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Stress bei Jugendlichen
"Ein System, das Erwachsene den Schülern vorgelebt haben"

Neunjährige, die glauben, ihr Leben sei gelaufen, wenn sie den Übergang ins Gymnasium nicht schaffen. Abiturienten, für die ein Abitur unter 1,5 nichts wert ist. Solche Erscheinungen seien ein "gesamtgesellschaftliches Phänomen", sagte der Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort im Dlf-Interview. Die Fragen stellte ein Schüler.

Michael Schulte-Markwort im Gespräch mit Luca Samlidis |
    Der Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Autor Michael Schulte-Markwort, aufgenommen am 10.05.2015 in Köln.
    Auch wenn Eltern keinen direkten Druck auf ihre Kinder ausübten, so lebten sie ihnen vor, dass Wohlstand nur durch Leistung gesteigert werden könne, sagte Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort im Dlf (dpa / Horst Galuschka)
    Luca Samlidis: Immer mehr Jugendliche klagen über Stress und hohem Druck in Schule und im Elternhaus. Jetzt könnte man natürlich böse fragen, ob es an den Schulen einfach mehr Weicheier gibt als früher.
    Michael Schulte-Markwort: Also das ist nach meiner Einschätzung überhaupt nicht so. Ich überblicke 30 Jahre, und in diesen 30 Jahren habe ich nicht den Eindruck, dass Kinder weniger leistungsfähig oder weniger leistungswillig geworden sind, sondern ganz im Gegenteil: Mein Eindruck ist, dass gerade heute eine Generation da ist, die unglaublich intrinsisch, das heißt sozusagen von innen, motiviert ist, und das heißt, wir müssen wirklich davon ausgehen, dass die Außenbedingungen sich verändert haben.
    Samlidis: Jetzt stellt sich natürlich auch direkt die Frage, also wie es weitergeht. Befinden wir uns auf einem Weg, wo es vielleicht am Ende zu massenhaften Erkrankungen von Schülern führt oder ist das schon der Fall?
    Schulte-Markwort: Es ist sicher ein Phänomen, dass Erschöpfungssyndrome zugenommen haben, und ich bin auch schon lange der Meinung, dass wir uns intensiv darum kümmern müssen, was bedeutet, dass Bedingungen des Lernens sich ändern müssen, aber es ist natürlich auch ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Solange wir davon überzeugt sind, dass wir alle immer Renditesteigerung erbringen müssen, egal in welchem Bereich, und das gilt dann für Lehrer und Schüler auch, und solange wir glauben, dass Stillstand Rückschritt ist, solange wird das so bleiben.
    "Durchdringende Ökonomisierung"
    Samlidis: Sie sprechen gerade davon, dass wir immer mehr bringen müssen. Ist dieser Leistungsdruck denn ein neues Phänomen oder haben wir das schon die ganze Zeit?
    Schulte-Markwort: Das ist sicher kein neues Phänomen, sondern das ist ein Phänomen der Neuzeit, aber die ganze Industrie, die eben mit dieser durchdringenden Ökonomisierung – so nenne ich das immer – davon lebt, bei der ist es dann tatsächlich auch so, das sich immer weiter steigert, und dann ist die Frage, gibt es irgendwann Grenzen des Wachstums oder gibt es die nicht, und bisher sind wir, glaube ich, alle davon überzeugt, dass es keine Grenzen des Wachstums gibt, und so lange wird sich die Spirale weiter nach oben drehen.
    Samlidis: Welche Auswirkungen beobachten Sie denn am häufigsten? Also wie gestaltet sich dieser Leistungsdruck am Ende bei Kindern und Jugendlichen aus?
    Schulte-Markwort: Der äußert sich dahingehend, dass zum Beispiel neunjährige Kinder vor mir sitzen und sagen, wenn ich den Übergang ins Gymnasium nicht schaffe, ist mein Leben gelaufen, oder Abiturienten oder Schüler in der elften Klasse der Oberstufe mir sagen, ein Abitur schlechter 1,5 ist nichts wert. Es geht ja nicht nur darum, dass sie das Abitur schaffen wollen, sondern dass es ein besonders gutes Abitur sein muss, weil sie sonst nicht alle Möglichkeiten haben, und häufig ist es so, dass Eltern daneben sitzen und sagen, also für uns muss er oder sie das gar nicht tun, wir sagen immer, mach doch mal ruhig ein bisschen weniger, und dann sagen die Kids, aber das ist doch zynisch, ihr müsst ja nicht mehr studieren, und ihr müsst ja nicht mehr irgendeinen Beruf ergreifen.
    "Was wir den Schülern vorgelebt haben die letzten 20 Jahre"
    Samlidis: Aber wer profitiert denn von dieser Situation und von den überforderten Schülern, die es ja offenbar gibt?
    Schulte-Markwort: Niemand profitiert davon, sondern ich glaube, dass sich ein sich selbstbefeuerndes System entwickelt hat, was wir Erwachsenen den Schülern vorgelebt haben die letzten 20 Jahre, und die sind, einfach weil sie leistungsbereit und freundlich sind, in diese Fußstapfen getreten.
    Samlidis: Und warum ändert sich daran nichts, wenn wir doch wissen, dass das falsch ist?
    Schulte-Markwort: Weil wir nach wie vor davon überzeugt sind, dass wir alle Leistung jeden Tag steigern müssen und dass nur darüber sozusagen Wohlstand entsteht, wirtschaftlicher Wohlstand.
    "Balance zwischen Anspannung und Entspannung"
    Samlidis: Also jetzt muss ich natürlich damit klarkommen, jetzt sitze ich hier und frage mich natürlich, ob Sie mir einen Tipp geben können. Wie soll ich denn damit umgehen?
    Schulte-Markwort: Also wenn die Schüler zu mir kommen, dann gucke ich mit denen immer sehr genau an, wie ist eigentlich der Lernplan, mit welchen Lernstrategien arbeiten sie, dann hole ich die ganze Familie dazu, weil ich auch immer von der Familie wissen möchte, wer hat eigentlich welchen Stundenplan, ich frage die Familie, wo gibt es Inseln der Gemeinsamkeit, wo gibt es Situationen, in denen jeder aus der Familie seinen Akku wieder aufladen kann, was kann man tatsächlich vielleicht auch weglassen, aber wo gibt es Eustress, also guten Stress. Es geht nicht nur darum, einen Terminkalender zusammenzustreichen, sondern es geht auch darum, darauf zu achten, wo gibt es Ausgleich. Also wenn jemand sehr gerne Geige spielt und ihn das sozusagen erholt und entspannt, dann wäre es unsinnig, das zu streichen. Und danach stelle ich mit der Familie und mit den betroffenen Schülern sozusagen einen neuen Wochenstundenplan zusammen, in dem immer diese Balance zwischen Anspannung und Entspannung besser aufgehoben ist.
    "An welchen Stellen müssen wir Nein sagen"
    Samlidis: Das klingt jetzt auch nach einer Frage des Zeitmanagements, aber irgendwo findet auch das natürlich seine Grenzen. Ist ein Schulwechsel teilweise eine Möglichkeit?
    Schulte-Markwort: Ich versuche, den Schülern immer ihre Schule zu erhalten, es sei denn, sie sagen von sich aus, dass sie da nicht bleiben wollen. Man nimmt seine Probleme mit in die neue Schule, und es wird noch mal anstrengend, weil man sich neu orientieren muss. Das finde ich in der Regel deswegen keine gute Lösung. Sie haben natürlich völlig recht, weil auch Zeitmanagement irgendwann begrenzt ist, und dann kommen wir in die Situation, dass wir tatsächlich alle zusammen irgendwann mal Nein sagen müssen zu bestimmten Dingen, also das beginnt im täglichen Alltag – bei meinem Alltag zum Beispiel ist die große Auseinandersetzung jeden Tag, wie gehe ich mit dem Mailaufkommen um –, und es gibt inzwischen schon Menschen, die in bestimmten Organisationen arbeiten, die sagen, wer mich wirklich sprechen will, der muss direkten Kontakt mit mir aufnehmen und in mein Zimmer kommen oder anrufen, auf die Mail reagiere ich nicht mehr. Oder – das kennen Sie vielleicht auch – Facebook hat nicht mehr die Bedeutung, die es mal eine Zeit lang hatte, weil alle merken, dass man dadurch auch gestresst wird. Ich glaube, das ist die große Debatte, die wir führen müssen: Wo können wir alle – Erwachsene, Schüler, Kinder –, wo können und müssen wir, an welchen Stellen müssen wir Nein sagen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.