Regina Brinkmann: Mal überspitzt gefragt: Wie viele Migrantenkinder verträgt eine Klasse, ohne dass ihre Integration und die Leistungen der gesamten Schülerschaft leiden? Um diese Frage dreht sich eine Debatte, die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka am Wochenende losgetreten hat. Im "Fokus"-Interview hatte sie sich dafür ausgesprochen, mit Blick auf eine erfolgreiche Integration in Schulklassen den Migrantenanteil zu begrenzen. Auf eine starre Quote wollte sich Wanka dabei nicht festlegen. Der Deutsche Philologenverband und sein Vorsitzender Heinz-Peter Meidinger werden da schon mit einem Richtwert von 35 Prozent etwas konkreter. Der bildungspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Özcan Mutlu, hält das für realitätsfern, die Quote überhaupt. Beide habe ich vor dieser Sendung gesprochen. Zunächst wollte ich von Heinz-Peter Meidinger wissen, wieso er einen Anteil von höchstens 35 Prozent an Migrantenkindern in einer Klasse für empfehlenswert hält.
Heinz-Peter Meidinger: Das Problem ist ja schon länger bekannt, dass wir eine sehr ungleiche Verteilung haben von Kindern mit Migrationshintergrund auf verschiedene Wohngegenden, Schulen, Schularten, auch Schulen in direkter Nachbarschaft. Ich bin auf das Problem auch aufmerksam geworden durch eine Studie der Mercator-Stiftung vor zwei Jahren, in der Familien mit Migrationshintergrund befragt worden sind, was sie als größtes Hindernis bei der Integration in Deutschland sehen. Und da haben sie gesagt, und das hat mich überrascht: Zu hohe Quoten von Kindern mit Migrationshintergrund in den Klassen ihrer Kinder. Und das heißt also, es ist ein Problembewusstsein da, aber es tut niemand etwas. Dazu gibt es eine Begleituntersuchung bei PISA, PISA 2003, die gezeigt hat, dass ab einem Migrationsanteil von etwa 35, 40 Prozent die Leistungen der Gesamtschülerschaft in dieser Klasse rapide abnehmen.
"Die Qualität des Unterrichts ist das Problem"
Brinkmann: Das heißt, daraus beziehen Sie auch diesen Richtwert von 35 Prozent?
Meidinger: Ja. Das ist ja keine starre Quote, aber einfach mal nur eine Orientierung, was für Ziele erstrebenswert wären.
Brinkmann: Als Bildungspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag lehnen Sie die Quote für Migrantenkinder generell ab. Warum?
Mutlu: Das ist eine Schnapsidee aus der Mottenkiste. Das hatten wir schon mal in Berlin bis 1995, hat nicht funktioniert. Es gab auch andere Länder, zum Beispiel die USA, die versucht haben, mit Quoten zu hantieren. Auch dort ist es gescheitert. Nicht die Kinder mit Migrationshintergrund sind das Problem der deutschen Schule, und das sagt die PISA-Studie auch nicht so, das stimmt so nicht, sondern die Qualität des Unterrichts ist das Problem, das fehlende Personal ist das Problem der deutschen Schule, und die unzureichenden Bildungsinvestitionen. Da müssten wir ran. Wir brauchen dringend eine Bildungsoffensive, damit jedes Kind, egal wo die Eltern oder Großeltern hergekommen sind, in der Schule bestmöglich gefördert wird. Und daher finde ich jetzt die Debatte um diese Quote einfach Zeitverschwendung und bin auch ein bisschen irritiert, weil Frau Wanka, die sonst immer sich über die Länderzuständigkeiten beschwert und immer sagt, die Länder sind zuständig, jetzt doch an der Länderzuständigkeit rüttelt. Meine Empfehlung ist, lassen Sie uns eine Bildungsoffensive starten. Investieren wir mehr in die Bildung und starten eine Weiterbildungs- und Fortbildungsoffensive für Lehrkräfte, für Erzieherpersonal, und dann haben wir das Problem vielleicht nicht in dem Maße, wie wir es jetzt haben.
Brinkmann: Herr Meidinger, das sind einige Vorschläge. Was halten Sie davon?
Meidinger: Ich bin natürlich immer dabei, wenn Politiker Bildungsoffensiven fordern und mehr Geld für Bildung. Da werden Sie keinen Lehrerverband finden, der dann nicht sagt, Hurra und ja. Ich glaube nur, dass so ein Gießkannenprinzip in dem Fall nichts helfen wird. Wir haben eben eine sehr einseitige Verteilung, und Sie können natürlich sagen, es ist eine Frage der Unterrichtsqualität, Herr Mutlu. Nur, wenn Sie – und Sie kennen ja die Situation in Berlin –, es ist auch extrem, wenn Sie Lehrkräfte haben, also meine Kolleginnen und Kollegen, die dann in solchen Klassen stehen, wo sie im Grunde genommen ja wissen bei vielen Äußerungen auf Deutsch, dass sie die Mehrzahl der Klasse überhaupt nicht versteht, dann geraten Sie natürlich an Grenzen, die nicht mit einer einfachen Bildungsoffensive zu bewältigen sind.
"Grundvoraussetzung wäre, wir bekommen eine andere Sozialpolitik"
Brinkmann: Aber Herr Meidinger, machen Sie doch vielleicht mal deutlich, wie Sie sich das in der Praxis vorstellen. Wie sollte man es zum Beispiel dann hinbekommen, dass genau in diesen Brennpunktbezirken – nennen wir sie jetzt vielleicht mal so – oder in Bezirken, wo viele Ausländer leben, wo Deutsche gar nicht mehr ihre Kinder zur Schule schicken möchten, wie wollen Sie die Deutschen dazu bekommen, quasi den Anteil der Deutschen in den Klassen zu erhöhen, um es vielleicht mal andersherum zu betrachten.
Mutlu: Sehr gute Frage.
Meidinger: Ich glaube – also ich bin auch nicht im Besitz des Steins der Weisen, den Eindruck möchte ich nicht vermitteln. Ich glaube nur, dass wir derzeit etwas machen – wir kennen das Problem, wir sagen aber, da kann man nichts machen. Grundvoraussetzung wäre natürlich auch mal, wir bekommen eine andere Sozialpolitik, die von Haus aus dafür sorgt, dass die Verteilung in Wohngebieten von Menschen mit Migrationshintergrund gleichmäßiger wird. Das Zweite ist, ich glaube, man kann auch mit Anreizsystemen arbeiten. Wenn Sie beispielsweise einer Schule, die die Regelquote von Kindern mit Migrationshintergrund haben – wir haben in Berlin Gymnasien, die haben deutlich unter zehn Prozent, und wir haben Gymnasien, die haben über 80 Prozent. Wenn Sie solchen Gymnasien beispielsweise oder anderen Schularten Anreizsysteme bieten würden – ihr bekommt mehr Ressourcen, ihr bekommt mehr Mittel, ihr bekommt mehr Ausstattung –
Brinkmann: Aber Herr Meidinger, da bleibt ja immer noch die Frage, klar, so ein finanzielles Anreizsystem ist immer schön, aber da bleibt ja immer noch die Frage, wer ist denn ein Migrantenkind? Migrantenkind werden ja auch schon Kinder genannt, deren ein Elternteil einen sogenannten Migrationshintergrund hat. Das sagt ja noch gar nichts über die Leistungsfähigkeit der Kinder aus.
Meidinger: Da sprechen Sie natürlich einen wunden Punkt an. Das heißt also, da gebe ich Ihnen recht, die jetzige Statistik, die jetzigen Kriterien der Erfassung von Kindern mit Migrationshintergrund sind dringend erneuerungsbedürftig. Ich selbst muss immer eine Statistik ausfüllen für Kinder mit Migrationshintergrund an meiner Schule, da muss ich ja sogar meine Österreicher eintragen hier in Bayern, was natürlich ein vollkommener Unfug ist. Ich glaube, wir brauchen schärfere Kriterien, also beispielsweise die Sprachentwicklungsstände, die dann auch eine genauere Auskunft geben, welche Zusammensetzungen von Klassen sinnvoll sind.
"Mehr Ganztagsangebote, bessere Ausbildung, mehr Lehrkräfte."
Brinkmann: Herr Mutlu, könnten Sie denn da vielleicht noch dem Herrn Meininger abschließend zustimmen?
Mutlu: Der Herr Meidinger hat ja auf Ihre Frage gar nicht geantwortet. Wenn ich in den Ballungszentren in bestimmten Schulen mehr Migrantenkinder habe oder Kinder mit Migrationshintergrund habe und wenig Deutsche, müsste ich ja irgendwie mit dem Bus – und deshalb da kommt dieser Begriff Bussing her – müsste ich aus anderen Stadtteilen deutsche Kinder zum Beispiel nach Kreuzberg fahren oder nach Neukölln fahren. Und ich möchte mal sehen, ob der Philologenverband das mitmacht, dass die Deutschen Eltern gezwungen werden per Gesetz, ihre Kinder in anderen Schulen anzumelden, wo der Migrantenanteil hoch ist, und durch diese Maßnahme runtergesetzt werden. Das hilft überhaupt nicht. Die eine Lösung wäre schon – ich komme mal zurück auf das Thema Investitionen –, dass man wirklich wegkommt von der Gießkanne. Da bin ich ja bei Ihnen, Herr Meidinger.
Die Schulen, die belastet sind, die bestimmte Probleme in sich kumulieren, da muss man hingehen und gucken, wie man mit zusätzlichen Lehrkräften, mehr Unterrichtsdeputaten, kleineren Klassen, auch Anreize sicherlich und Verstärkung der Elternarbeit, versucht, diese Schulen zu retten. Und das funktioniert auch. Bei mir im Wahlkreis im tiefsten Moabit gibt es eine Schule, die heißt Heinrich-von-Stephan-Schule, wurde bekannt als das Wunder von Moabit – produziert hervorragende Leistungen. Oder eine andere Schule im Nachbarbezirk Kreuzberg, die Heinrich-Zille-Grundschule: Mitten im tiefsten SO36, so nennen wir diesen Stadtteil, wo der Migrantenanteil so hoch ist, die kann sich vor Anmeldungen nicht retten von deutschen Eltern, weil sie einfach Qualität liefert, weil die Lehrerinnen und Lehrer sehr gut ausgebildet sind, und weil sie Ganztagsangebote haben. Genau das ist die Lösung: Mehr Ganztagsangebote, bessere Ausbildung, mehr Lehrkräfte. Und nur so können wir das Problem lösen. Wir können nicht die Kinder mit dem Bus hin und her fahren, das werden Sie nie durchsetzen können. Das wissen Sie auch, und deshalb kommen auch keine praktikablen Vorschläge.
Brinkmann: Herr Mutlu, ich würde mal sagen, wir haben verstanden – Sie können sich zumindest an der Stelle mit Herrn Meidinger einigen, wenn es darum geht, weniger Gießkannenprinzip. In Sachen Quote werden Sie heute nicht mehr einig. Ich danke Ihnen beiden für das Gespräch!
Mutlu: Danke sehr, schönen Tag noch!
Meidinger: Danke schön auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.