Am 13.Juni 2022 wurde eine Studie zu sexualisierter Gewalt im Bistum Münster zwischen 1945 und 2020 vorgestellt. Ein Team von fünf Historikerinnen und Historikern der Universität Münster arbeitet seit Oktober 2019 unter Leitung der Historiker Thomas Großbölting und Klaus Große Kracht daran. In Auftrag gegeben und finanziert wurde das Projekt vom Bistum Münster, welches mehrfach betont hat, den Forschenden die Archive zu öffnen und freie Hand zu lassen.
Ergebnisse der Studie zu Missbrauch im Bistum Münster
Die Studie weist nach, dass es mindestens 196 Priester im Bistum Münster gibt, die beschuldigt werden, sexuellen Missbrauch begangen zu haben. Zähle man diejenigen Priester, die ihre Taten zwar nicht im Bistum vollzogen, aber im Bistum gearbeitet haben, ergebe sich eine Zahl von 210. Es sind also 4,1 beziehungsweise 4,5 Prozent der Priester im Bistum Münster beschuldigt, sexuellen Missbrauch begangen zu haben. Die Zahl der Betroffenen liegt der Studie zufolge bei etwa 610 Opfern, wobei das Dunkelfeld erheblich höher liegen könnte.
Es geht in der Studie nicht nur um bereits verstorbene, sondern auch noch lebende Akteure. Diese wurden sowohl in die quantitative Studie mit einbezogen, wie auch in Fallgeschichten modelliert, so der Studienleiter Thomas Großbölting. Bei den noch lebenden Akteuren können aber aus Datenschutz- und Presserechtaspekten keine Namen genannt werden.
Unterschiede der Studie im Vergleich zu anderen Studien zu Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche
Das neue Gutachten zu Münster wurde von Historikern erstellt, nicht von Juristen, wie beispielsweise die Gutachten zu Aachen, Köln, München und Freising. Die Münsteraner Studie bezieht dennoch auch (kirchen-)rechtliche Aspekte mit ein, sie stützt sich dabei auf das Pflichtenkreis-Modell, dass der Strafrechtler Björn Gercke für das Erzbistum Köln entwickelt hat. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben nicht nur kirchliche Akten ausgewertet, sondern auch mit Betroffenen gesprochen. Die Aussage von Akten ist angesichts von Aktenvernichtungen ohnehin nur begrenzt.
Der Zugang zum Untersuchungsfeld ändert sich durch die historische Perspektive: Es geht nicht allein um juristisch festzustellende Schuld, sondern es geht um die historische Rekonstruktion eines Umfelds, indem Missbrauch befördert und gleichzeitig die Aufklärung der Taten erschwert und behindert wurde – konkret um die Einstellungen und Mentalitäten in den Gemeinden und in der Bistumsleitung.
Um einige zu nennen: Fast jede und jede kam mit der römisch-katholischen Kirche in Kontakt, weil sie im Alltag sehr präsent war. Es ergaben sich für Täter viele Gelegenheiten, um Übergriffe gegenüber Kindern und Jugendlichen anzubahnen. Die Mehrheit der betroffenen Kinder und Jugendlichen war der katholischen Kirche hochverbunden, etwa als Messdiener oder in der Jugendarbeit. Die Priester waren gerade in katholischen Gegenden eine unbestrittene Autorität. Wenn Priester zu Missbrauchs-Tätern wurden, konnten sie aufgrund ihrer Machtposition dafür sorgen, dass die Opfer schwiegen oder, wenn die Betroffenen doch mit jemanden redeten, dass ihnen niemand glaubte.
Was der historische Blick auch zeigt: Die Bischöfe hatten die Macht, die klerikalen Täter zu schützen und die Öffentlichkeit fernzuhalten. Da die römisch-katholische Kirche als moralische Instanz galt, hatten die Bischöfe keine kritischen Nachfragen seitens der Politik und der Justiz zu fürchten.
Die Studie beleuchtet überdies ein systematisches Versagen der Bistumsleitung in Münster über Jahrzehnte hinweg. Im Fokus stehen dabei vor allem die Bischöfe von Münster, wie etwa Reinhard Lettmann, der Vorgänger des derzeitigen Amtsinhabers Felix Genn.
Ergebnisse der Studie zu den spezifisch „katholischen Ermöglichungsbedingungen“
Die Studie beleuchtet nach Aussagen des Studienleiters Thomas Großbölting die spezifisch „katholischen Ermöglichungsbedingen“ im Kontext von Politik, Gesellschaft und katholischer Kirche. Das betrifft vor allem den Zölibat, die Autoritätsstruktur und die Sexualmoral. Im Hinblick auf diese Aspekte habe die katholische Kirche besondere Bedingungen geschaffen, in dem Missbrauch ermöglicht und das Vertuschen begünstigt wird.
Dazu gehört der Studie zufolge ein spezifisches kirchliches Selbstverständnis, indem sich die Kirche als heilige Institution begreife und über die Sakramententheologie die einzelnen Priester in diese Auffassung einbeziehe. Der Priester ist demnach als „heiliger Mann“ markiert – im Unterschied zu den Laien. Dieses Verständnis bildet der Studie zufolge die Grundlage für die Pastoralmacht, die es dem klerikalen Missbrauchstäter wiederum ermögliche, gegenüber Kindern übergriffig zu werden. Überdies, so Studienleiter Thomas Großbölting, motiviere diese Selbstbeschreibung einen großen Teil der Vertuschung – da die Institution als „heilig“ aufgefasst wird, gebe es eine große Motivation, diese Institution vor Rufschaden zu schützen.
Als weiterer wichtiger Punkt wird die vorherrschende Sexualmoral hervorgehoben: In der katholischen Kirche falle die gesetzte Norm und die Lebensrealität katholischer Laien wie auch Kleriker auseinander. Daraus entstehe eine Atmosphäre der Doppelbödigkeit, der Bigotterie, des Schweigens und der Scham, die es einem kleinen Teil von pädosexuell fixierten Tätern erleichtere, ihre Taten zu vollbringen, es gleichzeitig aber den Betroffenen erschwere, über das erlittene Unrecht zu sprechen.
Die Rolle der Laien in den Gemeinden
Der Studie zufolge gibt es ein hohes implizites Wissen um sexuellen Missbrauch nicht nur unter Klerikern selbst und in den Jahrgängen der Bistumsleitung, sondern auch in den Gemeinden. Doch aufgrund der moralischen Autorität der Kirche schreckten besonders die Laienorganisationen in den Gemeinden, aber auch die Politik, lange davor zurück, die Missbrauchsfälle offen aufzugreifen und zu skandalisieren – bis zum Jahr 2010.
Die Studie räumt demnach mit der Behauptung „Wir haben nichts davon gewusst“ auf. Viele waren Mitwisser, seien es Gemeindemitglieder oder die Pfarrhaushälterin eines klerikalen Täters. Es gibt Fälle, in denen fast ein ganzes Dorf von der sexualisierten Gewalt wusste und niemand zugunsten des Opfers einschritt. „Bystander“ betreiben überdies häufig einen Klerikalismus von unten und halten auch bei erwiesenen Taten noch zum Beschuldigten, leugnen oder bagatellisieren die Taten und grenzen die Betroffenen aus.
Quellen: Thomas Großbölting, Christiane Florin, Benedikt Schulz