Mario Dobovisek: Wir erinnern uns an das Zerwürfnis zwischen Deutschland und der Türkei, an die Auseinandersetzungen zwischen Ankara und Washington. Der Ton wurde jeweils rau, beleidigend, in Fragen des Umganges inniger Partner untereinander eigentlich unwürdig. Jetzt rückt die Türkei nicht nur mit den russischen Raketen näher an Russland heran.
Darüber möchte ich sprechen mit Johannes Varwick, Politikwissenschaftler an der Universität Halle-Wittenberg und Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, uns gerade aus Berlin zugeschaltet. Ich grüße Sie, Herr Varwick!
Johannes Varwick: Guten Tag, Herr Dobovisek!
Dobovisek: Würden Sie die Türkei noch als vollwertiges NATO-Mitglied bezeichnen?
Varwick: Ich muss bedauerlicherweise sagen, die NATO fliegt auseinander, und das ist eine sehr, sehr schlechte Nachricht für die europäische und transatlantische Sicherheit. Die NATO verfällt gewissermaßen in einen Block, der nach Osten guckt, und einen Block, der nach Süden guckt, und das ist eine sehr, sehr schlechte Situation. Allerdings ist das eine Situation, die mit langer Ansage kam, und wir müssen darüber reden, wie das dazu gekommen ist.
"Einigermaßen ratlos, wie wir da jetzt wieder rauskommen"
Dobovisek: Wie denn?
Varwick: Die NATO, glaube ich, hat unterschätzt, wie die Türkei auf den Putsch im Juli 2016 reagiert hat, vor ziemlich genau drei Jahren. Das hat die Türkei sehr entfremdet vom Westen. Die Türkei setzt seitdem auf sozusagen eine Renationalisierung ihrer Politik. Das zeigt sich im Inneren mit Abbau von Rechtsstaatlichkeit und so weiter, das zeigt sich aber auch im Äußeren, dass sie nicht mehr damit rechnen, dass der Westen ein guter Verbündeter für die Türkei ist. Und das war auch schon vorher absehbar, nämlich in dem Syrienkrieg, wo die Türkei sich hat alleine gelassen gefühlt. Insofern ist das jetzt eine Reaktion darauf, ich würde sagen, eine falsche und überzogene Reaktion, aber doch eine Reaktion der Türken darauf, dass sie denken, sie können sich nicht mehr auf ihre Partner verlassen. Jetzt suchen sie sich neue Partner.
Dobovisek: Dieses Gefühl beruht ja auch auf Gegenseitigkeit. Wenn wir auch in den Westen gucken, der in die Türkei blickt, müssten beide Seiten dann nicht die Konsequenzen ziehen und die Mitgliedschaft der Türkei aufkündigen - entweder Ankara selbst oder letztlich der Rauswurf aus dem Bündnis?
Varwick: Ich bin wirklich einigermaßen entsetzt, dass wir keine diplomatische Lösung in dieser Frage hinbekommen haben, weil es ist wirklich ein absolutes No-Go, dass man russische Waffen kauft oder Waffensysteme als NATO-Staaten - das gab es noch nie und das kann auch nicht sein. Es ist ja eigentlich wirklich nicht vorstellbar, dass wir seit 2014 in der NATO wieder uns dagegen sozusagen rüsten, dass Russland uns Probleme macht und jetzt ein NATO-Mitglied russische Waffensysteme kauft. Das ist schlichtweg unvorstellbar, aber wir haben jetzt die Situation, und ich bin einigermaßen ratlos, wie wir da jetzt wieder rauskommen. Ich glaube wirklich, die NATO fliegt auseinander, und wir müssen daran arbeiten, dass das nicht weitergeht.
Dobovisek: Es geht ja Ihrer Meinung nach offensichtlich nicht bloß um die Türkei.
Varwick: Na ja, es ist ein Beiderseitiges. Die NATO hat offenkundig nicht die türkischen Sicherheitsbedürfnisse so befriedigt, wie die Türkei das sich vorstellt. Ich glaube, wir müssen jetzt wirklich daran arbeiten, dass wir die Türkei wieder an Bord holen, weil die NATO ohne die Türkei ist eine instabilere NATO.
"Schwarze-Peter"-Spiel in der NATO
Dobovisek: Warum?
Varwick: Weil die Türkei sozusagen ein strategisch wichtiger Akteur an der Südostflanke ist, und ohne die Türkei hätten wir, glaube ich, die ganze Region noch instabiler, mit vielen Folgeeffekten, die überhaupt nicht kalkulierbar sind. Das heißt, wenn wir die Türkei jetzt weiter von der NATO entfernen lassen, dann schaden wir unserer eigenen Sicherheit. Ich verstehe zum Beispiel nicht, warum es nicht gelungen ist, der Türkei ein Angebot zu machen, dass sie Patriot-Systeme kauft. Das können wir schwer von außen durchschauen, wer da was falsch gemacht hat, aber im Ergebnis liegt das Kind jetzt im Brunnen, und wir müssen dafür sorgen, dass es wieder rauskommt.
Dobovisek: Wenn aber das strategische Interesse an der Türkei so groß ist und sich in der NATO niemand traut, auch nur Klartext zu reden beziehungsweise vor allem danach zu handeln, wie soll’s dann wieder rauskommen, das Kind?
Varwick: Ja, wir müssen jetzt nüchtern gucken auf die Interessen der Türkei. Die Türken wollen ein modernes Flugabwehrsystem, das auf dem Markt verfügbar ist, das ist auch ein berechtigtes Interesse, und ich finde, wir müssen ihnen das bieten. Und die russischen Interessen sind natürlich so, dass sie in erster Linie sozusagen da Geld verdienen wollen mit diesen Systemen, aber traditionell eben auch die NATO spalten wollen, und das haben sie jetzt wirklich sehr, sehr gut hinbekommen. Und die amerikanischen Interessen sind wiederum, dass sie die Funktionsfähigkeit ihres Kampfjets F-35 nicht gefährden wollen, was passieren würde.
Dobovisek: Da würde ich gerne noch mal einhaken, Herr Varwick. Schauen wir uns das noch mal an, diese Gemengelage der letzten Tage: Die Türkei hat mit den russischen Raketen nach eigener Darstellung auf die Absage Washingtons reagiert, denn eigentlich wollte Ankara ein US-System kaufen, das Patriot-System. Wer hält hier aus Ihrer Sicht den Schwarzen Peter in den Händen?
Varwick: Ich glaube, die Türkei hat eben mit dem Putsch 2016, mit der Passivität des Westens in der Syrienfrage und jetzt auch mit der Kurdenfrage, die damit zusammenhängt, gelernt, dass sie sich nicht verlassen können. Und deswegen setzen sie jetzt auf dieses russische Abwehrsystem, das ja wirklich ein gutes ist. Das ist anerkanntermaßen so, das ist ein sehr, sehr funktionsfähiges Raketenabwehrsystem.
Dobovisek: Ist das Patriot-System ja auch, aber warum weigern sich dann die Amerikaner offensichtlich?
Varwick: Genau, das ist genau die Frage, warum ist das nicht gelungen, dass man da einen Kompromiss hinbekommen hat, und da stehe ich wirklich auch vor einem Rätsel. Wie immer man das dreht und wendet, wem immer man da den Schwarzen Peter zuschiebt, das ist schwer zu durchschauen von außen. Aber im Ergebnis ist es so, ich sag’s noch mal: Die NATO fliegt auseinander, und das müssen wir sehr nüchtern konstatieren, und wir müssen die Konsequenzen durchdenken. Und wenn man die Konsequenzen durchdenkt, dann kann es nur bedeuten, dass man jetzt einen neuen diplomatischen Anlauf macht, dass die Türken wieder an Bord geholt werden.
"Das wäre eine katastrophale Nachricht"
Dobovisek: Wer könnte da die wichtigste Rolle spielen, wenn die USA offensichtlich ausscheiden?
Varwick: Ich glaube nicht, dass die USA ausscheiden. Trump ist ja in dieser Frage wie immer auch erratisch - mal redet er von Sanktionen, mal nicht. Dieses F-35-Programm ist jetzt gestoppt, aber ich denke oder hoffe zumindest, dass da noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Die Europäer können da, glaube ich, relativ wenig machen. Sie haben zwar ein eigenes Raketenabwehrsystem, MEADS, was aber auch noch nicht funktioniert, also noch nicht marktreif ist, und da ist wenig zu machen. Das heißt, am Ende wird das wieder auf die USA ankommen, dass sie den Druck erhöhen auf die Türkei und gleichzeitig Angebote machen an die Türkei. Ich glaube aber fast jetzt, dass es schon zu spät ist, insofern ist es wirklich eine Lage, die sich niemand wünschen kann.
Dobovisek: Schauen wir uns die globale Lage da in diesem Zusammenhang noch mal ein bisschen genauer an. Der Feind saß zu Zeiten des Kalten Krieges klar im Osten, in der Sowjetunion, in Moskau - sitzt er für die NATO da noch heute, in Russland, oder hat sich das längst geändert?
Varwick: Die NATO, glaube ich nicht, sieht in Russland garantiert keinen Feind, aber Russland ist ein Problem für die NATO geworden natürlich, weil Russland in der Ostukraine Krieg führt, weil es sich völkerrechtswidrig die Krim annektiert hat und die osteuropäischen Bündnisstaaten eben die Abschreckung gegen Russland auf ihrem Programm haben. Und wenn die NATO da keine wichtige Rolle spielt, dann wird sie irrelevant. Das heißt, im Großen und Ganzen ist die NATO auf gutem Weg gewesen.
Sie hat sich neu aufgestellt gegen einen neuen Problemfall Russland, sag ich mal, aber gleichzeitig versucht, die anderen Aufgaben in der internationalen Sicherheit - von Afghanistan bis Syrien und Irak, alles, was auf der Agenda steht - nicht vollkommen zu vernachlässigen. Das war immer ein großer Spagat, aber wenn jetzt an dieser Türkeifrage deutlich wird, dass wir eigentlich kein gemeinsames Verständnis mehr von Sicherheit in der NATO haben, dann muss ich leider sagen, können wir den Laden fast dichtmachen, und das wäre eine katastrophale Nachricht für die internationale Sicherheit.
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