Stefan Koldehoff: Von einer sogenannten Wahrheit der Karteikarten war in den vergangenen Monaten oft die Rede, als Martin Walser, Siegfried Lenz oder Walter Jens ihre Mitgliedschaft in der NSDAP und Günter Grass gar in der SS vorgehalten wurde. Der ebenfalls betroffene Germanist Peter Wapnewski zitierte Nietzsche mit dem Satz: "Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis, das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz, endlich gibt das Gedächtnis nach." Nun ist der Schriftsteller Erwin Strittmatter an der Reihe, 1912 geboren, in der DDR einer der bekanntesten Autoren, 1994 gestorben und, wie die "FAZ" herausgefunden haben will, Angehöriger des SS-Polizeigebirgsjägerregimentes 18, das auch an Partisanenbekämpfung und an Hinrichtungen beteiligt gewesen sei. Strittmatters offizielle Biografie liest sich anders. Da heißt es nur, er kämpfte im Zweiten Weltkrieg und desertierte schließlich. Prof. Wolfgang Emmerich hat als Germanist eine Literaturgeschichte der DDR geschrieben, in der natürlich auch Erwin Strittmatter prominent vorkommt. Frage an ihn, welche Vitavariante stimmt denn Ihrer Meinung nach?
Wolfgang Emmerich: Ich glaube, dass das, was Herr Werner Liersch ausgegraben hat, glaubwürdig ist, authentisch. Da sehe ich keinen Anlass zu zweifeln. Und ich denke, das, was Liersch gefunden hat, gehört künftig, und zwar als ganz wichtiges Element, zur Vita von Strittmatter dazu. Und man wird sich dann fragen können, das sind die interessanten Fragen, warum konnte, durfte so etwas in der DDR nicht ans Tageslicht treten? Und auch die weitere Frage, warum hat Strittmatter das nach 1989/90 nicht selber noch veröffentlicht? Warum hat er nicht noch ein Buch geschrieben, das sich genau mit dieser Zeit und seinen eigenen Erfahrung beschäftigt?
Koldehoff: Na, dann versuchen wir, uns doch mal erst der ersten von Ihnen gestellten Frage ein wenig anzunähern oder einer Antwort darauf. Lag es denn tatsächlich an den Umständen in der DDR? War es dort völlig unmöglich, ein solches Bekenntnis abzulegen, oder lag es vielleicht an Strittmatter selbst?
Emmerich: Ich will Strittmatter nicht davon freisprechen, dass er sich hätte da mehr Mut gönnen sollen. Aber man muss sich mal die Umstände klarmachen. In der DDR gab es keine wirklich offene, kritische Öffentlichkeit, in der solche Informationen erwünscht waren, schon gar nicht von Menschen, Figuren, die im Laufe der Jahre, Jahrzehnte zu Repräsentanten, zu Vorbildfiguren geworden waren. Man muss sich das vorstellen. Strittmatter geht zum "Neuen Deutschland" und sagt, ich würde gerne in der Wochenendausgabe eine Seite haben. Ich möchte über meine Erfahrungen meine eigenen in einem SS-Regiment im Partisanenkrieg berichten. Der hätte diesen Platz nicht bekommen. Die Leute hätten gesagt, du hältst die Schnauze oder sonst passiert was. Er hätte das im Westen tun können, natürlich. Jede Gazette hätte sich drauf gestürzt. Aber dann wäre er als Schriftsteller auch in der DDR ein toter Mann gewesen. Insofern, ich will ihn nicht von Verantwortung freisprechen. Aber je länger die Zeit voranschritt, desto schwieriger war es in der DDR für einen Mann, der in eine solche Repräsentanzfunktion gekommen war, eine solche Lebensbeichte noch abzulegen.
Koldehoff: Umgekehrt, wenn man nun in den freien Westen, wie es damals immer hieß, hinüberblickte, gab es hier ja durchaus auch Fälle von Schriftstellern, die entsprechende Bekenntnisse nicht abgelegt haben. Günter Grass war sicherlich das prominenteste Beispiel, Walter Jens könnte man nennen, Martin Walser.
Emmerich: Wobei ich einen Unterschied sehe, ob jemand kurz vor Kriegsende irgendwie noch in die Partei gelangt ist oder ob jemand anderthalb Jahre am Partisanenkrieg in Griechenland beteiligt war. Wobei Liersch ja nichts anderes behauptet hat, als dass Strittmatter Kriegstagebuchführer seines Bataillons gewesen sei. Aber das ist ja gerade das Interessante. Als solcher muss er unglaublich viele auch Verbrechen und Gräuel, Liquidationen miterlebt haben. Und das macht für mich den Fall Strittmatter im Grunde gravierender. Er ist 15 Jahre älter als Grass, 1912 geboren, Grass 1927. Das heißt, er war als voll erwachsener, bewusster Mann vier Jahre in diesem Krieg. Er ist nicht freiwillig zur SS gegangen. Er gehörte einer Einheit an, die erst von Himmler 1943 zum SS-Bestandteil ernannt worden ist. Aber er war an mehreren Stellen und vor allem in Griechenland wirklich. Er war zumindest Augenzeuge und Berichterstatter über Kämpfe, die man nur als verbrecherisch bezeichnen kann.
Koldehoff: Schmälert das Schweigen von Erwin Strittmatter seine literarische Verdienste?
Emmerich: Na ja, das ist nur die Frage, wie definiert man Literatur. Die Werke, die er geschrieben hat, die bleiben genauso die Werke, wie sie vorher waren. Das ist die ganze Debatte, die bei Grass geführt wurde, die im deutschen Literaturstreit Anfang der 90er-Jahre geführt wurde. Für mich ist da schon ein Hauch von Ernüchterung im Spiel, und es ist schade. Aber so ganz verwundert ist man nicht. Denn Strittmatter, der heute in der "FAZ" fälschlich ein Vertreter des undogmatischen Sozialismus genannt wird, das würde ich so nicht sagen, Strittmatter hat eigentlich nie sehr viel Mut gezeigt. Er war keiner der Unterstützer der Biermann-Petition. Er hat die Kollegen um Stefan Heim, die 1979 aus dem Verband geworfen wurden und Strafen bekamen, nicht unterstützt. Das hätte er bei seinem Ruhm schon machen können. Insofern, sagen wir mal, die Zivilcourageerwartungen an Erwin Strittmatter war bei mir nicht so hoch.
Koldehoff: Der Germanist Wolfgang Emmerich, vielen Dank, über neue Erkenntnisse zur Biografie des Schriftsteller Erwin Strittmatter.
Wolfgang Emmerich: Ich glaube, dass das, was Herr Werner Liersch ausgegraben hat, glaubwürdig ist, authentisch. Da sehe ich keinen Anlass zu zweifeln. Und ich denke, das, was Liersch gefunden hat, gehört künftig, und zwar als ganz wichtiges Element, zur Vita von Strittmatter dazu. Und man wird sich dann fragen können, das sind die interessanten Fragen, warum konnte, durfte so etwas in der DDR nicht ans Tageslicht treten? Und auch die weitere Frage, warum hat Strittmatter das nach 1989/90 nicht selber noch veröffentlicht? Warum hat er nicht noch ein Buch geschrieben, das sich genau mit dieser Zeit und seinen eigenen Erfahrung beschäftigt?
Koldehoff: Na, dann versuchen wir, uns doch mal erst der ersten von Ihnen gestellten Frage ein wenig anzunähern oder einer Antwort darauf. Lag es denn tatsächlich an den Umständen in der DDR? War es dort völlig unmöglich, ein solches Bekenntnis abzulegen, oder lag es vielleicht an Strittmatter selbst?
Emmerich: Ich will Strittmatter nicht davon freisprechen, dass er sich hätte da mehr Mut gönnen sollen. Aber man muss sich mal die Umstände klarmachen. In der DDR gab es keine wirklich offene, kritische Öffentlichkeit, in der solche Informationen erwünscht waren, schon gar nicht von Menschen, Figuren, die im Laufe der Jahre, Jahrzehnte zu Repräsentanten, zu Vorbildfiguren geworden waren. Man muss sich das vorstellen. Strittmatter geht zum "Neuen Deutschland" und sagt, ich würde gerne in der Wochenendausgabe eine Seite haben. Ich möchte über meine Erfahrungen meine eigenen in einem SS-Regiment im Partisanenkrieg berichten. Der hätte diesen Platz nicht bekommen. Die Leute hätten gesagt, du hältst die Schnauze oder sonst passiert was. Er hätte das im Westen tun können, natürlich. Jede Gazette hätte sich drauf gestürzt. Aber dann wäre er als Schriftsteller auch in der DDR ein toter Mann gewesen. Insofern, ich will ihn nicht von Verantwortung freisprechen. Aber je länger die Zeit voranschritt, desto schwieriger war es in der DDR für einen Mann, der in eine solche Repräsentanzfunktion gekommen war, eine solche Lebensbeichte noch abzulegen.
Koldehoff: Umgekehrt, wenn man nun in den freien Westen, wie es damals immer hieß, hinüberblickte, gab es hier ja durchaus auch Fälle von Schriftstellern, die entsprechende Bekenntnisse nicht abgelegt haben. Günter Grass war sicherlich das prominenteste Beispiel, Walter Jens könnte man nennen, Martin Walser.
Emmerich: Wobei ich einen Unterschied sehe, ob jemand kurz vor Kriegsende irgendwie noch in die Partei gelangt ist oder ob jemand anderthalb Jahre am Partisanenkrieg in Griechenland beteiligt war. Wobei Liersch ja nichts anderes behauptet hat, als dass Strittmatter Kriegstagebuchführer seines Bataillons gewesen sei. Aber das ist ja gerade das Interessante. Als solcher muss er unglaublich viele auch Verbrechen und Gräuel, Liquidationen miterlebt haben. Und das macht für mich den Fall Strittmatter im Grunde gravierender. Er ist 15 Jahre älter als Grass, 1912 geboren, Grass 1927. Das heißt, er war als voll erwachsener, bewusster Mann vier Jahre in diesem Krieg. Er ist nicht freiwillig zur SS gegangen. Er gehörte einer Einheit an, die erst von Himmler 1943 zum SS-Bestandteil ernannt worden ist. Aber er war an mehreren Stellen und vor allem in Griechenland wirklich. Er war zumindest Augenzeuge und Berichterstatter über Kämpfe, die man nur als verbrecherisch bezeichnen kann.
Koldehoff: Schmälert das Schweigen von Erwin Strittmatter seine literarische Verdienste?
Emmerich: Na ja, das ist nur die Frage, wie definiert man Literatur. Die Werke, die er geschrieben hat, die bleiben genauso die Werke, wie sie vorher waren. Das ist die ganze Debatte, die bei Grass geführt wurde, die im deutschen Literaturstreit Anfang der 90er-Jahre geführt wurde. Für mich ist da schon ein Hauch von Ernüchterung im Spiel, und es ist schade. Aber so ganz verwundert ist man nicht. Denn Strittmatter, der heute in der "FAZ" fälschlich ein Vertreter des undogmatischen Sozialismus genannt wird, das würde ich so nicht sagen, Strittmatter hat eigentlich nie sehr viel Mut gezeigt. Er war keiner der Unterstützer der Biermann-Petition. Er hat die Kollegen um Stefan Heim, die 1979 aus dem Verband geworfen wurden und Strafen bekamen, nicht unterstützt. Das hätte er bei seinem Ruhm schon machen können. Insofern, sagen wir mal, die Zivilcourageerwartungen an Erwin Strittmatter war bei mir nicht so hoch.
Koldehoff: Der Germanist Wolfgang Emmerich, vielen Dank, über neue Erkenntnisse zur Biografie des Schriftsteller Erwin Strittmatter.