Heinrich Detering wendet sich in seinem Buch dem Leben und Werk von sieben Autoren zu: Johann Joachim Winckelmann, August von Platen, Heinrich von Kleist, Adalbert von Chamisso, Hans Christian Andersen, Hermann Bang und Thomas Mann.
Die Studie handelt von der literarischen Produktivität des Verbotenen. Was öffentlich nicht ausgesprochen werden darf, davon können literarische Texte doch reden – indem sie sich kalkulierter Doppelbödigkeit bedienen, das Verbot überlisten. Detering wendet sich einem der wirkungsmächtigsten Tabus der Literaturgeschichte zu, der Thematisierung der Liebe zwischen Männern.
In den zwei Jahrzehnten zwischen der Erstausgabe 1994 und dem Neudruck in diesem Jahr hat sich das gesellschaftliche Klima in Einschätzung und Tolerierung der Homosexualität deutlich verändert. Der Hinweis auf Klaus Wowereits legendäres Outing "Ich bin schwul - und das ist auch gut so!" im Juni 2001 mag hier genügen. Mit diesem Bekenntnis wurde das offene Geheimnis enttabuisiert, die vorher auf Außenseiterkreise beschränkte Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften rückte von den Rändern in die Mitte der Gesellschaft.
Auch, wenn in dieser Hinsicht heute zum Glück Unterdrückung und Verdrängung abnehmen, betont Detering zu recht die bleibende Aktualität seiner Untersuchung:
"Wir wollen doch hoffen, dass man von einer Historisierung sprechen kann oder jedenfalls bald wird sprechen können, nur glaube ich nicht, dass sich damit das, was ich in dem Buch versucht habe, erledigt hat. Es geht ja um bedeutende Autoren und bedeutende Texte und es geht auch um die Frage, wie eigentlich Biografie, autobiografisches Schreiben und die Freiheit der Fiktion genetisch miteinander zusammenhängen. Das sind Fragen der Literatur- und Kulturgeschichte, auch der Sozialgeschichte, der Diskursgeschichte, die sich mit einer Historisierung natürlich nicht erledigen, sondern die aktuell bleiben, solange diese Texte gelesen werden. Damals übrigens, als ich an dem Buch schrieb, war es gerade zum ersten Mal vorgekommen, dass in Dänemark ein homosexuelles Paar eine eingetragene Lebenspartnerschaft schließen konnte. Das kam sozusagen in die Schlussphase meiner Arbeit hinein und hatte etwas außerordentlich Ermutigendes."
Biografische Spurensuche
Im Rückblick auf die Entstehungszeit der Habilitationsschrift in den frühen 90er-Jahren ist eine weitere Veränderung bemerkenswert: die Abkehr von der Beschränkung auf Beschreibung und Interpretation literarischer Texte ohne Einbezug der Biografie ihrer Verfasser.
"Es ist ja auch noch ein zweites Tabu seither gefallen, nämlich das damals noch sehr vehemente literaturwissenschaftliche Tabu einer Beschäftigung mit dem Autor. Es gibt in meinem Buch ein Pathos des Autors oder sagen wir ein Pathos des Individuellen, das in der Zeit, in der dies Buch geschrieben wurde, gegen den Mainstream der Literaturwissenschaften stand. Auch das hat sich hoffentlich inzwischen erledigt."
In den Passagen zum Leben der sieben Autoren verzichtet Detering konsequent auf biografische Spurensuche und psychoanalytische Reflexion zur Entstehung der Homosexualität im Einzelfall. Sein Ausgangspunkt sind vielmehr die äußeren Bedingungen, die zum Verstecken homosexueller Liebe, zu ihrer Verdrängung und Verleugnung oder zu einem Doppelleben führten. Verbunden mit sorgfältigen Interpretationen wie der "Penthesilea" oder dem "Peter Schlemihl" gelingt Detering die von ihm intendierte Synthese von biografischer Betrachtung und Werkanalyse.
Zu den äußeren biografischen, die Würdigung eines Autors - oft weit über dessen Tod hinaus - prägenden Bedingungen, gehört das "Outing" durch Kollegen. Im Falle Winckelmanns, der seine Liebe zum livländischen Freiherrn Reinhold von Berg in seiner "Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, und dem Unterrichte in derselben" zu einer Kunstreligion sublimierte, hat Goethe dies klug und respektvoll in seinen "Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns" getan: Zitat - "So finden wir Winckelmann oft in Verhältnis mit schönen Jünglingen, und niemals erscheint er belebter und liebenswürdiger als in solchen oft nur flüchtigen Augenblicken." Platen hingegen, der seine Homosexualität in den Ghaselen kaum versteckte, sah sich dem perfiden Spott Heinrich Heines ausgesetzt. Bei Heinrich von Kleist wiederum entschlüsselt Detering die in den Dramen und Novellen verborgenen Botschaften vor allem mithilfe der Liebesbriefe des jungen Kleists an seinen Freund Pfuel.
Homoerotische Selbstinterpretation bei Thomas Mann?
Die wichtigste Rolle in Deterings Buch spielt Thomas Mann, nicht nur als Verfasser eines homoerotisch aufgeladenen Erzählwerks, sondern auch als Kenner und Vermittler eines so bedeutenden Sektors der Weltliteratur - Zitat: "Ginge die homoerotische Literatur von Winckelmann bis zu Hermann Bang, von Andersen bis zu Whitman, von Platons "Phaidros" bis zu Gides "Corydon" verloren - aus Thomas Manns Werk ließe sie sich rekonstruieren." Die Tagebücher Manns, das wichtigste autobiografische Bekenntnis zu seiner Homosexualität, erschienen zeitlich parallel zur Arbeit an Deterings Habilitationsschrift. In seiner knappen Nachbemerkung zur Studienausgabe 2002, deren unveränderter Nachdruck 2013 hier vorgestellt wird, hat er betont, auf ihre nachträgliche Einarbeitung bewusst verzichtet zu haben. Ausgangspunkt im Thomas-Mann-Kapitel ist deshalb ein Essay, die kleine Abhandlung "Die Ehe im Übergang" aus dem Jahr 1925, für Detering die wichtigste öffentliche Reflexion Manns über Homoerotik. Vor deren Hintergrund versteht Detering den "Tonio Kröger" noch als camouflierende Kontrafaktur des Oscar Wildeschen "Dorian Gray". Mit dem "Tod in Venedig" habe dann Mann den Schleier gelüpft und mit "Tadzio" auf "Hans Hansen" zurückblickend eine erste offene homoerotische Selbstinterpretation gewagt.
Wie weit dies alles nun doch Geschichte geworden sein mag, so aktuell bleibt ein im Zentrum der Deteringschen Studie stehender methodischer Begriff, der inzwischen zu seiner Freude auch Aufnahme in die Neuauflage des "Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft" gefunden hat, der Begriff der literarischen "Camouflage":
Die Suche nach einem Tabu
"Wenn unsere optimistischen Erwartungen nicht enttäuscht werden, dann leben wir in Zeiten, in denen im Blick auf Homoerotik und Homosexualität Camouflage nicht mehr notwendig ist, das ist gut so. Aber es bleibt im Blick auf die literarischen Texte und Epochen und Autoren, mit denen ich mich in meinem Buch beschäftige, natürlich unverändert, dass sie solchen restriktiven Bedingungen von Sprachverbot, von Schreibverbot, von Denkverboten haben schreiben und sich schreibend behaupten müssen. Insofern verliert der Begriff und verliert das Methodische meines Zugriffes da gar nichts an Bedeutung, leider. Es wäre schön, wenn man zaubern und das ändern könnte. Andererseits ging es mir ja mit dem Versuch, dem Begriff Camouflage den Status eines literaturwissenschaftlichen Terminus zu geben, um etwas Grundlegendes, das ich am Beispiel des Schreibens über Homosexualität nur exemplarisch untersuchen wollte. Ich hatte mich auf die Suche gemacht nach einem Tabu, einem Schreibverbot, das besonders dauerhaft sich durch verschiedene kulturelle Epochen hindurch erhalten hat. Da bot sich das sexuelle Tabu an, aber die Geschichte seither hat gezeigt, dass dieser Begriff auch auf andere, zum Beispiel politische Unterdrückungsformen und literarischen Widerstand nutzbringend angewendet werden kann."
Die Lektüre der Deteringschen Habilitationsschrift mit ihrem Zitatenreichtum aus zum Teil abgelegenen Quellen bringt auch dem Gewinn, der sich nur einem der Autoren zuwenden will. Oder der einfach neugierig ist auf die Interpretation eines Werkes wie der Kleistschen "Penthesilea", der Andersenschen Märchen oder einer der Novellen von Thomas Mann aus dem besonderen Blickwinkel dieses Buches.