Archiv


Struwwelpeter als hyperaktiver Punk

Über 150 Jahre ist der "Struwwelpeter" alt, Heinrich Hoffmanns Buch über ein Kind, das ständig die elterlichen Verbote missachtet. Während eines Kurzfilmworkshops im Kulturzentrum Dortmunder U haben Jugendliche fünf Geschichten daraus in ihre eigene, moderne Welt übersetzt.

Von Elin Rosteck |
    "So, also, du kannst jetzt scharfstellen."

    "Man kann es nicht sehen, ob es scharf ist. Es sieht ein bisschen unscharf aus, man weiß es nicht."

    "Das ist ne Lupe, drück da mal drauf."

    "Ja."

    "Jetzt, siehst du, es ist wirklich unscharf, hier vorne an diesem Ring kannst du drehen, bis sie wirklich scharf ist."

    Björn Leonhard hat schon wieder eine neue Kamerafrau. Sie heißt Leonie, ist zwölf Jahre alt und wird gleich die erste Szene für die Geschichte vom Paulinchen drehen - aus dem Struwwelpeter. Vor der Kamera stehen Katharina, Vanessa und Benita und zupfen an ihren Zöpfen. Gleich werden sie eine nach der anderen das Paulinchen spielen.

    "In unserem Stück machen wir das so, dass sie ein Haus anzündet – der ist eben langweilig. Dann sieht sie die Streichhölzer und dann spielt sie halt mit denen. Eigentlich gibt's die nicht dreimal. Aber wir wollten das eben machen. Sodass ich jetzt eine Szene spiele, wie sie halt mit dem Spiegel spielt; und dann Vanessa macht halt ne Szene, wo sie dann halt überlegt, was sie machen könnte; und Benita macht halt ne Szene, wo sie die Streichhölzer nimmt und das Haus anzündet."

    Ihre Augen leuchten, die Geschichten sind stark. Genau auf diesen Faktor hat Dagmar Lippok gesetzt. Die Dortmunder Künstlerin hatte die Idee für diesen Workshop und setzt ihn jetzt gemeinsam mit Kollegen um:

    "Ich war überrascht, dass die meisten Kinder die Geschichten kannten, aber wir haben festgestellt, dass es sehr gut gezeichnete Storyboards sind und daran haben wir uns gehalten. Wir haben auch selbst Storyboards gezeichnet und uns überlegt, wie wir immer einen Aufhänger der Geschichte verwenden und die dann weiterdenken können. Das Ganze unter Zuhilfenahme von Musik."

    Im Tonstudio arbeiten einige Kinder gerade an der Filmmusik. Fast jede Szene in jeder Geschichte wird musikalisch und auch noch mit Geräuschen unterlegt. Der Workshop wird vom Hartware MedienKunstVerein veranstaltet. Er soll und wird Hand in Hand gehen mit der aktuellen Ausstellung im dritten Stock des Dortmunder Us. "His Master's Voice" heißt sie, und beschäftigt sich mit der Kraft von Stimme und Sprache. Sie drehen - hier passend dazu -Stummfilme, erzählt Mirjam Gaffran vom Hartware MedienKunstVerein:

    "Es ist in der Bevölkerung noch nicht so angekommen, dass Medienkunst für Kinder und Jugendliche spannend ist, oder dass man hier im Haus spannende Sachen sehen kann, von daher ist es wichtig, da einmal herangeführt zu werden, um dann von allein auf die Idee zu kommen, dass man da spannende Sachen sehen kann."

    "Ok, dann können wir eigentlich loslegen."

    "Soll ich 'jetzt' sagen?"

    "Du kannst sagen: 'und bitte.'"

    "Und bitte."

    Vor der Kamera steht das erste Paulinchen bereit. Stocksteif und still hält sie einen Spiegel in der Hand und schaut geradewegs in die Kamera. Es passiert: Nichts. Eine Minute lang soll sie so stehen bleiben.

    Björn: "Oder vielleicht sogar zwei, dass wir ne Zeitlupe draus machen."

    Lippok: "Man kann ja auch aus dem zweiten Teil der Minute was rausnehmen, weil das ist der Moment, wo es n bisschen anstrengend wird, wo das Gesicht sich vielleicht ein bisschen verändert, und wenn es dann noch verlangsamt wird, dann entsteht ein ganz starker Ausdruck."

    Der beim Zuschauer eine atemberaubende Spannung erzeugen kann. Fünf Geschichten aus dem Struwwelpeter verfilmen sie hier, jede auf eine ganz eigene Weise. Aber es geht nicht darum, neue Superstars zu züchten:

    "Unser Ansatz ist immer, wir arbeiten mit Medien, wir möchten aber auch auch Medien hinterfragen, und schauen, wie man sie anders nutzen kann und auseinandernehmen kann, wie man sie auf andere Weise unkommerziell nutzen kann, das ist unser Ansatz."

    Jetzt ist das zweite Paulinchen vor der Kamera dran. Wenn man sieht, mit welcher Hingabe sie sich fragend einen Finger ans Kinn legt und diese nachdenkliche Pose zwei Minuten lang, am Ende zitternd durchhält; dann ist klar: Das Konzept dieses Workshops geht auf.