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Strukturen des Bildungssystems
"Kolonialismus wirkt nach wie vor in unsere Gesellschaft hinein"

Koloniale Strukturen finden sich auch 100 Jahre nach dem Ende des deutschen Kolonialismus in unseren Bildungssystemen. Dies zeige unter anderem die Zusammensetzung des akademischen Lehrkörpers, sagte der Soziologe Sebastian Garbe im Dlf. Stellenbesetzungen und Lerninhalte müssten neu ausgerichtet werden.

Sebastian Garbe im Gespräch mit Thekla Jahn |
Gruppenfoto des ersten Studienjahrgangs des Instituts für Wasser- und Energiewissenschaften der Panafrikanischen Universität
Afrika als Wissenschaftsstandort wird nicht wahrgenommen, sondern eher als Forschungsobjekte gesehen. (Costa Belibasakis/FH Köln)
Thekla Jahn: Deutschland gehörte zwar nur kurz zu den sogenannten Kolonialmächten, von 1884 bis 1918, aber dennoch hält sich bis heute postkoloniales Gedankengut. Jeder mag sich da selber fragen, hinterfragen, inwiefern Ausgrenzung und Intoleranz, Rassismus und Sexismus ab und an durchscheint. Je näher sich die Kontinente gekommen sind im Zuge der Globalisierung, um so mehr verstehen wir uns über Grenzen hinweg, sollten wir uns als eine Welt empfinden. Die Hörer des Deutschlandfunks haben für dieses Jahr 2020 das entsprechende Denkfabrik-Thema gewählt: Dekolonialisiert Euch. Deshalb blicken wir heute bei Campus und Karriere auf die Bildungseinrichtungen. Wie könnte dekolonialisierte Bildung aussehen? Das wollte ich von Sebastian Garbe vom Institut für Soziologie an der Universität Gießen wissen. Ich habe ihn telefonisch vor der Sendung erreicht und ihn zunächst gefragt, wo er in Deutschland in den Bildungseinrichtungen derzeit noch postkoloniale Strukturen erkennt.
Sebastian Garbe: Also ich finde es wichtig, heutzutage auch noch von kolonialen Strukturen zu reden. Weil, auch wenn wir ein formales Ende des Kolonialismus haben und hatten, wirkt der Kolonialismus nach wie vor auch in unserer Gesellschaft mit hinein und nicht nur in die Gesellschaften des globalen Südens. Und davon sind eben auch die Bildungsinstitutionen natürlich betroffen, die eine lange Tradition auch innerhalb des Kolonialismus selbst haben. Und diese Institutionen gibt es eben nach wie vor heute auch noch.
Jahn: Mögen Sie uns da ein, zwei Beispiele nennen?
Garbe: Ja, also meine eigene Universität, an der ich arbeite, ist ja nach Justus Liebig benannt. Justus Liebig ist ja unter anderem dafür bekannt, dass er den Brühwürfel erfunden hat, also als Chemiker. Und dann lange nach seinem Tod, also fast hundert Jahre später, gab es koloniale Sammelbilder, die eben dann diesen Brühwürfeln beigefügt wurden und nach Justus Liebig benannt wurden. Und dramatisch ist an diesen Bildern, dass sie eben die koloniale Eroberung, die imperiale Landnahme in den deutschen Kolonien als eine sehr friedliche Begegnung dargestellt haben und die gewaltsame Geschichte dieser Eroberung wird dabei verschwiegen.
Mangelnde Diversifizierung von Lehrpersonal in Deutschland
Jahn: Jetzt haben Sie uns ein Beispiel genannt von der Universität Gießen. Gibt es weitere Beispiele, wo sich zeigt, dass es noch postkoloniale Strukturen gibt?
Garbe: Ja, also vor allem in der mangelnden Diversität des Lehrpersonals an den Universitäten heute. Also, das ist eben auch ein Phänomen des Rassismus in den Institutionen heute. Also anhand der Fragen: Wer hat selbst Zugang zur Hochschulbildung in Deutschland? Wie ist die Stellenpolitik? Haben wir Diskriminierung an der Universität? Diese Fragen müssen wir uns aktuell stellen. Und gerade in Bezug auf die mangelnde Diversifizierung von Lehrpersonal kann man gerade in Deutschland zusammenfassen, dass es eigentlich so gut wie keine Professuren gibt, die von "People of Color" oder von Personen mit sogenanntem Migrationshintergrund existieren. Und das ist ein großes Problem. Gleichzeitig finden wir Leerstellen und Auslassungspunkte in der Lehre selbst. Das heißt, da wird eben davon ausgegangen, dass Europa oder die europäische Tradition der ausschließliche Produktionsort von Wissen ist. Das heißt, andere Gebiete der Welt werden dann eher als Forschungsobjekte gesehen und eben nicht als gleichberechtigte Wissensproduzierende. Und da hat eine sehr wichtige Bewegung in Großbritannien gefragt: Why is my curriculum white? Das heißt, warum sind die Lehrpläne eben so ausgerichtet, dass dort vor allem die sogenannten Weißen Toten Männer unterrichtet werden? Und eben nicht auch andere Traditionen aus dem Globalen Süden, aus anderen Gebieten Eingang finden in die Lehre - in verschiedenen Disziplinen, in den Sozial- und Geisteswissenschaften, aber eben auch vor allem in der Philosophie.
Bildung muss sich aktuellen Gegebenheiten anpassen
Jahn: Das heißt, Sie plädieren dafür, dass der Bildungskanon in den Lehrplänen, sei es in der Schule, sei es an den Hochschulen, verändert wird?
Garbe: Ja, auf jeden Fall. Denn ich finde, dass Bildung nie stehen bleiben darf und sich immer auch an die aktuellen Gegebenheiten anpassen muss. Es gibt diesen schönen Satz von der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Adichie, die gesprochen hat über die Gefahr der einzigen Geschichte. Und dabei spricht sie vor allem über Literatur. Aber ich finde diesen Satz, dass es eine Gefahr gibt, wenn man nur eine einzige Geschichte erzählt, kann man eben auch auf die Theorie anwenden oder eben auch auf die Hochschulbildung. Das heißt, man muss diesen Kanon auch auffüllen mit Denkern und Denkerinnen aus dem Globalen Süden.
Jahn: Haben Sie bereits Vorschläge, wie sich konkret eine Dekolonialisierung der Bildung umsetzen ließe?
Garbe: Zunächst müssen wir ansetzen bei der Stellenpolitik und bei der Diversifizierung selbst von Lehrenden, die eben nicht adäquat ist für die multikulturelle oder auch interkulturelle Verfasstheit unserer Gesellschaft aktuell. Gleichzeitig ist es wichtig, die Lehrpläne und Lehrinhalte neu auszurichten. Und dabei geht es nicht nur darum, dass man jetzt die Kolonialgeschichte wieder auch in den Lehrplan aufnimmt. Sondern eben auch den klassischen Kanon in den Sozial- und Geisteswissenschaften, in der Philosophie - wie beispielsweise Dürkheim oder Kant oder Hegel - mit anderen kritischen Perspektiven verwebt, die eben aus dem globalen Süden kommen, die eine feministische Perspektive haben und dabei zu einem besseren Verständnis beiträgt, wie die Welt konstituiert ist. Und eben Erklärungs- und Interpretationsmodelle der Welt anbietet, die auch Sinn machen für die Schüler und Schülerinnen heutzutage oder für die Studierenden. Die auch merken, wie meine Erfahrung ist, dass diese weiße, diese einzige Perspektive, diese einzige Geschichte, wie Chimamanda Adichie sagt, ihnen nicht reicht, um die Welt zu verstehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.