkt gebracht ist das das Konzept von guten Schulden und schlechten Schulden, das Sie da vertreten?
Stegner: Wenn Sie so wollen, ja, denn zu investieren in die Zukunft, glaube ich, das ist vernünftig, weil daraus eben zukünftiges Wachstum, auch Steuereinnahmen, auch solide Haushalte resultieren. Ernsthaft zu glauben, man könne einfach mit dem Rotstift Politik machen, das schürt nur Demokratieverdrossenheit und nutzt denen, die ohnehin schon am meisten haben, und das ist, glaube ich, falsch. Insofern weiß ich nicht, ob es da einen Dissens zwischen Sigmar Gabriel und Angela Merkel jetzt gibt, jedenfalls ist das die Position der Sozialdemokratie, und das ist sie nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo.
Kapern: Also mehr Zeit, um Wachstum zu generieren, das ist auch eine Ihrer Forderungen. Nun muss man aber festhalten, dass Frankreich nach den geltenden Regeln und der geltenden Interpretation des Stabilitätspaktes schon zweimal zusätzlich zwei Jahre bekommen hat. Die Reformen sind weitgehend ausgeblieben und die Haushaltssanierung auch. Wohin soll das führen, wenn die jetzt noch ein drittes oder ein viertes Mal mehr Zeit bekommen?
Stegner: Was ist denn die Alternative? Noch mal, was versteht man denn unter Reformen?
"Staaten nicht abschreiben"
Kapern: Vielleicht Reformen, ja.
Stegner: Na ja, und was ist denn ... Unter Reformen verstehen viele privatisieren, alles, was nicht niet- und nagelfest ist, Stellen abbauen, Arbeitsplätze zusammenstreichen und Leistungen für Menschen kürzen, die arbeiten oder gearbeitet haben – das ist für mich nicht Reform. Reform ist etwas, was zum Beispiel die Wachstumskräfte stärkt, was die Wirtschaft ankurbelt, was dafür sorgt, dass es neue Impulse gibt, was Investitionen in Bildung sind, und ich denke, auch eine europäische Sozialunion mit den gleichen Standards, dass man nicht Dumpingkonkurrenten ausgeliefert ist, all das ist, glaube ich, vernünftig, das ist jedenfalls unsere Vorstellung davon. Und noch mal: Ich finde, das sollten die Staaten selbst definieren, die ja auch demokratische Legitimationen haben. Viele, die jetzt entscheiden wollen, was geschieht, haben null demokratische Legitimation. Und deswegen, glaube ich, ist das wichtig, dass wir uns darauf verständigen, Staaten nicht abzuschreiben. Denn wer die Staaten abschreibt, der wird erleben, dass wir unser blaues Wunder erleben werden durch die europafeindlichen Kräfte, die dann natürlich Oberhand gewinnen, wenn die sagen werden, guckt mal, die lassen uns hier hängen, das fördert die nationalistischen Tendenzen, das können wir alles nicht wollen. Und insofern bin ich ganz zuversichtlich – die Sozialisten haben ja bei der Europawahl so schlecht nicht abgeschnitten, die werden auch gebraucht im Europäischen Parlament –, dass jedenfalls hier keine rigorose Austeritätspolitik betrieben werden kann, die falsch ist und die auch in Deutschland nicht da gewesen ist, dann sollten wir dafür auch nicht anderswo werben.
Kapern: Herr Stegner, die "Bild"-Zeitung vermutet einen schmutzigen Deal, das tat sie gestern in einem Artikel, und der würde so aussehen: Die SPD stimmt einem Kommissionspräsidenten Juncker zu beziehungsweise die europäischen Sozialdemokraten, und im Gegenzug dafür bekommen sie die Aufweichung des Stabilitätspakts. Sind die Kollegen der "Bild"-Zeitung da auf der richtigen Spur?
Stegner: Das glaube ich kaum. Im Übrigen ist es ja doch wohl eher Frau Merkel und Herr Cameron und Herr Orban, die inzwischen kapiert haben, dass man den Menschen im Europawahlkampf was von Spitzenkandidaten erzählt hat, und dann dachten die, wir kommen aber doch wieder durch mit unseren Hinterzimmerdeals, das geht nicht. Ich bin dafür, dass das Europäische Parlament gestärkt wird, und dann heißt das eben auch, wenn da ein Spitzenkandidat die Mehrheit bekommen hat, dass er das auch wird und das nicht andere entscheiden. Und zum Zweiten: Wenn Herr Juncker eine Mehrheit haben will im Europäischen Parlament, dann muss er andere, auch die sozialistische Fraktion, überzeugen, dass das auch inhaltlich und personell ein vernünftiges Konzept ist. Warten wir mal ab, wie das ausgeht.
Kapern: Gibt es da ein Junktim zwischen einer anderen Stabilitätspolitik und der Zustimmung der Sozialdemokraten zu Jean-Claude Juncker?
Stegner: Jedenfalls werden die Sozialdemokraten nicht einer Politik zustimmen, die die Krise in Europa weiter verschärft, sondern wir wollen ein soziales Europa, wir wollen ein Europa mit Chancen für junge Menschen, mit Überwindung der Arbeitslosigkeit und Impulsen für Wachstum und auch ein gerechtes Europa, kein Europa sozusagen von Banken und Spekulanten, sondern ein gerechtes Europa. Und wenn es das nicht gibt, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Sozialisten einem anderen politischen Konzept zustimmen würden.
"Billig sind die Sozialisten und Sozialdemokraten nicht zu haben"
Kapern: Wollen die Sozialdemokraten auch ein Europa mit einem Kommissionsvizepräsidenten namens Martin Schulz?
Stegner: Ich würde mir das sehr wünschen, und noch mal: Wir haben ja schon gesehen, dass Frau Merkel sich flexibel bewegt hat, nachdem sie gemerkt hat, dass die Vorstellungen von Herrn Cameron und Herrn Orban, den Juncker einfach mal zur Seite zu drängen, nicht funktioniert hat. Mal schauen, wie das ausgeht, ich hab ja gehört, was Herr Schäuble dazu gesagt hat. Schauen wir mal! Am Ende muss all das, worüber wir reden, im Europäischen Parlament eine Mehrheit bekommen, und ich glaube, billig sind die Sozialisten und Sozialdemokraten da nicht zu haben, sondern es muss eine stabile Vereinbarung geben. Herr Juncker wird sich sicherlich darum bemühen, die Unterstützung zu bekommen.
Kapern: Aber Sie müssen uns schon noch erklären, Herr Stegner, warum der Wahlverlierer Martin Schulz Anspruch auf den Vizekommissionspräsidentenjob erhebt.
Stegner: Ich glaube, dass Martin Schulz mitnichten ein Wahlverlierer ist, sondern dass er ein sehr gutes Ergebnis erzielt hat, und noch mal ...
Kapern: Aber nur das zweitbeste.
Stegner: Das ist richtig, deswegen wird er ja auch nicht Kommissionspräsident, sondern das wird wohl Herr Juncker werden. Aber der muss sich um eine Mehrheit bemühen, um eine Mehrheit für inhaltliche und personelle Vorstellungen, und die Regierungschefs müssen einfach lernen, es wird nicht alles ausgedealt in irgendwelchen Hinterzimmern, sondern wir haben europäische Demokratie, und das Parlament entscheidet am Ende – übrigens ganz transparent und offen, da müssen wir gar nicht spekulieren –, und ich bin da ganz optimistisch, dass was Vernünftiges dabei herauskommt.
Kapern: Wären Sie traurig, wenn Martin Schulz nach der Europawahl das wäre, was er vorher schon war, nämlich Parlamentspräsident?
Stegner: Er wäre ein vorzüglicher Parlamentspräsident ...
Kapern: Also das ist auch eine Option für Sie?
Stegner: ... aber natürlich wäre ich traurig, wenn er keine leitende Funktion in der Kommission bekommt, denn er hat einen exzellenten Wahlkampf gemacht, also ein super Europäer, und andere Länder beneiden uns um unseren Spitzenkandidaten, den wir hatten. Aber wir waren in Deutschland zweiter Sieger, das ist auch wahr, deswegen wird er leider nicht Kommissionspräsident werden können, aber alles andere findet sich. Und noch mal: Uns geht's nicht so sehr um die Postenspekuliererei, sondern uns geht's um die Inhalte, um ein Europa, das Zukunft hat, übrigens auch ein Europa, das nur dann eine Rolle spielen kann, auch was die Betonung des Friedens angeht. Schauen Sie sich die Krise an in der Ukraine – wir können doch nur zusammenstehen, wenn wir nicht nur einfach eine Wirtschafts- und Währungsunion sind, sondern wenn wir eine Wertegemeinschaft sind, die auch außenpolitisch mit einer Stimme spricht. Dazu bedarf es auch der Unterstützung durch die Sozialdemokraten.
Kapern: Der stellvertretende Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Ralf Stegner, heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Stegner, danke für Ihre Zeit, danke für Ihre Expertise, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und sage auf Wiederhören!
Stegner: Ihnen auch, tschüss!
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