Die Gazi-Universität in Ankara ist mit 50.000 Studierenden eine der größten Universitäten der Türkei. Auf dem Hauptcampus unterhalten sich Studierende vor einer Büste des Staatsvaters Kemal Atatürk. Er selbst hat die Uni vor knapp 90 Jahren gegründet. Melih Bal, wacher Blick, Drei-Tage-Bart, studiert hier Maschinenbau im Master. Der 25-Jährige hat sich die Unterschrift Atatürks auf den Hals tätowieren lassen - als Zeichen der Unterstützung für die kemalistische Partei CHP.
"Politik ist für uns alle ein wichtiges Thema, denke ich. Die Tagespolitik beeinflusst sehr stark die Art, wie wir leben können. Apolitisch zu sein ist in einem System wie der Türkei der falsche Weg."
Die Studierenden sind eine wichtige Wählergruppe in der Türkei. Ihre Anzahl ist seit 2002 geradezu explodiert: Von zwei auf heute knapp fünf Millionen. Die regierende islamisch-konservative AKP erklärt dies stolz damit, dass es heute mehr Studienplätze in der Türkei gibt und mehr Schüler die Zentrale Prüfung für den Hochschulzugang bestehen. Die Zahlen der Dozenten konnten mit dem Studierendenwachstum aber nicht mithalten. An seiner alten Universität in der Stadt Mersin, erzählt Bal, kamen auf 300 angehende Ingenieure zwei Professoren.
"Es gibt wenige Professoren, weil man an der Hochschule nicht so gut verdient. Weil sie im privaten Sektor mehr verdienen können, weil sie dort bessere Bedingungen haben, entscheiden sie sich eher nicht für die unangenehme Arbeit an der Uni."
Bildungsniveau hat sich verbessert
Unangenehm ist die Arbeit an den Unis auch, weil sich das staatliche Kontrollgremium, der türkische Hochschulrat, immer wieder in ihre Arbeit einschaltet. Die Politiker müssten mehr Geld für Dozenten freigeben und sich weniger in die Forschung einmischen, fordert Bal.
Andere kritisieren, dass das türkische Bildungssystem die Studierenden kaum zum eigenen Denken zwinge. So sagt zum Beispiel Studentin Fulya Doğru:
"Sie unterschätzen, wie wichtig Bildung ist. Sie schreiben die Klausuren nur mit den Notizen ihrer Freunde. Also gehen sie nicht zu den Vorlesungen."
Lösungen könne man sogar im Copyshop kaufen, erzählt die 24-jährige aus Istanbul, die sich selbst als religiös bezeichnet. Die AKP hält das System aber für zielgerecht. Möglichst viele Studierende sollen schnell als Arbeitskräfte in die wachsende türkische Wirtschaft eingespeist werden.
Unterschlagungsvorwürfe gegen die AKP
Die AKP war schon 2002 mit dem Versprechen angetreten, das türkische Bildungsniveau zu verbessern - und tatsächlich hat sie die Ausgaben für Universitäten mehr als verdreifacht. Allerdings versickerte auch immer wieder Geld, das eigentlich Studierenden zukommen sollte, in dunklen Kanälen. So drohte die EU vor einem Jahr damit, die Türkei aus dem Erasmus-Programm zu streichen, nachdem der türkische Europaminister Fördergelder unterschlagen haben soll. Das verärgert auch Doğru, die der AKP eigentlich nahe steht.
"Ich habe viele Zweifel deswegen. Die AKP hat Geld genommen. Es gibt Verfahren gegen ihre Ministerien. Sie müssen jetzt beweisen, dass sie unschuldig sind."
Als ehrlicher Freund der Studierenden will sich hingegen die Oppositionspartei CHP präsentieren. Sie verspricht in ihrem Wahlprogramm mehr Stipendien, eine größere Autonomie für die Hochschulen und mehr Mitspracherechte für Studierendenvertretungen. Für Doğru steht die CHP aber vor allem für die Unterdrückung religiöser Gefühle.
"Vor zehn Jahren konnte wegen ihnen ein Mädchen nicht zur Uni gehen, nur weil sie ein Kopftuch trägt. Wie kann man sagen, dass diese Leute modern sind? Das Beste, was die AKP etabliert hat, ist die Religionsfreiheit."
Forderung nach mehr Freiheit für Bildung
Melih Bal sieht das ganz anders. Er erwähnt die Aussage des Religionsministers Mehmet Görmez, auf jedem Campus in der Türkei solle eine Moschee stehen. Die AKP schränke aufgrund islamischer Dogmen die Forschungsfreiheit ein. Wenn die Partei am Sonntag gewinnt, sagt Bal, sei das für Studierende eine Strafe.
"Die oppositionellen Studierenden, die demokratisch denken, werden noch stärker schikaniert werden. Es wird noch mehr Druck an den Universitäten geben, eine noch autoritärere Situation."
Türkische Studierende fordern mehr Freiheit in der Bildung - ob sich dies bei einem Sieg der regierenden AKP aber erfüllen wird, ist mehr als fraglich. Momentan liegt sie in den Umfragen bei knapp 43 Prozent und damit deutlich vor allen anderen Parteien. Samuel Acker hatte dazu Informationen aus Ankara.