Immer wieder sind in den vergangenen Wochen Videos dieser Proteste zu sehen: Hunderte ultraorthodoxe Männer mit Gebetsmänteln und großen Hüten blockieren Straßen in Jerusalem, legen sich mit Polizisten an. Die Strenggläubigen sind wütend: Sie wollen sich auch künftig auf das Studium in ihren Thoraschulen konzentrieren, den Yeshivot - und: Sie wollen nichts mit der Armee zu tun haben. Ja, sie weigern sich sogar, dem Rekrutierungsbüro zu melden, dass sie in einer der Thoraschulen lernen, um so den Wehrdienst zu umgehen.
Die Ultra-Orthodoxen werden im Hebräischen meist als Charedim bezeichnet, als Gottesfürchtige. Dov Halberthal ist solch ein Gottesfürchtiger. Der ultraorthodoxe Rabbiner und Anwalt erklärt, wovor die Charedim sich so fürchten:
"Es geht nicht darum, sich vor dem Dienst zu drücken. Es geht darum, dass die Armee ein Ort ist, an dem ein junger Mann mit 18 Jahren nicht Charedi bleiben wird. Die Atmosphäre in der Armee, in der 90 Prozent total säkular sind, mit Smartphones, mit allem, was die jungen Leute auf der ganzen Welt heute so haben: Das verändert! Es kann gar nicht anders sein."
Die Charedim leben abgeschottet: Sie haben keine Fernseher, nur begrenzt Internet, Kinder gehen in religiöse Schulen und die meisten Männer lernen in Thoraschulen, anstatt zu arbeiten. Seit der Staatsgründung sind sie von der Wehrpflicht befreit, sofern sie nachweisen können, dass sie sich ganztags dem Studium religiöser Schriften widmen. Denn auch das sei schließlich ein Dienst für das jüdische Volk, erklärt Rabbiner Dov Halberthal:
"Es gibt zwei Lasten, die es im heutigen Israel zu tragen gilt: die Armee und die Welt der Yeshivot. Das ist zwar keine gefährliche Aufgabe. Aber eine, ohne die es kein Judentum mehr geben würde. Und dann bräuchten wir auch keine Armee mehr. Dann beenden wir eben das Judentum."
Bataillon ohne Frauen
In diesem Jahr allerdings entschied der Oberste Gerichtshof, dass die derzeitige Ausnahmeregelung rechtswidrig ist. Müssen also bald alle Charedim zur Armee? Nicht einmal die Armee selbst glaubt daran. Brigadegeneral Eran Shani, zuständig für die Integration, ist überzeugt, dass Fanatiker unter den Ultraorthodoxen nicht rekrutiert werden könnten, den anderen aber wolle die Armee die Chance geben, ihren Glauben während des Dienstes weiter zu leben. Eran Shani:
"Wir haben das Bataillon 'Netzach Yehuda' - ein Bataillon fast ausschließlich für Charedim. Dort dürfen keine Frauen dienen, das wäre für die Charedim ein absolutes Tabu: Ein unverheirateter Mann darf nicht mit Frauen in Berührung kommen. Wir haben noch zwei andere solcher Kampfgruppen. Es ist auch ganz genau geregelt, dass sie Zeit für die Gebete bekommen. Außerdem besagt die jüdische Regel 'piguat nefesh', dass die Schabbatruhe gebrochen werden darf, wenn es um Menschenleben geht. Dazu zählen auch Einsätze, um Lebensgefahren zu verhindern."
Das Konzept der Armee zeigt Erfolg: Waren es vor zehn Jahren weniger als 300 Charedim, die in der Armee dienten, sind es heute knapp 3000. Einer von ihnen war David Soldan, 37 Jahre alt, mit Bart und schwarzer Kippa. Soldan erinnert sich an die Zeit, als er jung war. Ihn interessierte beides: Er las von den Einsätzen der Armee und gleichzeitig studierte er die Bibel und andere jüdische Schriften. David Soldan:
"Das hat mich nicht kalt gelassen. Das israelische Volk kämpft an der Front in Gaza gegen die Palästinenser, in den Gebieten. Anschläge müssen verhindert werden. Die Soldaten, die das machen, die verteidigen mich. Und was mache ich? Ich sitze rum? Ich hatte das Gefühl, dass ich mein Potenzial vergeude. Ich hatte eine unglaubliche Energie, da kann auch eine Waffe in die Hand nehmen und kämpfen."
Schmarotzer-Vorwürfe
In seiner Yeshiva wollte niemand von seinen Plänen hören, Rabbiner waren verärgert. David Soldan ging trotzdem zu den Fallschirmspringern. Und obwohl er in einer Sondergruppe für Charedim diente, passierte das, was die Rabbiner befürchteten: Er kam mit Frauen in Kontakt.
"Plötzlich lernte ich diese säkulare Welt kennen, in der ich nicht aufgewachsen bin. Wir hatten fast keinen Kontakt. Plötzlich passiert das in der Armee! Haben wir es überlebt? Ich ja, und die meisten anderen auch. Ist jemand vom Weg des strengreligiösen Lebens abgekommen? Ja, das gab es. Aber das hängt vom Einzelnen ab, ob er schon vor der Armee nicht so überzeugt war. Wer mit starkem Charakter und einem festen Willen in die Armee geht, der wird nicht so leicht vom Weg der Gottesfürchtigen abkommen."
David Soldan ist streng-orthodox geblieben und bis heute stolz auf seinen Wehrdienst. Er hat darüber ein Buch geschrieben und ist überzeugt, dass ein Wandel unter den Charedim stattfindet. Viele hätten es satt, in der Öffentlichkeit als Schmarotzer angesehen zu werden.
"Der ganze Lärm, das Geschrei auf der Straße, das kommt von einer Minderheit, die weniger als zehn Prozent der Charedim ausmacht. Sie richten eine Menge Schaden an, weil sie damit alle Charedim stigmatisieren. Als ob alle so wären. Leider bleiben die anderen Charedim still."
Die Bilder der Proteste verstören viele Israelis: Sie müssen dienen, zwei beziehungsweise drei Jahre lang. Wieso dürfen sich die Strenggläubigen drücken? Und sich dann auch noch auf den Straßen so aufführen? Zumal die Zahl der Charedim steigt. Die Last wird immer ungleicher verteilt. Und so muss die Zahl der rekrutierten Charedim noch um einiges steigen, erklärt Gilad Malach vom Israelischen Demokratie-Institut:
"Zurzeit geht rund ein Drittel der Charedim zur Armee. In fünf Jahren sollte es die Hälfte sein. Die Gesetzgebung sollte sich also erst mal auf die nächsten fünf Jahre konzentrieren."
Wenn die Hälfte der Charedim Militärdienst leistet, das wäre ein Fortschritt, findet Gilad Malach und ergänzt: Um diesen Prozess zu beschleunigen, müssten notfalls die staatlichen Zuschüsse für ultraorthodoxe Thoraschulen gekürzt werden, um mehr Druck auszuüben und so ein bisschen mehr Gerechtigkeit herzustellen.