Besonders Eindrucksvolles kommt oft da zustande, wo jemand bedrängende Erfahrungen produktiv zu verarbeiten vermag. Ein Beleg dafür ist der 1998 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnete Ökonom und Philosoph Amartya Sen, dessen Stimme ungeachtet seiner glanzvollen Karriere im Westen immer auch eine Stimme aus der Dritten Welt geblieben ist. Er sei auf einem Universitätscampus zur Welt gekommen und habe in gewisser Weise sein ganzes Leben auf dem einen oder anderen Campus verbracht, begann der 1933 in Bengalen Geborene mit leichter Selbstironie den autobiografischen Abriss, den er dem Nobelpreiskomitee zur Verfügung stellte. Doch diese Existenzweise schützte ihn nicht vor Eindrücken, die ihn vor der Realitätsferne vieler seiner Fachkollegen bewahrten.
Als Zehnjähriger erlebte er die Hungerkatastrophe des Jahres 1943 in Bengalen mit zwei bis drei Millionen Toten. Im Jahr darauf kam es zu einer direkteren, für ihn persönlich traumatischeren Erfahrung. In Sens jüngst erschienenem Buch wird sie angesichts neuer weltweit zu beobachtender Trends zum zentralen Motiv seiner Analyse entwicklungshemmender und entwicklungsfördernder Faktoren.
"Meinen ersten Mord erlebte ich mit elf Jahren. Das war 1944 während der Zusammenstöße zwischen Hindus und Muslimen, zu denen es immer wieder kam während der letzten Jahre der britischen Herrschaft [ ... ]. Plötzlich erblickte ich einen Unbekannten, der blutüberströmt durch das Tor in unseren Garten taumelte und um Hilfe und etwas Wasser bat. [ ... ] Mein Vater brachte ihn sofort ins Krankenhaus, aber er erlag dort seinen Verletzungen. Sein Name war Kader Mia.
[ ... ] Kader Mia war Muslim, und alle anderen Identitäten zählten nicht für die üblen Hindu-Schläger, die sich auf ihn gestürzt hatten. An jenem Tag des Aufruhrs brachten sich Muslime und Hindus gegenseitig zu Hunderten um, und so sollte es noch tagelang weitergehen.
Das plötzliche Gemetzel, scheinbar aus heiterem Himmel, war [ ... ] angestiftet von Fanatikern, die mit allen Mitteln die Teilung des Landes herbeiführen wollten. Die mörderischen Zusammenstöße ließen bald nach, und kaum war Bengalen geteilt, verflüchtigte sich auf beiden Seiten jede Spur davon. [ ... ] Wenige Jahre später wußte meine Heimatstadt Dhaka sich gar nicht zu lassen vor bengalischem Patriotismus, und das, was den Muslimen und Hindus gemeinsam war - die bengalische Sprache, Literatur, Musik und Kultur - wurde begeistert gefeiert."
Das schockierende Kindheitserlebnis hat wesentlich dazu beigetragen, den erfolgreichen Weltbürger mit indischem Pass zum scharfsichtigen Interpreten und Kritiker gegenwärtiger Konflikte zu machen. Sowohl der plakative Titel der deutschen Ausgabe - "Die Identitätsfalle" - wie der Originaltitel von Sens jüngstem Buch - "Identity and Violence" - verweisen auf den Zusammenhang fanatischer Gewalt mit der Reduktion "vieldimensionaler Menschen" auf "eindimensionale Kreaturen".
Sens Grundgedanke entspringt der Alltagserfahrung. Gefragt, wer wir sind, würden wir je nach Situation Verschiedenes angeben, denn wir sind vieles, fallen unter eine Fülle von Kategorien, vereinigen zahlreiche Zugehörigkeiten, haben viele Identitäten. Sen zählt, sich als Beispiel nehmend, eine halbe Seite lang unter anderem auf: Bürger Indiens, Bengale und Einwohner der USA oder Englands, Heterosexueller und Verfechter der Rechte von Schwulen und Lesben, mit einem irreligiösen Lebensstil und hinduistischer Vorgeschichte. Was davon welchen Grad der Priorität hat, hängt im Normalfall auch von Vernunft und mehr oder weniger freier Entscheidung ab. Wo wir auf eine einzige Identität festgelegt werden und diese Identität zudem noch als schicksalhaft und unentrinnbar hingestellt wird, wird unsere Spielräume eröffnende Zugehörigkeit zu einer Welt vielfältiger und sich überschneidender Identitäten ignoriert. Wie schon als Ökonom so warnt Sen nun als Zeitdiagnostiker vor der Gefahr zu großer Vereinfachungen. Sein Grundgedanke erweist sich als Schlüssel zur praktisch relevanten Interpretation aktueller Probleme in den Beziehungen nicht nur zwischen Individuen, sondern auch zwischen Kollektiven.
"Desgleichen gibt es keinen empirischen Grund dafür, dass Anhänger der muslimischen Vergangenheit oder auch des arabischen Erbes sich ausschließlich auf religiöse Fragen konzentrieren müßten - und nicht auch auf Wissenschaft und Mathematik, wozu arabische und muslimische Gesellschaften so vieles beigetragen haben und was ebenfalls Bestandteil einer muslimischen oder arabischen Identität sein kann. So bedeutsam dieses Erbe auch ist, neigten krude Einteilungen doch dazu, Wissenschaft und Mathematik der 'westlichen Wissenschaft' zuzuordnen, so dass anderen Völkern nichts anderes übrigblieb, als ihren Stolz in den Tiefen der Religion zu suchen. Wenn der unzufriedene arabische Aktivist heute nur auf die Reinheit des Islam stolz sein kann und nicht auch auf den mannigfaltigen Reichtum der arabischen Geschichte, trägt die einseitige Vorrangstellung, welche die Krieger auf beiden Seiten der Religion einräumen, nur dazu bei, Menschen in eine einzige Identität einzusperren."
Die faktische Dominanz des Westens und die Suggestivkraft eines westlichen Selbstbildes, das alles Fortschrittliche für sich in Anspruch nimmt, haben einen fatalen Effekt. Das Selbstverständnis nicht-westlicher Gesellschaften und Kulturen neigt zur Fixierung und Beschränkung auf das, was anders ist als dieser Westen. Das verstellt den unbefangenen Blick auf den eigenen Reichtum und die lange Geschichte des Zusammenspiels und der gegenseitigen Bereicherung von Gesellschaften und Kulturen. Das Zustandekommen und die verhängnisvollen Folgen "reaktiver" nicht-westlicher Identitäten legt Sen in einem "Westen und Antiwesten" überschriebenen Kapitel dar, das einen der Höhepunkte seines Buches bildet. Die Ablehnung von Demokratie und persönlicher Freiheit beispielsweise, nur weil sie als "westliche" Ideen gelten, verkenne, so Senn, deren weltweite Vor- und Entstehungsgeschichte und lasse autoritäre Regime und internationalen Terrorismus gedeihen.
Zu den Handlungsempfehlungen, die sich aus Sens Kritik an verengten Sehweisen ergeben, gehört überaus Bedenkenswertes für den Umgang gerade auch mit dem Revival der Religionen.
"Die zunehmende Tendenz, sich bei der Einteilung der Weltbevölkerung auf die Religion zu stützen, könnte zur Folge haben, dass der Westen auf den globalen Terrorismus und die damit verbundenen Konflikte ausgesprochen ungeschickt reagiert. [ ... ] Die ausschließliche Konzentration auf den großen religiösen Unterschied bedeutet nicht nur, dass man andere Anliegen und Ideen, welche die Menschen bewegen, übersieht, sondern hat obendrein zur Folge, dass die Äußerungen religiöser Autoritäten generell aufgebauscht werden. Man behandelt dann die muslimischen Geistlichen so, als seien sie die offiziellen Sprecher der sogenannten islamischen Welt, obwohl sehr viele Menschen, die zufällig muslimischer Religion sind, mit dem, was der eine oder andere Mullah verkündet, überhaupt nicht einverstanden sind."
Das ist ohne jeglichen antireligiösen Affekt vorgetragen und entspringt der Einschätzung und Wertschätzung von Menschen als komplexen Persönlichkeiten mit vielen verschiedenen Zugehörigkeiten und dementsprechend vielfältigen Chancen zu Verständigung und produktiver Konfliktaustragung. Die Reduktion auf eine Identität dagegen, und sei es die vermeintlich über das Heil entscheidende religiöse Identität, macht Menschen, so zeigt Sen, zur Verfügungsmasse einer engstirnigen und oft korrupten Tagespolitik, die sich den Anstrich eines erhabenen Schicksals gibt.
Die bei allem Engagement eher locker vorgetragenen empirischen Befunde, plausiblen Analysen und erhellenden Interpretationen haben etwas geradezu Befreiendes. Sie demonstrieren dem Leser: Vereinfachungen und Einseitigkeiten sind verführerisch, doch die größere Überzeugungskraft und die Chance zu umsichtigem Handeln entspringen der Besinnung auf den Reichtum menschlichen Lebens.
Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt
Aus dem Englischen von Friedrich Griese
Verlag C.H. Beck, 2007
224 Seiten, 19,90 Euro
Als Zehnjähriger erlebte er die Hungerkatastrophe des Jahres 1943 in Bengalen mit zwei bis drei Millionen Toten. Im Jahr darauf kam es zu einer direkteren, für ihn persönlich traumatischeren Erfahrung. In Sens jüngst erschienenem Buch wird sie angesichts neuer weltweit zu beobachtender Trends zum zentralen Motiv seiner Analyse entwicklungshemmender und entwicklungsfördernder Faktoren.
"Meinen ersten Mord erlebte ich mit elf Jahren. Das war 1944 während der Zusammenstöße zwischen Hindus und Muslimen, zu denen es immer wieder kam während der letzten Jahre der britischen Herrschaft [ ... ]. Plötzlich erblickte ich einen Unbekannten, der blutüberströmt durch das Tor in unseren Garten taumelte und um Hilfe und etwas Wasser bat. [ ... ] Mein Vater brachte ihn sofort ins Krankenhaus, aber er erlag dort seinen Verletzungen. Sein Name war Kader Mia.
[ ... ] Kader Mia war Muslim, und alle anderen Identitäten zählten nicht für die üblen Hindu-Schläger, die sich auf ihn gestürzt hatten. An jenem Tag des Aufruhrs brachten sich Muslime und Hindus gegenseitig zu Hunderten um, und so sollte es noch tagelang weitergehen.
Das plötzliche Gemetzel, scheinbar aus heiterem Himmel, war [ ... ] angestiftet von Fanatikern, die mit allen Mitteln die Teilung des Landes herbeiführen wollten. Die mörderischen Zusammenstöße ließen bald nach, und kaum war Bengalen geteilt, verflüchtigte sich auf beiden Seiten jede Spur davon. [ ... ] Wenige Jahre später wußte meine Heimatstadt Dhaka sich gar nicht zu lassen vor bengalischem Patriotismus, und das, was den Muslimen und Hindus gemeinsam war - die bengalische Sprache, Literatur, Musik und Kultur - wurde begeistert gefeiert."
Das schockierende Kindheitserlebnis hat wesentlich dazu beigetragen, den erfolgreichen Weltbürger mit indischem Pass zum scharfsichtigen Interpreten und Kritiker gegenwärtiger Konflikte zu machen. Sowohl der plakative Titel der deutschen Ausgabe - "Die Identitätsfalle" - wie der Originaltitel von Sens jüngstem Buch - "Identity and Violence" - verweisen auf den Zusammenhang fanatischer Gewalt mit der Reduktion "vieldimensionaler Menschen" auf "eindimensionale Kreaturen".
Sens Grundgedanke entspringt der Alltagserfahrung. Gefragt, wer wir sind, würden wir je nach Situation Verschiedenes angeben, denn wir sind vieles, fallen unter eine Fülle von Kategorien, vereinigen zahlreiche Zugehörigkeiten, haben viele Identitäten. Sen zählt, sich als Beispiel nehmend, eine halbe Seite lang unter anderem auf: Bürger Indiens, Bengale und Einwohner der USA oder Englands, Heterosexueller und Verfechter der Rechte von Schwulen und Lesben, mit einem irreligiösen Lebensstil und hinduistischer Vorgeschichte. Was davon welchen Grad der Priorität hat, hängt im Normalfall auch von Vernunft und mehr oder weniger freier Entscheidung ab. Wo wir auf eine einzige Identität festgelegt werden und diese Identität zudem noch als schicksalhaft und unentrinnbar hingestellt wird, wird unsere Spielräume eröffnende Zugehörigkeit zu einer Welt vielfältiger und sich überschneidender Identitäten ignoriert. Wie schon als Ökonom so warnt Sen nun als Zeitdiagnostiker vor der Gefahr zu großer Vereinfachungen. Sein Grundgedanke erweist sich als Schlüssel zur praktisch relevanten Interpretation aktueller Probleme in den Beziehungen nicht nur zwischen Individuen, sondern auch zwischen Kollektiven.
"Desgleichen gibt es keinen empirischen Grund dafür, dass Anhänger der muslimischen Vergangenheit oder auch des arabischen Erbes sich ausschließlich auf religiöse Fragen konzentrieren müßten - und nicht auch auf Wissenschaft und Mathematik, wozu arabische und muslimische Gesellschaften so vieles beigetragen haben und was ebenfalls Bestandteil einer muslimischen oder arabischen Identität sein kann. So bedeutsam dieses Erbe auch ist, neigten krude Einteilungen doch dazu, Wissenschaft und Mathematik der 'westlichen Wissenschaft' zuzuordnen, so dass anderen Völkern nichts anderes übrigblieb, als ihren Stolz in den Tiefen der Religion zu suchen. Wenn der unzufriedene arabische Aktivist heute nur auf die Reinheit des Islam stolz sein kann und nicht auch auf den mannigfaltigen Reichtum der arabischen Geschichte, trägt die einseitige Vorrangstellung, welche die Krieger auf beiden Seiten der Religion einräumen, nur dazu bei, Menschen in eine einzige Identität einzusperren."
Die faktische Dominanz des Westens und die Suggestivkraft eines westlichen Selbstbildes, das alles Fortschrittliche für sich in Anspruch nimmt, haben einen fatalen Effekt. Das Selbstverständnis nicht-westlicher Gesellschaften und Kulturen neigt zur Fixierung und Beschränkung auf das, was anders ist als dieser Westen. Das verstellt den unbefangenen Blick auf den eigenen Reichtum und die lange Geschichte des Zusammenspiels und der gegenseitigen Bereicherung von Gesellschaften und Kulturen. Das Zustandekommen und die verhängnisvollen Folgen "reaktiver" nicht-westlicher Identitäten legt Sen in einem "Westen und Antiwesten" überschriebenen Kapitel dar, das einen der Höhepunkte seines Buches bildet. Die Ablehnung von Demokratie und persönlicher Freiheit beispielsweise, nur weil sie als "westliche" Ideen gelten, verkenne, so Senn, deren weltweite Vor- und Entstehungsgeschichte und lasse autoritäre Regime und internationalen Terrorismus gedeihen.
Zu den Handlungsempfehlungen, die sich aus Sens Kritik an verengten Sehweisen ergeben, gehört überaus Bedenkenswertes für den Umgang gerade auch mit dem Revival der Religionen.
"Die zunehmende Tendenz, sich bei der Einteilung der Weltbevölkerung auf die Religion zu stützen, könnte zur Folge haben, dass der Westen auf den globalen Terrorismus und die damit verbundenen Konflikte ausgesprochen ungeschickt reagiert. [ ... ] Die ausschließliche Konzentration auf den großen religiösen Unterschied bedeutet nicht nur, dass man andere Anliegen und Ideen, welche die Menschen bewegen, übersieht, sondern hat obendrein zur Folge, dass die Äußerungen religiöser Autoritäten generell aufgebauscht werden. Man behandelt dann die muslimischen Geistlichen so, als seien sie die offiziellen Sprecher der sogenannten islamischen Welt, obwohl sehr viele Menschen, die zufällig muslimischer Religion sind, mit dem, was der eine oder andere Mullah verkündet, überhaupt nicht einverstanden sind."
Das ist ohne jeglichen antireligiösen Affekt vorgetragen und entspringt der Einschätzung und Wertschätzung von Menschen als komplexen Persönlichkeiten mit vielen verschiedenen Zugehörigkeiten und dementsprechend vielfältigen Chancen zu Verständigung und produktiver Konfliktaustragung. Die Reduktion auf eine Identität dagegen, und sei es die vermeintlich über das Heil entscheidende religiöse Identität, macht Menschen, so zeigt Sen, zur Verfügungsmasse einer engstirnigen und oft korrupten Tagespolitik, die sich den Anstrich eines erhabenen Schicksals gibt.
Die bei allem Engagement eher locker vorgetragenen empirischen Befunde, plausiblen Analysen und erhellenden Interpretationen haben etwas geradezu Befreiendes. Sie demonstrieren dem Leser: Vereinfachungen und Einseitigkeiten sind verführerisch, doch die größere Überzeugungskraft und die Chance zu umsichtigem Handeln entspringen der Besinnung auf den Reichtum menschlichen Lebens.
Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt
Aus dem Englischen von Friedrich Griese
Verlag C.H. Beck, 2007
224 Seiten, 19,90 Euro