Vor welchen Herausforderungen steht die Strombranche zurzeit?
Wie immer gilt es, die Stabilität des Elektrizitätsnetzes zu gewährleisten. Dafür müssen sich – aus physikalischen Gründen – die Erzeugung und der Verbrauch im Gleichgewicht halten. Bereits im Normalbetrieb stellt das eine Herausforderung dar, dann allerdings, weil sich die Netze am Rand ihrer Auslastung bewegen. Doch im Moment hat sich die Situation umgekehrt: Die Auslastung liegt deutlich niedriger als normal. Die Kraftwerksbetreiber müssen daher darauf achten, dass nicht zu viel Strom produziert wird, für den es dann keine Abnehmer gibt. Auch darin liegt eine Herausforderung, wenn auch eine andere als im Normalbetrieb.
Warum ist der Verbrauch gesunken?
Der Rückgang ist vor allem auf den gesunkenen Stromverbrauch der Industrie zurückzuführen. Industrie, Gewerbe, Dienstleitungen und Handel machen rund 75 Prozent des gesamten Stromverbrauchs in Deutschland aus. Dadurch ist der Stromverbrauch spürbar gesunken: um neun Prozent im Vergleich zu Anfang März laut Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft.
Die Zahl bezieht sich das auf den Gesamtstromverbrauch, so dass nicht nur Corona-Effekte eine Rolle spielen können, sondern auch saisonale Schwankungen. Änderungen beim Muster des Stromverbrauchs zeichnen sich über den Tag hinweg ab. Während in den Tag- und Abendstunden teilweise sehr deutliche Rückgänge zu verzeichnen sind (gegenüber vergleichbaren Stunde in normalen Zeiten), wurde nachts teilweise sogar etwas mehr Strom verbraucht.
Wie sieht die Tendenz für die kommenden Tage aus?
Es sieht so aus, als ob sich die konjunkturellen Aussichten vor allem für die Automobilindustrie, aber auch für anderen energieintensiven Branchen wie die Chemische Industrie und Stahl- und Metallindustrie eintrüben – und das dürfte auch auf den Stromverbrauch durchschlagen.
Der Verbrauch der Privathaushalte ist hingegen durch Homeoffice und verstärkte Internetnutzung gestiegen – aber dieser Anstieg wird durch den wegbrechenden industriellen Verbrauch überkompensiert. Die Bundesnetzagentur erklärt, dass das Verbrauchsprofil im Moment am ehesten demjenigen an einem Wochenende entspricht.
Wie wollen die Erzeuger und Verteiler die Stromversorgung sichern?
Homeoffice reicht da nicht unbedingt, vor allem nicht in der Produktion. Für die Mitarbeiter in den Leitwarten und den technischen Teams, die für die Aufrechterhaltung des Betriebs notwendig sind, gelten besondere Maßnahmen. Denn wenn einer von ihnen sich mit Corona infiziert hat und arbeiten gegangen ist, dann müssen die anderen aus seiner Schicht in Quarantäne.
Die einfachste Form besteht darin, die einzelnen Schichten streng voneinander zu trennen – so dass beispielsweise die Übergaben nicht mehr im persönlichen Kontakt stattfinden, sondern telefonisch. Und dass Teams zusammengestellt werden, die dann, wenn nötig, auch längere Schichten fahren, wenn sich die Krankheitsfälle mehren.
In etlichen Unternehmen werden auch "Kasernierungen" vorbereitet, dass also die Mitarbeiter dann entweder an ihren Arbeitsplätzen leben und auf Feldbetten schlafen - oder sie sind in Hotels in der Nähe untergebracht, die komplett angemietet werden und zu denen dann auch niemand anderes mehr Zutritt hat. Die Unternehmen möchten solch eine belastende Situation vermeiden, wo immer es geht. das jedoch solange und wo immer es geht vermeiden, weil es eine doch sehr belastende Situation ist. In einzelnen Betrieben, beispielweise in Österreich, wird das Modell aber bereits durchgeführt.
Wie sieht es mit den Kernkraftwerken aus, die noch immer am Netz sind?
In der RSK-Richtlinie ist festgeschrieben, dass pro Schicht mindestens acht Leute arbeiten – die Kraftwerke sehen meistens noch einen oder zwei mehr vor. Und es wird üblicherweise im 6-Schicht-Betrieb gefahren. Das kann in Corona-Zeiten, wenn es sein muss, auf ein Minimum von drei Schichten runtergefahren werden: drei Schichten à 12 Stunden, eine Mannschaft hat dann 24 Stunden frei. In der Slowakischen Republik ist man schon zu dieser Einteilung übergegangen, um die Personalrotation zu verringern. In den USA hat die Aufsichtsbehörde für die nächsten 60 Tage längere Arbeitszeiten zugelassen – auf bis zu 16 Stunden an fünf Tagen in der Woche.
Eine Herausforderung kann der Austausch von Brennelementen darstellen, der in Europa im Durchschnitt einmal im Jahr ansteht. Er lässt sich aus physikalischen Gründen maximal 80 Tage lang herausschieben, weil ansonsten der Brennstoff verbraucht ist. Bei einem Brennelementwechsel wird sehr viel Personal gebraucht: Man muss die Leittechnik abkoppeln, den Deckel des Reaktordruckbehälters öffnen usw. Ohne weitere Prüfungen und Reparaturen braucht man dafür normalerweise 500 Leute externes Personal, mit Reparaturen und Austausch etwa 1000. Das lässt sich mit Social Distancing nicht machen.
Ist das Problem akut?
Ja, beim AKW Grohnde. Das ist in Revision, und die läuft nicht in der üblichen Form, sondern an Corona angepasst. Zu den 500 Mitarbeitern werden dort üblicherweise rund 1.000 zusätzliche Fachkräfte eingesetzt. In der aktuellen Situation dürften es in den ersten zwei Wochen aus Infektionsschutzgründen nur 100 Leute zusätzlich sein. In den Folgewochen sollten höchstens 250 Leute eingesetzt werden. Der Zeitraum der Revision werde von zwei auf sechs Wochen gestreckt – damit im Infektionsfall umliegende Klinikkapazitäten reichen.
Ist das allein ein deutsches Problem?
Nein, überall wird darüber nachgedacht. Und in Ländern mit vielen KKW wie Frankreich oder den USA ist das Problem sogar noch viel drängender, da die Wechselzeiten eigentlich aufeinander abgestimmt sind. Man versucht, die Abläufe zu optimieren, nach hinten zu schieben, die Pausen zu verlängern. In der Schweiz sollte an einem Kraftwerk der Kondensator ausgetauscht werden – und dafür sollten 100 italienische Schweißer kommen. Dieser Plan musste nun aufgegeben werden. In der Slowakischen Republik will man bei Mochovce-1 die Brennelemente tauschen und zentrale Arbeiten am Kühlsystem durchführen und andere absolut notwendige Arbeiten. Dazu werden nun andere Maßnahmen aufgeschoben werden.