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Streubomben auf Schritt und Tritt

Vor 35 Jahren endete der Vietnamkrieg. Nach wie vor kommen Menschen durch Streubomben ums Leben. Über Quang Tri gingen damals mehr Bomben nieder als über ganz Europa im zweiten Weltkrieg.

Von Mathias Bölinger | 01.05.2010
    Der Tag, an dem der Krieg zurück in sein Leben kam, begann wie jeder andere Tag im Leben von Le Kien. Der Bauer bestellte Reisfelder und den Gemüsegarten.

    "Ich arbeitete im Gemüsegarten, meine Tochter war vier und sie kam immer mit, wenn ich im Garten arbeitete. Da habe ich mit meiner Hacke eine Streubombe getroffen. Meine Tochter war sofort tot und ich war schwer verletzt. Ich hatte die Bombe nicht gesehen. Ich fühlte mich sicher, ich war ja in meinem Garten. Die Bombe lag ein wenig unter der Oberfläche versteckt."

    Der Krieg, dem Le Kiens kleine Tochter zum Opfer fiel, war da bereits seit 15 Jahren vorbei. Während des Vietnamkriegs verlief nicht weit von Kiens Haus die Frontlinie zwischen Nord- und Südvietnam. 1975 dann eroberte der kommunistische Norden die südvietnamesische Hauptstadt Saigon und beendete den Krieg. Die US-Truppen zogen ab. Doch den Bauern an der ehemaligen Front, wie Kien und seiner Frau Nguyen Thi Huong hinterließen sie ein fatales Erbe.

    "Unfälle hat es bei uns im Dorf immer wieder gegeben. Nur einen Monat, bevor unsere Tochter starb, hat ein Nachbar bei einer Explosion seine Hand verloren."

    Die Provinz Quang Tri, in der auch das Dorf von Kien und Huong liegt, ist ein trister Landstrich, auch ohne den Regen, der im Herbst und Winter manchmal tagelang das Land mit Wasser überschüttet. Zwar sind 35 Jahre nach den Angriffen mit dem Entlaubungsmittel Agent Orange wieder Pflanzen nachgewachsen, doch noch immer wirkt die Vegetation ausgedünnt, sind die Bäume niedrig und das Gestrüpp am Straßenrand ist licht.
    Auch die frühere Provinzhauptstadt Quang Tri macht einen traurigen Eindruck. Die Stadt ist heute nicht mehr als eine Ansiedlung, Baulücken klaffen zwischen den schmalen mehrstöckigen Häusern, bei genauem Hinsehen findet sich noch immer die eine oder andere Ruine. Die Stadt wurde nach dem Krieg nicht wieder als Hauptstadt aufgebaut, stattdessen residiert die Provinzregierung nun zwanzig Kilometer nördlich - in der Stadt Dong Ha – die ist intakt aber ohne Charme. Am Straßenrand überwiegen neue Häuser, kitschig verziert mit falschem Stuck und Messinggeländern. Touristen verirren sich in die Provinz nur, wenn sie die weitverzweigten Bunkeranlagen und ehemaligen Schlachtfelder besichtigen wollen.

    Mit welcher Intensität der Krieg in Quang Tri tatsächlich geführt wurde, ist im Ausland wenig bekannt. Während des Vietnamkriegs wurden über der Provinz mehr Bomben abgeworfen als über ganz Europa im Zweiten Weltkrieg. Dabei ist der Landstrich gerade so groß wie ein Sechstel von Belgien. Quang Tri war die am stärksten belastete Provinz, und ist es bis heute. Fast in ganz Vietnam aber finden sich noch Überreste des Krieges: Nicht explodierte Granaten, Panzerminen, Bomben und Streumunition. Leutnant Hoang Trung Hoa gehört einer Minenräumeinheit des vietnamesischen Militärs an.

    "Die Armee räumt das Gelände nur bei großen Projekten systematisch, bei Großbaustellen oder Infrastrukturprojekten. Ich schätze, dass es 2 bis 300 Jahre dauern würde, das Ganze Land minenfrei zu machen."

    Auch zivile Organisationen kümmern sich um das Minenproblem. Nicht weit von Dong Ha sitzen Dinh Ngoc Vu und seine Kollegen im Distrikt Cam Lo in einer kleinen Baracke um einen Tisch. Das Projekt "Renew" kümmert sich um Blindgänger wie den, den der Bauer Kien damals in seinem Garten fand. Vu und die anderen Mitglieder des Minenräumkommandos – in sandgelbe Uniformen und Gummistiefel gekleidet – sind zum Aufbruch bereit, doch ausrücken werden sie heute nicht. Bei Regen ist es zu gefährlich. Umso mehr wird es zu tun geben, wenn der Regen aufhört.

    "An Regentagen werden viele dieser Blindgänger freigespült. Die meisten sind an der Oberfläche, die Leute finden sie, wenn Sie auf dem Feld arbeiten. Viele sind auch schon mal bewegt worden, die Leute haben sie vor Jahren einfach in die Büsche geworfen und nun findet sie jemand wieder. Das sind die Situationen, in denen wir zum Einsatz kommen."
    Ohne seine Uniform könnte man sich Vu auch als Lehrer oder Bankberater vorstellen. Geduldig und freundlich erklärt er seine Arbeit. Vu kam nach seinem Englischstudium mehr zufällig zu "Renew" - ein Cousin hatte ihn vermittelt. Erst hier lernte er, mit den gefährlichen Objekten umzugehen. Solange man die Sicherheitsvorschriften einhalte, sei die Arbeit nicht besonders gefährlich, glaubt er. Jeden Tag mehrmals klingelt das Telefon bei "Renew", dann hat wieder jemand einen Blindgänger gefunden.

    Gefördert von norwegischen Hilfsorganisationen und amerikanischen Veteranen kümmert sich die Organisation um solche Fundstücke. Kleine Sprengladungen werden in Erdlöchern zur Explosion gebracht, bei schweren Kalibern wird ein Spezialteam der norwegischen Partnerorganisation zur Entschärfung gerufen. Dann wird im Umkreis von zehn Metern geschaut, ob noch mehr Munition herumliegt – nur mit den Augen - für eine gründlichere Untersuchung reichen die Ressourcen nicht.

    "Wenn es sich um Minenfelder handeln würde, dann könnten die Gebiete einfach gesperrt werden und die Menschen könnten andere Äcker bestellen. Doch wir haben ein anderes Problem. Bei uns gibt es Blindgänger und Streubomben, die aber sind überall. 83 Prozent der Provinz sind kontaminiert. Die Leute müssen ja weiter ihre Felder bestellen, und können nur hoffen, dass ihnen nichts passiert. Jeden Monat kommt es zu Unfällen hier in der Provinz."

    Doch die Statistik lässt hoffen. Insgesamt ist die Zahl der Opfer in den letzten Jahren zurückgegangen, wächst das Bewusstsein für die Gefahren. Neben "Renew" sind auch noch andere Organisationen in der Provinz tätig. Mit Bussen fahren die Mitarbeiter durch die Dörfer und klären die Bewohner über die Gefahren auf. Vor allem Streubomben fordern nach wie vor viele Tote und Verletzte. Beim Abwurf zerfallen solche Bomben in kleine Einzelteile und verstreuen sich über die Gegend. Die einzelnen Sprengladungen sehen aus wie kleine Bälle aus Eisen, "Bombie" nennen sie die Einheimischen, nach all den Jahren in der Erde sind sie kaum von Steinen zu unterscheiden. Oft fallen ihnen Kinder zum Opfer, die sie in die Hand nehmen oder durch die Gegend kicken. Auch Erwachsene erliegen manchmal der Versuchung, verdächtige Gegenstände anzufassen. Bomben sind aus hochwertigem Metall, nicht wenige sterben bei dem Versuch, das Metall zu bergen und zu verkaufen. Der Rest der Opfer sind Bauern wie Le Kien, die die explosiven Objekte einfach nicht gesehen haben. Seine Frau Nguyen Thi Huong konnte die Explosion damals vom Haus aus sehen. Sie rannte zur Unfallstelle, dann kamen Nachbarn, und halfen, ihren Mann ins Krankenhaus zu bringen.

    "Als sie mir später erzählt haben, dass meine Tochter tot ist und mein Mann ein Bein verloren hat, bin ich in Ohnmacht gefallen. Danach war ich am Boden zerstört. Mein Mann lag im Krankenhaus und meine Tochter war tot. Ich bin abgemagert und verfiel in eine Depression. Ich konnte gar nichts mehr tun für meine Familie."

    Heute haben die Les drei Kinder, zwei gehen noch zur Schule. Kien bekam nach Jahren eine Prothese von einer Hilfsorganisation und kann seitdem wieder arbeiten. Er ist inzwischen so etwas wie die "Stimme der Minenopfer Vietnams". Im vergangenen Jahr reisten Kien und Huong nach Bali, um auf einer internationalen Konferenz für ein Verbot von Streumunition zu werben. Seinen Lebensunterhalt aber verdient Le Kien immer noch als Bauer.

    "Mit meiner Prothese kann ich nicht mehr auf die Reisfelder, aber im Haus und im Garten arbeite ich nach wie vor. Natürlich habe ich dabei Angst, wieder auf eine Bombe zu treffen, wir wissen ja nicht, was hier noch alles unter der Erde liegt."