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Studie zu Alleinerziehenden
"Armut für Kinder das größte Entwicklungsrisiko"

Frühe Kindheitserfahrungen in Armut seien besonders schlimm, sagte die Expertin für Familienpolitik der Bertelsmann-Stiftung, Annette Stein, im DLF. Die zentrale Ursache dafür, dass viele Alleinerziehende mit Kindern nicht über die Armutsgrenze kämen, sei, dass bei 75 Prozent der Kinder gar kein oder nur ein geringer Unterhalt gezahlt werde.

Annette Stein im Gespräch mit Ursula Mense |
    Bunte Figuren an einem Kinderspielplatz.
    Armut ist für Kinder eine lebenslange Belastung. (Imago / Chromorange)
    Ursula Mense: Eigentlich wissen wir es schon lange, aber heute hat die Bertelsmann-Stiftung mit einer neuen Studie noch einmal den Finger in die Wunde gelegt. Die Gefahr, arm zu werden, ist für Alleinerziehende und ihre Kinder besonders groß. Von den etwa acht Millionen Familien mit minderjährigen Kindern besteht jede fünfte nur aus einem Elternteil plus einem oder mehr Kindern, und diese Zahl wächst beständig. 2,3 Millionen Kinder wachsen inzwischen so auf, die meisten, fast 90 Prozent, bei ihren Müttern. Und von denen gelten mehr als 42 Prozent als arm. Fast eine Million Kinder leben von Hartz IV. Warum das so ist, habe ich die Expertin für Familienpolitik, Annette Stein, von der Bertelsmann-Stiftung gefragt.
    Annette Stein: Ja, das Armutsrisiko ist tatsächlich in den letzten Jahren für Alleinerziehende noch mal gestiegen, und das zeigt, dass die Politik für Familien, für alleinerziehende Familien ganz offensichtlich nicht wirkt. Ein besonderes Problem besteht darin, dass für sehr viele Kinder von Alleinerziehenden gar kein oder nur ein geringer Unterhalt gezahlt wird. Das trifft drei von vier Kindern, also 75 Prozent. Und dieser ausbleibende Unterhalt ist die zentrale Ursache dafür, dass so viele Ein-Eltern-Familien nicht über die Armutsgrenze kommen.
    Mense: Das heißt aber, die Väter zahlen in dem Fall dann nicht?
    Stein: Meistens sind es Väter. Bei neun von zehn Kindern ist es die Mutter, die die Alleinerziehende ist, und insofern trifft es meistens die Väter. Aber das kann natürlich auch umgekehrt der Fall sein. Der Unterhalt fließt nicht. Wir wissen allerdings viel zu wenig darüber, warum der nicht gezahlt wird, denn das kann ja unterschiedliche Gründe haben.
    Mense: Nicht nur böser Wille?
    Stein: Nicht nur böser Wille, sondern tatsächlich auch das Unvermögen, zahlen zu können. Wenn selber das Einkommen so niedrig ist oder Arbeitslosigkeit dafür sorgt, dass kein Einkommen da ist, dann kann ein Unterhaltspflichtiger letztendlich auch nicht den Unterhalt für die Kinder zahlen, und das ist häufig auch der Grund. Nur leider wissen wir nicht, wie oft das der Grund ist und wie oft jemand nicht zahlen möchte, aus welchem Grunde auch immer dann.
    Mense: Warum wissen wir das eigentlich nicht?
    Stein: Das wird, ehrlich gesagt, zu wenig untersucht und geforscht. Da wird zu wenig Ursachenforschung betrieben.
    Mense: Und an wen geht jetzt diese Kritik? Sie könnten das nicht machen?
    Stein: Das würde die Möglichkeiten der Bertelsmann-Stiftung mit Sicherheit übertreffen. Der staatliche Unterhaltsvorschuss ist eine Bundesleistung. Das heißt, der Bund ist hier gefragt. Aber mit Sicherheit auch die Länder und die Kommunen, denn dort werden dann entsprechend die Leistungen gewährt beziehungsweise Regelungen dafür getroffen, um auch das Geld wieder zurückzubekommen. Es müssten sich die staatlichen Behörden im Grunde genommen darauf verständigen, wie man besser herausfindet, was die Ursachen sind, um dann auch wirksamer dagegen vorgehen zu können.
    Mense: Wenn Sie sagen, die Hälfte der Alleinerziehenden bekommt keinen Unterhalt von den Vätern, das ist ja schon mal eine ganze Menge. Da sollte dann der Staat einspringen. Tut er das?
    Stein: Ja, es gibt den staatlichen Unterhaltsvorschuss, und das ist auch grundsätzlich eine sehr sinnvolle Einrichtung. Fast eine halbe Million Kinder bekommen diesen staatlichen Unterhaltsvorschuss jährlich. Aber das Problem ist, der ist begrenzt. Den bekommt man maximal für sechs Jahre und nicht, wenn man älter als 13 Jahre alt ist. Und das zeigt auch wieder, dass Politik für Eltern an dieser Stelle, für Ein-Eltern-Familien an der Realität vorbei gehen, denn Kinder haben natürlich von null bis 18 Jahren Bedarfe, die gedeckt werden müssen, und so müsste auch der staatliche Unterhaltsvorschuss laufen.
    Mense: Aber da gibt es wahrscheinlich auch keinen Grund, warum das so ist, die Kinder bis 18 zu fördern?
    Stein: Das erscheint etwas willkürlich, dass das begrenzt ist, dass es nur für die ersten zwölf Lebensjahre ist und auch nur für sechs Jahre. Das kann man jedenfalls aus gleichheitsrechtlichen Aspekten nicht begründen, und vor allen Dingen ist das auch ein Problem aus diesem Grund heraus.
    Mense: Wir sollten noch kurz über die Summen sprechen. Die sind nämlich mehr als gering. 145 Euro bekommt eine alleinerziehende Mutter. Gehen wir jetzt mal davon aus, weil es ja meistens die Mütter sind. Und wenn ein Kind älter ist als sechs Jahre 190 Euro. Das scheint sehr wenig zu sein.
    Stein: Das sind keine Riesensummen, das ist richtig. Aber es wäre den Familien trotzdem erst mal sehr geholfen, wenn wenigstens dieses Geld da wäre. Jetzt ist das ja nicht der Fall und das ist der Grund, obwohl die Mehrzahl der Alleinerziehenden berufstätig ist, dass es ihnen nicht gelingt, mit ihrem eigenen Einkommen ihre eigenen Bedarfe und die dann der Kinder zu decken. Insofern: Wenn wir schon mal diese kleinen oder geringen Beiträge hätten, wäre schon viel geholfen.
    Mense: Vielleicht noch kurz: Wenn Kinder in einer solchen Armut aufwachsen, was bedeutet das eigentlich für deren Zukunft, für ihre Chancen, für ihren Platz in der Gesellschaft?
    Stein: Wir wissen, dass Armut für Kinder das größte Entwicklungsrisiko überhaupt darstellt, und das betrifft ihre Gesundheit, ihre Bildung und ihre gesamte Entwicklung, dass sie überhaupt gut in die Lage versetzt werden, später einmal selber für sich zu sorgen. Frühe Kindheitserfahrungen in Armut sind besonders schlimm und das heißt auch, das kann man hinterher nicht alles weg machen, was in der Zeit dann an Belastung und an negativen Erfahrungen passiert und erfolgt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.