Christiane Florin: Die evangelische Kirche ist eine Heulsuse, Martin Luther würde in Tränen ausbrechen angesichts all der wohlfeilen Wortmeldungen, denen kaum jemand noch zuhört. So sieht es ein Kommunikationsberater, noch dazu ein Katholik. Erik Flügge hat Thesen für einen, wie er es nennt, mutigen Protestantismus der Zukunft veröffentlicht. Das reizt den evangelischen Journalisten Reinhard Mawick aber nicht zum Weinen, sondern zum Widersprechen. Eine Sendung, oder besser: eine Disputation über den Protestantismus von heute.
Gottesdienste – schlecht besucht, weg damit. Bibel – zu oll, muss aktualisiert werden. Protestantische Führungsfiguren – zu soft, ein neuer Reformator, eine neue Reformatorin muss her. So lässt sich in 180 Zeichen zusammenfassen, was der Kommunikationsberater Erik Flügge auf knapp 90 Seiten geschrieben hat. Er ist jetzt bei mir im Studio, Guten Morgen Herr Flügge. Und er macht sich auf einen Streit gefasst.
Sein Mitstreiter bzw. Widerpart ist Reinhard Mawick. Er ist uns von Hannover, als vom evangelischen Epizentrum, aus zugeschaltet. Reinhard Mawick ist Chefredakteur des Magazins "Zeitzeichens" und war bis 2014 Pressesprecher der EKD.
Guten Morgen, Herr Flügge.
Flügge: Guten Morgen.
Florin: Herr Flügge, eine Frage, bevor wir zu den Thesen kommen: Auf dem Cover ihres Buches "Nicht heulen, sondern handeln" sitzt ein Hase in der Ecke. Das sieht ein bisschen nach Kleinkindergottesdienst aus. Warum?
Flügge: Das ist ein Angsthase.
Florin: Weil die evangelische Kirche zu viel heult, zu ängstlich ist, zu wenig die Konfrontation sucht?
Flügge: Ja, ich finde, das ist ja etwas wirklich Auffälliges an vielen protestantischen Positionen: Sie sind sehr sehr differenziert. Das ist ja auch das Schöne. Protestanten sind klug, sind belesen, sind gut informiert. Geben sich sehr häufig Mühe, Sachverhalte sehr genau zu verstehen, aber dann fehlt häufig der letzte Schritt nach dem Verstehen, die ganz mutige Position nach vorne zu tragen, sondern es bleibt eben bei einer mittleren, differenzierten, vorsichtigen Position, die dann häufig mit Ängstlichkeit verwechselt wird.
Florin: Fangen wir an mit dem Gottesdienst: Sie rechnen vor, drei Prozent der Kirchenmitglieder erscheinen noch einigermaßen regelmäßig, kaum einer hört bei der Predigt zu. Und die Leute in den Bänken sind alt. Also Schluss damit, ist es das, was Sie wollen?
Flügge: Man muss, glaub ich, einfach die Realität anerkennen. Die Realität ist nach den eigenen Zahlen der evangelischen Kirche in Deutschland, dass 97 Prozent der evangelischen Christen nicht in den Gottesdienst kommen. An Weihnachten ist es ungefähr ein Drittel, die kommen, aber das ist einmal im Jahr. Das Grundproblem, das dabei auftritt ist nicht, dass es Gottesdienst gibt. Das Grundproblem ist, dass der gesamte innerkirchliche Diskurs sich beständig darum dreht, wie man diese Gottesdienste wieder beleben kann. Das treibt dann Stilblüten. Zum Beispiel waren die Reformierten neulich in einem Fitnessstudio, um dort einen Gottesdienst durchzuführen. Welcher Trugschluss dem zu Grunde liegt ist: Unser Formal Gottesdienst das ist so toll, das hat so viel Gravitationskraft, dass wir es nur irgendwo anders hintragen müssen, weil es die Leute offensichtlich nicht mitbekommen. Ohne zu verstehen: Die Spiritualität der allermeisten evangelischen Christen, die 97 Prozent sind ja nicht unreligiös allesamt und das sind auch nicht alles Menschen, die nicht gläubig sind allesamt, aber das sind Menschen, die eine andere Spiritualität leben und die wollen diesen Gottesdienst nicht.
Deswegen, ja ich bin provokant und sage: Denkt doch mal darüber nach, ob es einen Protestantismus ohne Gottesdienste geben kann. Ich weiß sehr wohl, dass es Gottesdienste weiterhin geben wird, sie werden nicht aufhören. Aber es braucht eben auch einen Protestantismus, der reflektiert, dass die allermeisten Mitglieder eine andere Spiritualität leben.
"Immerhin fast eine Million Menschen"
Florin: Herr Mawick, Gottesdienste im Fitnessstudio, ist das ein Akt der Verzweiflung oder eine Super-Innovation?
Mawick: Also für mich wäre es ein bisschen verzweifelnd, weil ich Angst hätte, dass ich da nicht mitkomme im Fitnessstudio. Aber Spaß beiseite. Ich glaube, es ist ein ehrliches Bemühen, dass wir Gottesdienste in das Leben auch implantieren. Aber das ist ein absoluter Ausnahmefall. Sie wenden sich in Ihrem Buch, Herr Flügge, auch gegen den ganz normalen Gottesdienst. Wo eben viele alte Menschen drinsitzen und das finden Sie ätzend. Das stimmt, das ist häufig so, richtig. Aber das ist überhaupt nichts Neues. Und zwar schon ganz lange, seit Jahrhunderten. Ich finde es auch ein Stückweit normal. Junge Menschen verspüren teils aus naheliegenden Gründen weniger das Bedürfnis, Sonntags um zehn Uhr einen Gottesdienst zu besuchen. Aber trotzdem, was mir ganz wichtig ist: Es gibt ganz, ganz viele Gegenbeispiele, dass auch junge Menschen Gottesdienst feiern.
Und drei Prozent sind immerhin fast eine Million Menschen. Das ist eine ganze Menge. Nicht nur an Heiligabend, auch an anderen Terminen ist es häufig mehr. Ich kann überhaupt nicht verstehen - wie wollen Sie, wollen Sie den flächendeckenden Gottesdienst? Sollen 50 Prozent zum Gottesdienst gehen oder was für Vorbilder haben Sie da?
"Der Gottesdienst ist sakrosankt"
Flügge: Ich mach's einfach mal in Zahlen: Sie haben gerade gesagt, es ist fast eine Million, die in den Gottesdienst kommt. Es sind genau genommen 771 000 Menschen. Ich lege Ihnen mal eine zweite Zahl daneben: Bei der gesamten evangelischen Kirche zusammen mit der Diakonie und allen sozialen Angeboten in Deutschland arbeiten 700 000 Menschen. Das heißt, im Grunde genommen, weil wir ja wissen, dass im Gottesdienst nicht fast alle Mitarbeiter der evangelischen Kirche sind, dass selbst die Leute, die bei der Kirche arbeiten zum allergrößten Teil eben nicht am Sonntagsgottesdienst teilnehmen. Jetzt können Sie mir natürlich das Krankenhaus rausstreichen und sagen, das sind Pflegepersonen und die haben vielleicht auch Schichtdienste. Aber dann nehme ich einfach eine zweite Zahl: Ich nehme die Zahl von 230 000 Menschen. Das sind die Menschen, die direkt bei der evangelischen Kirche arbeiten. Das hieße ja, dass jeden Sonntag in der Kirche ein Drittel der Leute kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sein müssten. Auch das ist nicht der Fall. Das heißt, was ich mit gutem Gewissen sagen kann ist, dass doch offensichtlich der Gottesdienst nicht der Mittelpunkt evangelischer Spiritualität ist. Sondern der Gottesdienst ist eine Variante evangelischer Spiritualität und die allermeisten evangelischen Christen leben eine andere, leben eine direkte, persönliche Beziehung zu Gott.
Darum dreht sich für mich der Diskurs zu wenig. Natürlich ist es auch so, dass auch ältere Leute ihren Gottesdienst haben sollen und auch haben dürfen. Aber Sie wissen selber, dass der härteste Kampf, wenn es auch um Verteilung geht, wenn es um Mittel geht, wenn es um Personalstellen geht, geführt wird und dass eine Sache immer sakrosankt ist und das ist der Gottesdienst und das sind die Pfarrpersonen. Die Stellen werden nicht gekürzt, die werden nicht gestrichen, die werden nicht angegriffen. Weil der Gottesdienst für genau diese Zielgruppe, die sehr mächtig ist, der Mittelpunkt ihrer Spiritualität ist.
"Protestantismus ist nicht nur Kirchlichkeit"
Florin: Ist der Gottesdienst ein solches Prestigeobjekt wie Herr Flügge sagt, eigentlich aber inhaltlich leer?
Mawick: Na, also dem würde ich stark widersprechen. Also zunächst mal über Zahlen kann man natürlich immer reden, aber Gottesdienst feiern hat für mich eine Dimension, die über die reine quantitative Betrachtung hinausgehen muss. Ich glaube zutiefst daran, dass Gottesdienst ein Wert an sich ist und auch die, die nicht kommen und zum Glück bei uns Evangelischen nicht kommen müssen, - deswegen kommen sie auch nicht, wir haben keine Messpflicht -, dass das für die wichtig ist, dass wir Gottesdienst feiert. Evangelische Spiritualität ist weit gefächert, Protestantismus ist auch nicht nur Kirchlichkeit. Aber der Gottesdienst ist ein wesentliches Kennzeichen der evangelischen Kirche, weil da nämlich das geschicht, was Sie auch fordern. In Ihrem Buch habe ich den Eindruck, dass Ihnen das wichtig ist, dass wir weiterdenken. Sie fordern, man solle die Bibel weiterschreiben. Im Idealfall passiert so etwas in einer Predigt, im gemeinsamen Nachdenken über einen Bibeltext, dass man zu neuen Formulierungen kommt. Dafür ist der Gottesdienst wichtig.
Was mir wichtig ist: Das ist überhaupt nichts Neues, dass die Evangelischen nicht zur Kirche gehen, denn sie müssen es nicht und ich finde das gut und einen Freiheitsgewinn, jeder kann seine Neo-Distanz da selber bestimmen. Denn, was im eigenen Seelenkämmerlein geschieht, das ist auch Spekulation. Denn es wäre ja schön, wenn alle eine Million Kirchenmitglieder ein reiches geistiges Leben auch ohne Kirche hätten. Ich glaube, dass das nicht der Fall ist. Ich glaube, dass der Gottesdienst, neben den Vielen, die es wirklich genießen, auch einen stellvertretenden Anspruch und Charakter hat und dass es absurd wäre, wenn die evangelische Kirche ihre Gottesdienste ausdünnen oder gar abschaffen würde.
"Ich mag die evangelische Kirche"
Florin: Herr Flügge, wieso wollen Sie, dass die evangelische Kirche Erfolg hat? Um es in der Beratersprache auszudrücken: Wo sehen Sie das Potenzial?
Flügge: Ich spreche gar keine Beratersprache, ich mag die auch nicht.
Florin: Das Wort Potenzial kommt aber im Buch vor.
Flügge: Ja, natürlich. Aber ich finde, das ist jetzt auch nicht so die mega Beratersprache. Ich mag die evangelische Kirche -
Mawick: Danke. Das finde ich toll.
Flügge: Ich bin auch ernsthaft bemüht darum, dass aus dieser evangelischen Kirche auch weiterhin etwas wird. Sie existiert ja auch schon lange. Ich glaube, sie braucht auch eine Zukunft, weil sie ein wichtiger Beitrag dazu ist, dass in Deutschland auch Diskursvielfalt herrscht und dass nicht nur meine Kirche, die auch häufig Positionen hat, die ich schwierig finde, die Diskurshoheit hat. Was ich sehe, als Potenzial, als große Chance der evangelischen Kirche, ist, wenn neben dem, was Herr Mawick gerade formuliert hat, was der Wert des Gottesdienstes ist, ein zweiter Diskurs im Protestantismus viel stärker wird. Und das ist der, ob die persönlich inspirierte Gott-Mensch-Beziehung nicht alleine stehen kann. Dafür würde ich mir wünschen, dass die evangelische Kirche über den Gottesdienst hinaus offene Formate, Inspiration zu schaffen. Ich mache ein ganz einfaches Beispiel: Es gibt eine ganze Menge Kirchenkonzerte, die sind sehr erfolgreich, da kommen viele Leute. Diejenigen, die dort hingehen sagen immer, der schwierige Teil ist, wenn es noch einen Pfarrer gibt, der dann nochmal kurz was erzählt und erklärt. Dann wird's immer schwierig. Ich glaube, dass wenn jemand in einem Kirchenraum sitzt und der Raum an sich schon schön ist. Herr Mawick, Sie schreiben auch Bücher über Kirchenräume.
Florin: Und singen auch.
Flügge: Genau. Wenn dort Musik erschallt. Dass diese Inspiration erstmal ausreichend groß genug ist, dass jemand eine Annäherung an Gott macht.
"Meine Glaubensphantasie in Wallung setzen lassen"
Mawick: Herr Flügge, da rennen Sie nun bei mir offene Türen ein und es gibt nichts schlimmeres als peinliche Pastoren, die ein Konzertbeginn hinauszögern. Trotzdem finde ich es auch nett, wenn Pastorinnen und Pastoren kurz Guten Tag sagen und auch die Ausführenden begrüßen, aber da müssen wir uns nicht drüber streiten. Aber das ist gerade der Punkt: Gottesbegegnung findet an vielen Orten statt und Kirchenräume werden gerade nicht nur für den agendarischen Zehn-Uhr-Gottesdienst genutzt. Übrigens ein ganz wichtiger Punkt sind die vielen Amsthandlungen, also Taufen, Trauerfeiern, das sind auch ganz intensive Gottesdienste, die immer hintenrüber fallen und die für Menschen oft sehr viel bringen.
Ich will's mal so sagen, für mich ist ein Gottesdienst, der natürlich mal besser oder mal schlechter gelingt, einfach eine wichtige, schöne Stunde vor Gott, die mich sammelt und stärkt und wo ich gerade mich an dem freue, was geboten wird, aber auch an einigen Punkten hängenbleibe und meine Glaubensfantasie in Wallung setzen lasse. Im besten Fall natürlich beides: es gefällt mir und ich komme auch gute Gedanken. Also, das ist einfach eine schöne Stunde vor Gott und ich kenne viele, denen das genauso geht. Natürlich wäre es toll, wenn mehr kämen, aber nicht ohne Grund -
Flügge: Darf ich an einer Stelle einhaken?
Mawick: Nee, nicht bevor ich zitiert habe, dass nicht ohne Grund unser Herr Jesus gesagt hat, wo sich zwei oder drei in meinem Namen versammeln, da bin ich mitten unter ihnen. Das hat wirklich eine Dimension, die wichtig ist.
"Peinlich anpassen"
Flügge: Das, was Sie beschreiben, ist schön. Und das, was Sie beschreiben, ist gut und das, was Sie beschreiben, darf auch sein. Wissen Sie, was ich mir wünschen würde? Dass sie evangelische Kirche, die ja gar keine theologische Notwendigkeit hat, in den Gottesdienst zu kommen - das haben Sie selbst auch schon gesagt - nicht ständig diesen Gottesdienst in den Vordergrund rücken würde und dann nicht jammern würde, dass so wenige kommen. Das findet an allen Stellen statt: oh, es kommen so wenige, wir müssen ins Fitness-Studio, wir brauchen Fußball-Gottesdienste, wir müssen irgendwo anders hin. Wir müssen unser Format irgendwie peinlich anpassen.
Mawick: Herr Flügge, das ist ein bisschen ein Zerrbild. Das war alles vor 20 Jahren viel schlimmer. Im Gegenteil, ich glaube, ein Teil dieser Qualitätsoffensive ist vielleicht furchtbar, aber der größere Teil ist ganz toll. Was in den vergangenen 25 Jahren auch an grundlegender Erneuerungsarbeit auch im Gottesdienst geschehen ist, auch in Zusammenarbeit mit den Kirchentagen, liturgischen Werkstätten. Natürlich kann man immer darüber streiten. Aber dass Sie das einfach als peinlich abqualifizieren. Da habe ich so ein bisschen den Verdacht, Sie kennen das doch nicht richtig.
Florin: Herr Mawick. Dieser Vorwurf: "Sie kennen das doch nicht richtig". Herr Flügge hat auch einige Bücher über die katholische Kirche geschrieben. Sind Sie vielleicht auch deshalb etwas, ja, verschnupft, weil sich ein Katholik in Ihre innere Angelegenheiten einmischt?
Mawick: Überhaupt nicht. Also nochmal: das Wichtigste und das will ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich freue mich total, dass Sie uns eigentlich alles Gute wünschen. Anderseits bin ich so ein bisschen ratlos, dass Sie eigentlich das uns Wichtige abschaffen wollen. Mir ist nicht deutlich und da würde ich jetzt gerne noch drüber sprechen, weil mich das interessiert: Was empfehlen Sie uns denn jetzt? Also wir müssen unbedingt noch zu dem Stichwort des Propheten, der Prophetin kommen, die Sie uns so als Heilmittel empfehlen in Ihrem Buch. Das finde ich sollten wir den Hörerinnen und Hörern nicht vorenthalten.
"Es mangelt an lebenden Identifikationsfiguren"
Florin: Ja, das hatte ich auch vor. Denn Erik Flügge, Sie wünschen sich einen neuen Reformator, eine neue Reformatorin, eine Person, die aneckt, die zornig ist, die nicht kompromissbereit ist - so schreiben Sie ausdrücklich -, die aber von allen gewählt werden muss. Die also um eine Mehrheit kämpfen muss. Wozu diese Person?
Flügge: Ich glaube, dass eines der Hauptprobleme des Protestantismus ist, dass es an einer lebenden Identifikationsfigur mangelt. Ich fand es ganz bezeichnend, im Lutherjahr, also im 500. Reformationsjubiläum, dass man all diese vielen Veranstaltungen hat, kommt doch nach Wittenberg und dass man Martin Luther in den Mittelpunkt gerückt hat, aber wenn ich nach Wittenberg fahre, dann ist Luther nicht da, denn Luther ist tot. Herr Mawick, von Ihnen gibt es auch Video in so einer Luther-Box und ich verstehe, dass man Martin Luther so stark in den Mittelpunkt rückt und sagt, das ist halt eine ganz wichtige Figur. Aber sie kann nicht die einzige wichtige Figur bleiben. Und wenn ich mir dann anschaue, dass Margot Käßmann als eine prominente Person und mit Sicherheit auch streitbare Person, bis heute, wenn sie eine Bibelarbeit anbietet auch Hallen füllt und einfach Menschen begeistert, dann hat das damit zu tun, dass sie frei sprechen kann. Weil sie irgendwann mal ihr Amt verloren hat, weil sie nicht gebunden ist an Beschlüsse. Das macht Frau Käßmann wirklich spannend, sie ist spannender geworden, seit sie ihr Amt verloren hat.
Ich glaube, dass das ja nicht zur Institution lassen machen kann, dass jemand mal mit Alkohol fährt und deswegen sein Amt verlieren muss, sondern dass es andere Wege braucht, solche freien Sprecherollen nach dem inneren Organisationsmechanismus des Protestantismus zu entwickeln. Deswegen würde ich mir wünschen, dass sich der Protestantismus so eine Art Bundespräsidenten gibt, also eine Person, die alle wählen und die dann sagt, ich treibe jetzt mal fünf Jahre lang eine These voran und ihr könnt euch dann auch über mich aufregen, aber nach fünf Jahren ist dann auch Schluss.
"Sie suchen einen Superstar!"
Florin: Herr Mawick, Sie waren mal Pressesprecher von Margot Käßmann. Hand aufs protestantische Herz: Wie groß ist die Lücke, die sie nach ihrem Abschied vom Amt hinterlassen hat?
Mawick: Alle hervorragenden Ratsvorsitzenden der Vergangenheit hinterlassen Lücken. Ob das Wolfgang Huber, Margot Käßmann oder Nikolaus Schneider sind, mit denen habe ich allen gearbeitet. Aber es ist ja so: Ich verstehe das so, Herr Flügge, ich habe ein bisschen den Eindruck, dass Ihnen bei uns doch ein bisschen der Papst fehlt. Aber ich muss Gegenfragen, wer ist denn die tolle Persönlichkeit für die deutsche katholische Kirche? Es ist nunmal ein Kennzeichen der evangelischen Kirche, dass wir nicht so auf Spitzenfiguren setzen und das klingt jetzt wieder so staatstragend, aber das liegt mir ganz am Herzen. in der Barmer Theologischen Erklärung, in einem ganzen Zusammenhang natürlich, steht, dass die verschiedenen Ämter in der Kirche - ich weiß jetzt nicht, wie es genau heißt - keine Herrschaft der einen über den anderen begründen, sondern die Ausübung der ganzen Gemeinde empfohlenen Dienst - da können Sie jetzt sagen: blabla, Kirchensprech: Aber da ist was ganz wichtiges festgehalten: Dass wir eben nicht auf Führungspersonen setzen und mit dem Führerprinzip haben wir in der evangelischen Kirche wirklich schlechte Erfahrungen gemacht. Das meinen Sie natürlich nicht so.
Aber ich glaube, dass das ein urkatholischer Gedanke des monarchischen Episkopats ist, der wirklich nicht zu uns passt. Sie suchen auch einen Superstar, sie suchen keinen Propheten, denn die Propheten, wenn sie die biblischen Propheten nehmen, die galten gar nicht viel im eigenen Lande. Also das ist gar nicht so der Job, glaub ich, den sie da umschreiben.
"Käßmann ist bekannter als Bedford-Strohm"
Flügge: Wissen Sie, Sie können diese Position haben, die Sie da vertreten, aber sie macht Ihnen ein Problem. Das Problem zeigt sich an folgender Stelle: Wann immer der Katholizismus einen Skandal produziert und wir beide wissen, dass das ausreichend häufig leider Gottes passiert. Wann immer der Katholizismus einen Skandal produziert treten mehr Menschen aus der evangelischen Kirche aus als aus der katholischen.
Mawick: Das ist nicht gesichert. Aber ich weiß, was Sie meinen. Das Prinzip ist klar, weil ganz viele Menschen das für sich nicht unterscheiden. Das ist eine religionssoziologische Frage, dass das so ist. Was wollen Sie jetzt damit sagen?
Flügge: Die können nicht differenzieren zwischen den Kirchen, weil in einer medial vermittelten Welt, in der wir heute leben eben, die starke Sprecherfigur, die starke Sprecherin des Protestantismus fehlt. Die man zweifelsohne damit verknüpft. Im Augenblick würde ich sagen, die prominenteste Protestantin in Deutschland ist Margot Käßmann. Ihre Prominenz reicht weit über die von Heinrich Bedford-Strohm als EKD-Ratsvorsitzenden hinaus und das hat damit zu tun, dass sie so frei sprechen kann.
Mawick:: Frei sprechen können die alle. Wir sind in eine freien Land und ich sage ich eins: Zwei Protestanten, drei Meinungen. Da habe ich als Pressesprecher eine große Erfahrung, dass da auch intern wenig ein Blatt vor den Mund genommen wird. Das ist für einen Pressesprecher stressig, aber toll an dieser Kirche. Da sind Sie glaube ich auf dem Holzweg. Sie meinen etwas Anderes. Dieses Synodenprinzip, dass die sich auf dem Papier immer einigen wollen. Das ist dann als Papier oft langweilig, das gebe ich zu, jedenfalls für eine Meidenöffentlichkeit. Das ist aber in der Sache oft gut. Auf Synoden wird ganz schön gestritten. Die Synoden kommen bei Ihnen schlecht weg.
Mehr heiliger Zorn?
Herr Flügge: Man hört es heraus. Da schwingt der Vorwurf mit, dass Sie etwas Autoritäres suchen, dass Sie den Kompromiss diskretieren, dass Sie sich jemand wünschen, der auf den Tisch haut und sagt: So Leute ist es, also: Heiliger Zorn.
Flügge: Der letzte oder vorletzte Satz meines Buches ist: Machen Sie um Gottes Willen nicht den Fehler und geben Sie einer prominenten Person die alleinige Macht. Das ist genau der falsche Vorwurf. Ich suche nicht nach Autorität. Ich suche nach Bekanntheit. Der Grund dafür ist, dass es genau diese Wahrnehmungsdifferenz vom Anfang unseres Gespräches zwischen Herrn Mawick und mir gibt. 97 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder kommen nicht in den Gottesdienst, das heißt, sie hören keine Predigt an. Sie hören keine Bibelinterpretation. Sie hören keine theologischen Texte an. Sie könnten die nur erfahren, wenn sie medial vermittelte Persönlichkeiten sehen. Bei den Katholiken ist das ein lauter und streitbarer Papst, der regelmäßig in den Medien stattfindet, und von dem bekommen Sie etwas mit.
Mawick: Wenig Bibelauslegung, ehrlich gesagt.
Flügge: Aber mit Positionierungen.
Mawick: Da war der Vorgänger ausführlicher.
Flügge: Bibelauslegung ist kein typisch katholisches Phänomen. Aber das Grundproblem ist doch, dass auch die evangelischen Christen als einzige kirchliche Stimme im Wesentlichen den Papst wahrnehmen. Und sich zu Recht über viele dieser Positionen ärgern, ohne grundsätzlich die Gegenposition ihrer eigenen Kirche in der gleichen Lautstärke zu hören.
Mawick: Wir haben immer gesagt: Der Papst ist manchmal nicht der Sprecher der ganzen Christenheit, aber Sprecher der ganzen Menschheit. Natürlich wird er so wahrgenommen als oberster christlicher Repräsentant. Aber jetzt mal auf der Ebene drunter: Ich kann überhaupt nicht finden, dass unser Ratsvorsitzender Bedford-Strohm viel unbekannter ist als Kardinal Marx. Wenn Kardinal Marx mehr in den Medien ist, dann liegt das eher an den schon angesprochenen Skandalen und darauf würde er sicher gern verzichten. Ich würde von Ihnen gern mal hören, Herr Flügge: Wer soll das mal machen? Fällt Ihnen jemand ein. Abgesehen davon: Alle Protestanten sollen ihn wählen. Wir müssen jetzt nicht auf Verfahrensfragen kommen, ist ja eine witzige Idee.
Florin: Also: Wer soll’s sein, Herr Flügge?
Flügge: Genau das ist der Punkt. Ich soll es jetzt festlegen für euch. Ich werde den Teufel tun...
Mawick: Regen Sie mich an.
Flügge: Ich glaube, wenn man ein Verfahren eröffnet, wenn man tatsächlich eine Kandidatur ermöglich, dann finden sich Leute, die kandidieren. Das ist in der Politik nicht anders. Wenn es keine Ämter gäbe, für die man kandidieren kann, könnten sich auch keine Personen finden, die um diese ringen, für diese kämpfen.
Mawick: Wahrscheinlich wird sich die "Bild" dann erst mal den Mund darüber zerreißen, wie viel Geld der oder die kriegt oder nicht kriegt.
Flügge: War das schlimm?
Mawick: Ich weiß nicht, ob das der Sache unbedingt dient, dass wir einen Ersatzbundespräsidenten haben.
Florin: Herr Mawick, welcher Satz fällt Ihnen ein, von dem Sie sagen: Das ist protestantisch, inspirierend, provokant. Darüber wird breit gesellschaftlich dabattiert.
Mawick: Die Kirche steht für Gerechtigkeit und sie steht dafür, dass wir Menschen uns gewiss sind, dass wir nicht die Herren unseren Lebens sind, dass da noch ein anderer über uns ist. Also dieses religiöse Grundgefühl. Ansonsten Protestantinnen und Protestanten haben keine einheitlichen Positionen. Das ist ja gerade das Schöne. Man kann als Protestant mit guten Gründen das eine und genau das Gegenteil vertreten. Wir haben früher immer bei der EKD gesagt: Wir wollen nicht Politik machen, sondern Politik möglich machen durch Gewissensschärfung. Das gelingt nicht immer, viele ärgern sich dann auch über politische Äußerungen der Kirche, besonders, wenn sie nicht der eigenen Meinung entsprechen. Aber es gibt die grundlegende Botschaft: Du bist ein Geschöpf Gottes, du bist geliebt bei Gott, Gott ist bei dir, wenn du schuldig wirst, bist du nicht verloren. Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand hat Margot Käßmann gesagt.
Flügge: Aber das ist doch keine Debatte. Eine Debatte ist, wenn Margot Käßmann sagt: Wir sollen radikal pazifistisch sein. Das war spannend.
Florin: Herr Flügge, wann würden Sie sagen: Meine Provokation war erfolgreich? Oft ist es nicht so einfach, Protestanten zu provozieren. Oft heißt es: "Danke für die interessante Anregung, ich kann das gut hören, weiter mit Tagesordnungspunkt 5 b."
Flügge: Deswegen habe ich eine sehr provokante Schrift geschrieben. Um darüber hinwegzukommen, dass man sich nur bedankt. Ich mag nicht, wenn man etwas kritisiert und es dann mit "Danke und nächster Punkt" weitergeht. Deshalb freue ich mich, dass Herr Mawick mit mir streitet.
Mawick: Das haben Sie bei uns mal ganz schön beschrieben.
Florin: Nochmal: Was wäre die Provokation, die zündet?
Flügge: Der Punkt ist erreicht, wenn der Protestantismus nicht seine Gottesdienste am Ende abschafft, sondern dazu kommt , über die Spiritualität der 97 Prozent, die nicht in den Gottesdienst kommen, ernsthaft nachzudenken, eigene Räume formt und Personal zugesteht. Das wäre großartig.
Florin: Vielen Dank an Sie beide.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Erik Flügge: Nicht heulen, sondern handeln. München, Kösel 2019. 90 Seiten, 12 Euro.