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Streit unter Paläoanthropologen
Wo stand die "Wiege der Menschheit"?

Charles Darwin beschrieb Afrika als den Ort, an dem die Wiege der Menschheit gestanden haben soll. Wo genau, darüber herrscht innerhalb der Wissenschaft reger Streit. Immer häufiger wird auch debattiert, ob es – wenn man bei dem Bild bleiben möchte – nur eine Wiege gab oder vielleicht doch mehrere.

Von Michael Stang |
Abgüsse von fossilen, menschlichen Schädeln
Abgüsse von fossilen, menschlichen Schädeln (picture alliance / dpa | Uwe Zucchi)
Wo nahm die Menschheit ihren Anfang? Diese Frage trieb schon Charles Darwin um. 1871 veröffentlichte er das Buch "Die Abstammung des Menschen". Darin bezeichnete er Afrika als den Ort, in dem die Wiege der Menschheit gestanden habe. Konkreter wurde der britische Naturforscher nicht.
Seither gibt es großen Streit um den Titel "Wiege der Menschheit" oder auf Englisch "Cradle of Humankind". "Das ist dann so eine Konkurrenz innerhalb von Afrika. Da in Südafrika wird gesagt. Wir sind die ‚Cradle of Humankind‘ und natürlich in Äthiopien wird das auch gesagt, wir sind Cradle of Humankind, in Kenia auch, in Malawi auch, in Tschad, überall."
Friedemann Schrenk vom Senckenberg Forschungsinstitut in Frankfurt am Main kann die Debatte nicht mehr hören. Am meisten stört ihn die oft eigenwillige Interpretation bestimmter Funde – innerhalb der Wissenschaft und dann auch durch die Medien: "Es muss nie alles umgeschrieben werden. Also natürlich gibt es ab und zu mal Überraschungen, aber die passen ja dann in ein Bild."

Frühzeit der Menschen im Grundsatz geklärt

Das große Bild der Frühzeit der Menschen ist klar. Daran kann ein einzelnes Fossil eines Frühmenschen nichts mehr ändern, sei es auch noch so spektakulär, so der Paläoanthropologe, der selbst seit mehr als 30 Jahren im ostafrikanischen Malawi nach versteinerten Knochen gräbt.
"Unser wissenschaftliches Weltbild, das setzt sich aus so vielen Einzelheiten zusammen, dass man jetzt nicht sagen kann, durch einen einzigen Fund, der erst erklärt werden muss, bricht alles andere zusammen."
Friedemann Schrenk geht davon aus, dass der aufrechte Gang der Menschen vor rund sieben Millionen Jahren entstanden ist. Der tropische Regenwald, der sich einst von der Westküste Afrikas bis zur Ostküste ausbreitete, zog sich zurück. In den Randgebieten entstand mit der afrikanischen Savanne ein neues Ökosystem. Dies war der Beginn der Menschheit – und die Anfänge der Menschheit liegen in Afrika. Soweit gibt es Zustimmung – bis der nächste Fund kommt. Dann steht wieder die alte Forderung im Raum, dass die Geschichte der Menschheit umgeschrieben werden müsse.
An diesem Streit ist auch Charles Darwin schuld. Dabei hatte er seine Wiegen-These nicht mithilfe von Frühmenschenfossilien aufgestellt, sondern nur die Skelette von Schimpansen, Gorillas, heutige Menschen und anderen afrikanischen Affen verglichen. Knochenfunde ganz früher Menschen wurden erst lange nach Darwins Tod entdeckt.
Eine Hand hält in Südafrika einen Schädelabdruck des so genannten "Taung Baby".
Australopithecus africanus - ein affenähnliches Wesen, aber Urahn der Gattung Homo (EPA)

Idee einer linearen Entwicklung der Menschheit überholt

Der erste Beweis für eine mögliche Wiege der Menschheit wurde 1924 entdeckt und zwar in Südafrika, so Francis Thackeray von der Universität von Witwatersrand in Johannesburg: "Ein Schädel wurde hier entdeckt an einem Ort namens Taung, 2,5 Millionen Jahre alt. Den Fund hat Professor Raymond Dart als neue Art beschrieben, der er den Namen Australopithecus africanus gab."
Der Name bedeutet so viel wie: Der Affe aus dem Süden Afrikas. Es war die erste Beschreibung eines Australopithecus; jener Gattung, aus der später unsere Gattung Homo hervorgegangen ist. "Der Fund war affenähnlich, aber auch schon sehr menschlich. Dieses Wesen hatte ein kleines Gehirn, lief aber schon auf zwei Beinen. Südafrika spielte plötzlich eine wichtige Rolle für die Menschwerdung, denn nun gab es einen Beweis für Charles Darwins Theorie, dass die Wiege der Menschheit in Afrika stand, dass sich dort die Menschheit entwickelt hat."
Erhalten sind vom Taung-Kind nur der Gesichtsschädel, das versteinerte Gehirn und der Unterkiefer. In den Jahrzehnten nach dem Fund von 1924 folgten weitere Einzelfunde, die das Bild der Menschwerdung vervollständigten. Die Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte war noch übersichtlich, weil es nur wenige Fossilien gab, sagt auch Bernard Wood: "Im Grunde war es damals noch eine lineare Geschichte. Eine Art war entweder ein menschlicher Vorfahr, ein Nachkomme oder beides. Unten im Stammbaum standen die Vorfahren und oben die anatomisch modernen Menschen als deren Nachkommen."

Neue Fossilienfunde zeichnen ein komplexeres Bild

Diese einfache, weil gradlinige Entwicklungstheorie ist dank vieler neuer Fossilienfunde vorbei - zum Glück, so der Anatom von der George Washington Universität. Bernard Wood beschäftigt sich seit mehr als 50 Jahren mit der Evolution der Menschen. "Man versucht die Geschichte der Menschheit zu rekonstruieren, hat dazu aber nur Beweise, die alles andere als vollständig sind."
Doch die Fundsituation hat sich in den vergangenen Jahren gewaltig verändert. Immer mehr Fossilien aus der Frühzeit der Menschen, vor allem aus Afrika, zeichnen ein immer detaillierteres Bild. Der früher übersichtliche Stammbaum wurde in den Augen mancher zum wild verzweigten Stammbusch. Doch wo der Beginn der Menschheit geographisch verortet werden soll, ist weiter unklar – viele Beweise und Hypothesen konkurrieren miteinander. Denn selbst aussagekräftige Fossilien können nur einen kleinen Einblick in die Entwicklung der Menschheit geben, eine Entwicklung, so Bernhard Wood.
"Wenn man alle Ausgrabungsstätten in Ostafrika nimmt, in denen Fossilien von Frühmenschen gefunden wurden und dann alle Gegenden mit solchen Funden im Süden Afrikas und jene Kandidaten aus dem Tschad, dann sind das gerade einmal drei Prozent der Landfläche des Kontinents. Bedeutet das, dass diese Gegenden die einzigen waren, in denen unsere Vorfahren gelebt haben? Nein!"
Das Skeletts "Lucy" und sein Entdecker Donald Johanson im Frankfurter Senckenberg-Museum
Das Skeletts "Lucy" und sein Entdecker Donald Johanson im Frankfurter Senckenberg-Museum (picture alliance/Silas Stein/dpa)

Es wird eng im Stammbaum der Menschheit

Vor der Entstehung unserer Gattung Homo gab es ganz verschiedene menschliche Vorfahren, die schon aufrecht gingen. Doch welcher von ihnen steht in direkter Verwandtschaft zu uns? Viele Stimmen gehen davon aus, dass es die Gattung Australopithecus war, aus der vor zwei bis drei Millionen Jahren die ersten Vertreter der Gattung Homo hervorgingen. Ob es die Art Australopithecus afarensis war, zu der auch die berühmte Lucy aus Äthiopien gehört, darüber herrscht seit Jahrzehnten Uneinigkeit. Zwar sind mittlerweile rund zwei Dutzend Menschenarten wissenschaftlich beschrieben, die alle auf dem Stammbaum ihren Platz finden sollten, dennoch ist es möglich und sogar wahrscheinlich, dass vieles noch überhaupt nicht bekannt ist. Und klar ist auch: Nicht alle Theorien können stimmen.
"Die Wiege der Menschheit könnte im heutigen Botsuana gestanden haben" – heißt es am 28.Oktober 2019 im Fachblatt NATURE. Was war passiert? Ein internationales Forschungsteam hatte genetische, linguistische sowie geographische Daten erhoben und diese mit Klimamodellen in Verbindung gesetzt.
Demnach soll der Ursprung der anatomisch modernen Menschen vor nur 200.000 Jahren im südlichen Afrika im Gebiet des heutigen Botsuana gelegen haben. Und von dort aus sollen dann die ersten großen Wanderungen der modernen Menschheit begonnen haben.
Das Problem: An der Studie war kein einziger Evolutionsforscher beteiligt. In Botsuana gibt es bisher keine wichtigen Fossilienfunde der ersten Vertreter von Homo sapiens. Die ältesten bislang bekannten Fossilien unserer Menschenart stammen aus Marokko und sind rund 300.000 Jahre alt, also wesentlich älter als es der neue Standort der Wiege der anatomisch modernen Menschen hergeben würde. Paläoanthropologe Lee Berger von der Universität von Witwatersrand in Johannesburg ist auch zwei Jahre später noch immer fassungslos.
"Ich war irritiert, auch von der Art und Weise wie das Ganze präsentiert wurde. Die genetischen Daten sind stimmig und wichtig, aber man kann doch nicht daraus einfach einen geographischen Punkt in Afrika ableiten, wo die Entwicklung der Menschheit begann. Das halte ich für problematisch, zumal die Studie in NATURE, einem der führenden Wissenschaftsjournale, erschienen ist. Hinzukommt, dass uns das im Denken - wie die Evolution des Menschen vonstattenging - um 40, 50 oder 60 Jahre zurückwirft."

Ein angeblicher Sensationsfund im Allgäu

Hinzu kommt: Alle Daten und Funde müssen immer ins Gesamtbild passen. Und das ist gerade in der Frühzeit der Menschheit schwierig. Als Urahn gilt vielen die Art Sahelanthropus tschadensis. Von dieser Art wurde ein sechs bis sieben Millionen Jahre alter Schädel im Gebiet des Tschads entdeckt. Konkurrenz in Form der nächsten frühen aufrecht gehenden Menschenart kommt aus Kenia, dort wurden die rund sechs Millionen Jahre alten Fossilien von Orrorin tugenensis gefunden. Dritter Konkurrent ist die Gattung Ardipithecus, deren ältester Vertreter vor 5.7 Millionen Jahren im Gebiet des heutigen Äthiopiens lebte. Tschad, Kenia, Äthiopien – das sind nur drei der Kandidaten, wo die Wiege der Menschheit gestanden haben könnte. Zudem: Lebten dort wirklich drei verschiedene Urahnen oder nur regionale Varianten, also Vertreter einer großen menschlichen Linie? Das ist unklar. Helfen können nur weitere und bessere Funde.
Nur anderthalb Wochen nach der Botsuana-Geschichte erscheint abermals im britischen Fachblatt NATURE Ende 2019 die nächste angebliche Sensation. Im Allgäu wurden 11,6 Millionen Jahre alte Fossilien eines aufrecht gehenden Primaten entdeckt. Dieser lebte lange bevor sich die ersten Menschen entwickelt hatten.
Die Forschenden bemühten sich bei den zahlreichen Interviews um Superlative, und gingen davon aus, dass die menschliche Evolutionsgeschichte viel älter ist als bisher angenommen. Sogar von einem "Paradigmenwechsel" war die Rede. Größer ging es kaum. Demnach könnte sich der menschliche aufrechte Gang viel früher als bislang bekannt entwickelt haben. Und diese Entwicklung habe zuerst in Europa stattgefunden und nicht in Afrika.
Das Foto zeigt die Paläontologin Madeleine Böhme bei der Vorstellung der Knochen des Menschenaffen Danuvius guggenmosi.
Ist die Out-of-Africa-Theorie nicht mehr haltbar? Diese These sorgte Ende 2019 für Aufsehen. (dpa / picture alliance / Sebastian Gollnow)

Eurozentrismus und Marketing-Erwägungen als Motiv?

Also alles doch wieder ganz anders? Nein, so Paläoanthropologe Friedemann Schrenk vom Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt am Main. Er kann diese Interpretationsansätze nicht nachvollziehen: "Die Kollegen wissen, dass das mit dem dauernden aufrechten Gang des Menschen überhaupt nichts zu tun hat, aber sie spielen damit und das halte ich für sehr bedenklich im Sinne dessen, dass eben der Eurozentrismus eine ganz lange Geschichte hat, auch in der Paläoanthropologie."
Doch viele hoffen noch immer, dass Europa irgendeine eine Rolle bei der Entstehung der Menschheit gespielt haben könnte. Belege dafür gibt es jedoch nicht, auch nicht in der wissenschaftlichen Veröffentlichung selber. Dort vermeiden die Forschenden eine Aussage dazu, ob dieser alte Affe ein Vorfahr der heutigen Menschheit ist. Die stammesgeschichtliche Einordnung fehlt, und zwar aus einem einfachen Grund, meint Friedemann Schrenk. Der Affe hatte nichts mit der Evolution der Menschen zu tun. Diese Art ist, wie viele andere damaligen Affenarten in Europa, spätestens vor acht Millionen Jahren ausgestorben. Daran ändert auch der aufrechte Gang eines Affen nichts.
"Zweibeinigkeit gibt es oft bei den Menschenaffen, also ich halte das jetzt nicht für so etwas Besonderes und das hat mit dem dauernden aufrechten Gang des Menschen, der viel später entsteht, überhaupt nichts zu tun."

Die Wiege kann nicht überall gleichzeitig gestanden haben

Aber das interessierte in der deutschsprachigen Medienwelt kaum. Stattdessen war vom Affen mit Spitznamen "Udo" die Rede, eine Anlehnung an den Sänger Udo Lindenberg, dessen Musik während der Ausgrabung im Radio gespielt wurde. Bemerkenswert ist auch, dass parallel zur wissenschaftlichen Veröffentlichung ein populärwissenschaftliches Buch der Forscherin über die neuen Funde erschien. Alles Zufall? Oder gutes Marketing? Und dann natürlich schnell wieder die Forderung, dass die Geschichte der Menschheit umgeschrieben werden muss? Friedemann Schrenk kann das bald nicht mehr hören.
"Das sind Tausende von Funden in Afrika. Das sind Hunderte von Arbeiten und von Forschergruppen da dran gewesen an den Gesamtzusammenhängen Klima, Umwelt, Entwicklung, Nahrung, Morphologie, Anatomie, Entwicklung der Kultur."
Zwar gibt es heute so viele Daten wie nie, dennoch ist der Interpretationsspielraum weiterhin groß – und das Selbstbewusstsein mancher Forschenden ebenso. Aber: Nicht alle können Recht haben. Denn Charles Darwins viel beschriebene "Cradle of Humankind", die Wiege der Menschheit, kann nicht überall gleichzeitig gestanden haben - oder doch?

Kein eng umgrenztes Gebiet, kein genauer Zeitpunkt

2021 gab es einen neuen Versuch, den Wirrwarr zu entflechten. Es ging nicht um die ersten menschlichen Wesen, sondern um das jüngste Kapitel der Humanevolution: den Ursprung aller heute lebenden Menschen, die zur Art Homo sapiens gehören. Ein interdisziplinäres Team führte im Fachblatt NATURE alle vorliegenden Erkenntnisse zusammen: Fossiliendaten genauso wie Angaben aus der Genetik und Archäologie. Mit dabei war Paläoanthropologe Chris Stringer vom Naturhistorischen Museum in London, der Begründer der "Out-of-Africa"-Theorie:
"Lange Zeit galt ja die Lehrmeinung, dass man die Menschwerdung als einfachen, geraden Weg beschreiben kann, dass wir also alle Fossilien in einer Linie von alt nach neu hinlegen können und dann passt es. Aber Stück für Stück tasten wir uns nun an die tatsächliche Humanevolution heran, und die ist viel komplizierter."
In seiner Studie kommen er und sein Team zu dem Schluss, dass für den Beginn der Entwicklung zum Homo sapiens kein eng umgrenztes Gebiet innerhalb Afrikas benannt werden kann, das als Wiege der Menschheit infrage kommt. Gleiches gilt für die Zeit. Die Entwicklung der anatomisch modernen Menschen begann demnach zwischen einer Million und 300.000 Jahren vor heute. Ein Punkt ist Chris Stringer besonders wichtig:
"Der Grund, weshalb sich aus unseren Vorfahren die anatomisch modernen Menschen entwickelt haben, ist doch nicht das Resultat eines geplanten oder direkten Prozesses, sondern es ist das Ergebnis vieler Zufälle. Und alles zusammen hat uns zu etwas gemacht, was man sich am Beginn dieses Prozesses niemals hätte vorstellen können."