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Streitkultur in der Corona-Pandemie
"Wir brauchen einen freieren Dialog"

Der Bildungshistoriker Jürgen Overhoff kritisiert eine fehlende Freiheit im Diskurs über die Corona-Politik der Bundesregierung. "Wir brauchen das Selbstbewusstsein, Dinge auszusprechen, ohne im Verdacht zu stehen, dass wir komische Typen sind", sagte Overhoff, der zu den Initiatoren des "Manifest der offenen Gesellschaft" gehört.

Jürgen Overhoff im Gespräch mit Kolja Unger |
Eine Gruppe von Menschen steht in einer Sprechblase.
Bei der Frage, wie wir mit der Pandemie leben und wie wir mit Krankheiten und der Bedrohung umgehen, sei mehr Mut gefragt, fordert der Bildungshistoriker Jürver Overhoff. (imago / Gary Waters)
Die Bewältigung der Corona-Pandemie beschäftigt hierzulande nicht nur Politiker, Wissenschaftler und Gelehrte, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger. Die Diskussionen und Debatten sind kontrovers und spalten gar Familien und Freunde. Wer öffentlich die Corona-Maßnahmen, die dem Allgemeinwohl dienen, infrage stellt, macht sich verdächtig. Doch bei der Frage, wie wir mit der Pandemie leben und wie wir auch mit Krankheiten und der Bedrohung umgehen, sei mehr Mut gefragt, fordert der Bildungshistoriker Jürgen Overhoff.
"Wir haben auch verschiedene Mittel, die wir diskutiert haben, zum Beispiel Lockdown, Ausgangssperren, einsperren, abschotten oder Schnelltests, die jetzt wirklich ein bisschen spät, aber stark diskutiert werden, auch Apps, dass wir uns einloggen können in Geschäfte oder ins Theater, dass wir einfach wieder das Leben leben lernen, in die Öffentlichkeit kommen und die offene Gesellschaft als solche auch leben lernen", sagte Jürgen Overhoff im Dlf. Dauerhaft wünsche er sich diese Kontrolle nicht, im Moment sei dies aber wichtig, um "erst einmal weiterzukommen". Aber, so Overhoff, "wir müssen Wege finden, mit diesen Bedrohungen umzugehen".

"Manifest der offenen Gesellschaft" veröffentlicht

Overhoff veröffentlichte gemeinsam mit prominenten Vertretern aus Wissenschaft, Kultur und Politik in der Wochenzeitschrift "Der Freitag" und "Die Welt" eine Art Manifest für die offene Gesellschaft. Doch wo ist die Grenze des Sagbaren erreicht? "Wir haben in dem Manifest gesagt, wir brauchen einen freieren Dialog. Auf der einen Seite war er beängstigend frei. Wir erinnern uns an den Herbst des vergangenen Jahres, da hat der Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach gesagt, es dürfe die Unverletzbarkeit der Wohnung kein Argument sein, um Kontrollen durchzuführen. Das hat er dann ein wenig korrigiert anschließend. Aber das war für mich eine erschütternde Aussage", sagte Jürgen Overhoff und nannte weitere Beispiele, wie die Forderung des saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans (CDU) Anfang 2021 keine Denkverbote bei Ausgangssperren zu haben. Da gehe es um sehr entscheidende Grundrechte, die ausgehebelt werden, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. "Das rührt an Dinge, wo ich sage, wenn die komplett ausgehebelt werden, ist es schon schwierig."
Faust eines Mannes gegenüber der Hand einer Frau mit Herz.
Austausch von Argumenten statt vergiftetem Diskurs Eine Gruppe von Intellektuellen will die Kritik an der Pandemie-Politik nicht selbst ernannten "Querdenkern" überlassen. In ihrem "Manifest der offenen Gesellschaft" plädiert sie für eine Debatte "auf Augenhöhe".
Der Bildungshistoriker nahm im Deutschlandfunk auch Bezug auf ein Zitat der Philosophin Svenja Flaßpöhler, die ebenfalls ein Statement geschrieben hat. Sie schreibt, "dass inzwischen Freunde raten, sich besser nicht kritisch zur Corona-Politik der Bundesregierung zu äußern, weil man so leicht den eigenen Ruf ruiniere und die rechte Ecke gestellt werden kann. Das bereitet mir große Sorge. Wenn wir verlernen oder uns nicht trauten, differenzierte Kritik zu äußern, gefährden wir das Kernprinzip der Demokratie und stärken ihre Feinde." Und genau diese fehlende Freiheit wolle man zurück, so Overhoff.
Stillgestanden! Schaffen wir Ruhe? Deutschland im Shutdown. Corona hat uns ausgebremst. Doch wohin führt uns der erzwungene Stillstand? Ist er eine Chance zur Besinnung oder doch eher Bedrohung und Gefahr? Darüber debattieren die Philosophen Svenja Flaßpöhler und Ralf Konersmann.

"Brauchen Freiheit und Selbstbewusstsein Dinge auszusprechen"

"Wir brauchen diese Freiheit und das Selbstbewusstsein, Dinge auszusprechen, ohne im Verdacht zu stehen, dass wir komische Typen sind, Extremisten, Verschwörungstheoretiker. Und deswegen haben wir mit dem Manifest den Versuch unternommen, eine ganze Menge von Menschen zusammenzubringen, die eben nicht in diesem Verdacht stehen." Unter den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern sind unter anderem der Schauspieler Volker Bruch, die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal sowie die ehemalige Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Sie sage für die Politik, dass man mittlerweile dreimal überlege, was man sage und wie man es sage. Das sei jetzt in der Corona-Pandemie natürlich verstärkt worden.
Overhoff plädiert dafür, anderen wieder besser zuzuhören - auch in der Zuspitzung der Argumente - und jemanden, der anders denkt, nicht zu schnell zu etikettieren und mit einem Label zu versehen. "Eine bestimmte Form der Polarisierung, die in ein Schwarz-Weiß-Denken führt, die wird irgendwann gefährlich. Und warum? Weil man ab einem bestimmten Punkt sich nicht mehr gut genug bis zum Ende zuhört, was man zu sagen hat und zu früh abwinkt", sagte der Bildungshistoriker im Dlf.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)