Seit vielen Jahren beobachte ich aufmerksam die Sprache, die Erzählungen und die Motive der neurechten Szene, um sie einschätzen und verstehen zu können. So lange, wie ich das mache, achte ich auch darauf, wann Journalisten und Politiker einzelne dieser Motive oder Sprachfiguren benutzen. Denn eine einzige Sprachfigur erzählt ja die dahinterliegende Geschichte mit.
Wer also von einer Flüchtlingswelle spricht, muss das gar nicht böse meinen, trägt aber das Narrativ der Entmenschlichung, der Katastrophe und des Überrollens nun mal mit.
Ich werde nicht müde, öffentliche Personen darauf hinzuweisen. Wann immer beispielsweise jemand die lange widerlegte Hufeisentheorie bemüht und Links- und Rechtsextremismus gleichsetzt, führe ich gerne ein ruhiges, aufklärendes Gespräch.
Aus Gesprächen viel gelernt
Aus diesen Gesprächen habe ich einiges gelernt. Erstens: die betreffenden Personen sind meistens etwas älter, meistens ohne Migrationshintergrund und meistens männlich. Das liegt jetzt nicht daran, dass "alte weiße Männer" irgendwie böse seien. Sie hatten biographisch bloß meistens weniger Grund, sich mit Mechanismen von Unterdrückung, Rassismus oder Sexismus auseinanderzusetzen.
Was mich zum zweiten Punkt führt: meistens sind die betreffenden Personen überrascht, dass die von ihnen getroffene Aussage eine Konnotation hat. Sie haben den rechten Diskurs nicht verfolgt, sie kennen die Memes nicht, sie haben sich nichts dabei gedacht.
Ein junges Beispiel dafür war das Interview mit Friedrich Merz, in dem er auf die Frage nach einem schwulen Bundeskanzler gesagt hat, Menschen können sich für einen beliebigen Lebensentwurf entscheiden, solange es keine Kinder treffe. Ich glaube ihm, dass er nicht wusste, oder nie viel darüber nachgedacht hat, dass die Nähe zwischen Homosexualität und Pädophilie historisch immer wieder beschworen wurde und heute noch wird, um Homosexualität zu diskreditieren und gefährlich erscheinen zu lassen. Er mag das nicht wissen, hat aber dennoch unprovoziert beides im gleichen Satz erwähnt. Für die Leidtragenden ist seine Motivation egal.
Ignoranz als Machtinstrument
Eine dritte, sehr schwierige Sache habe ich inzwischen auch gelernt: nach einem Shitstorm (meist mit einem Haufen Aufmerksamkeit, optimalerweise einem Talkshowauftritt und vielleicht Buch) kommt zwar die Einsicht in dem konkreten Fall – bald wird aus Versehen aber eine andere rechte Erzählung benutzt. Wäre ich bösartig, würde ich denken, das sei Absicht. Ich glaube aber, die Wahrheit ist schlimmer. Hier wird Ignoranz als Machtinstrument eingesetzt.
Jede Gruppe, die nicht von struktureller Diskriminierung betroffen ist, konnte sich immer leisten, durchs Leben zu gehen, ohne sich mit diesen Phänomenen zu beschäftigen. Sexismus, Rassismus, Antisemitismus und Homophobie überleben nur dadurch, dass sie für die nicht Betroffenen unsichtbar sind.
Die Nichtbetroffenen ihrerseits haben ein großes Interesse daran, ignorant zu bleiben. Auf diese Weise können sie von diskriminierenden Strukturen profitieren, ohne sich selbst zu ihnen zu bekennen. Ohne böse Absicht hat das Nichtwissen bei ihnen System. Und auf dem System bauen Ungerechtigkeit und Menschenhass.
Unwissenheit darf kein Schutz sein
Wenn wir die Welt in Rassisten und Nicht-Rassisten unterteilen, in Nazis und Nicht-Nazis, dann vergessen wir diese wichtigste aller Gruppen: die gut situierte, gebildete Mitte der Gesellschaft, die sich nie Gedanken machen musste um Rassismus und deshalb das Privileg hat, zwischen Nazis und Nicht-Nazis eine neutrale Position einzunehmen. Obwohl sie Unterdrückung und Ungerechtigkeit in Worten natürlich ablehnen, sind sie nur zu gewillt die Augen zu verschließen vor den Mechanismen, die sie von der Unterdrückung profitieren lassen.
Unwissenheit darf nicht länger Schutz sein, um das Leben von Menschen zu gefährden. Wer 2020 am öffentlichen Diskurs teilnimmt, sollte informiert sein über die wichtigsten journalismusfeindlichen, antidemokratischen, rassistischen Narrative, um die gerade gestritten wird. Sonst hat man seine journalistische oder politische Glaubwürdigkeit verspielt. Wir brauchen weniger Nachsicht mit Menschen, die wegsehen.