Sandra Schulz: Seit Tagen beschäftigt jetzt die tödliche Messerattacke auf eine 15-Jährige im rheinland-pfälzischen Kandel die Republik. Zuletzt hatte sich die Diskussion um die Frage gedreht, ob medizinische Alterstests für jugendliche Flüchtlinge zur Pflicht gemacht werden sollen, denn es gab ja Zweifel daran, ob der Tatverdächtige im Fall Kandel, ein Flüchtling aus Afghanistan, dessen Alter offiziell mit 15 angegeben wurde, ob der auch wirklich minderjährig ist. Der Fall war natürlich auch neuer Stoff für die Flüchtlingsdiskussion in unserem Land insgesamt. Viele, die finden und beklagen, mit den Flüchtlingen komme vor allem Gewalt und Kriminalität nach Deutschland, fühlen sich durch den Fall jetzt bestätigt. Und da sind die Zahlen interessant, die jetzt die Züricher Hochschule für angewandte Wissenschaften vorlegt, in einer Studie, die das Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben hat.
Gerwald Herter fasste zusammen. Und einer der Autoren der Studie ist der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer, der ist jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!
Christian Pfeiffer: Morgen, Frau Schulz!
Schulz: Wir sprechen über Zahlen aus Niedersachsen. Wie repräsentativ sind die für den Bund?
Pfeiffer: Generell kann man sagen, dass Niedersachsen ziemlich genau dem Bundesdurchschnitt entspricht, und von daher kann man die Grunderkenntnisse, die wir hier gewonnen haben, durchaus auf den Bund übertragen.
Erhöhte Anzeigequote bei Flüchtlingen
Schulz: Also eine Basis für eine bundesweite Diskussion. Sie zeigen jetzt ja, dass die Gewaltkriminalität in Niedersachsen seit 2014 wieder steigt, dass der Anstieg zu mehr als 90 Prozent den Flüchtlingen zuzurechnen ist. Heißt das dann auch, dass Sie eben das zeigen, was viele Menschen ja auch sagen, nämlich dass mit Flüchtlingen Gewalt und Kriminalität zu uns kommt?
Pfeiffer: Ja. Eine ganz wichtige Relativierung ist ja gerade erwähnt worden, und das spielt schon eine große Rolle, dass wenn Max von Moritz überfallen wird, Deutsche unter sich, die Anzeigequote nur bei 13 Prozent liegt. Aber wenn der Angreifer ein Mehmet ist oder ein Igor, dann steigt es gleich auf mehr als das Doppelte an. Und das gilt gerade dann, wenn es sich bei den Angreifern um Menschen handelt, die die Sprache gar nicht sprechen, mit denen man auch nicht reden kann über Schadensausgleich oder irgendwas. Also, diese erhöhte Anzeigequote bei Flüchtlingen, das ist ein großer Erklärungsfaktor. Und dann die riesigen Unterschiede, die innerhalb der Gruppe der Flüchtlinge bestehen. Da sieht man, diejenigen, die Chancen haben, die, die wir als Kriegsflüchtlinge bezeichnen, die verhalten sich relativ angepasst und vermeiden alles, was irgendwelchen Ärger bringen könnte. Völlig anders sieht es aus mit denen, die gleich nach ihrer Ankunft erfahren haben, ihr seid hier völlig unerwünscht, keine Chance, hier arbeiten zu dürfen, bleiben zu dürfen.
Schulz: Aber das klingt ein bisschen so, als sei es ja klar, dass die, die eben keine Chance, keine Perspektive haben, dass man von denen auch nicht erwarten kann, dass die sich dann an unsere Gesetze halten.
Pfeiffer: Leider ja. Man muss von daher prüfen, wie kann man mit dem Problem umgehen. Denn wir haben im letzten Jahr 327.000 Menschen in Deutschland gehabt, die ihren Asylantrag abgelehnt bekommen haben, die jetzt ziemlich frustriert, enttäuscht sind. Gut, 200.000 von denen haben noch eine Frist. Die haben Klage eingereicht. Aber auch das wird irgendwann auslaufen, und 95 Prozent werden erneut wie im letzten Jahr erfahren, keine Chance, hier bleiben zu dürfen. Und dann wird es kritisch. Das sind einfach zu viele, dass das dann keine Wirkungen hinterließe. Also muss sich die Regierung schon was einfallen lassen, die neue Bundesregierung, ob sie nicht hier ein riesiges Rückkehrprogramm ins Laufen bringt, ein freiwilliges, weil das mit den Ausweisungen ein extrem mühsamer Weg ist.
Beides ist bisher nicht die Lösung der Probleme
Schulz: Ja, aber den Schritt zurück möchte ich gern noch machen: Wenn Sie sagen, ja, das ist leider so, dass man das von denen nicht erwarten kann, dann sind wir da ja an einem ganz zentralen Punkt der Diskussion. Warum kann man das nicht erwarten?
Pfeiffer: Menschen, die im Grunde dann nur die Perspektive haben, durch Schwarzarbeit hier in Deutschland sich ausbeuten zu lassen von irgendwelchen Arbeitgebern, die das als große Gelegenheit sehen, mehr Geld zu verdienen, das ist keine Lebensperspektive. Die Kriminalität ist die Alternative, und das können wir nicht akzeptieren. Von daher sitzt diese große Zahl von Menschen, die ohne Chancen, hier bleiben zu dürfen, nach Deutschland gekommen sind, wirklich in der Falle, und wir müssen alles tun, dass sie da rauskommen. Die Ausweisung in die große Niederlage hinzuzufügen, das ist kritisch und schwierig und ist ja auch im letzten Jahr nur 21.000 Mal geschehen, ein paar mehr, 27.000, sind dann freiwillig gegangen. Von daher sehen wir, beides ist bisher nicht die Lösung der Probleme, die auf uns warten.
Schulz: Das Rückkehrprogramm, das Sie vorschlagen, ist jetzt eine Idee, die in der Diskussion tatsächlich auch schon einige Zeit eine Rolle spielt. Wir haben Erfahrungen aus Frankreich, da fährt man inzwischen Rückkehrerprogramme zurück, weil man sagt, es gibt zu viele Mitnahmeeffekte. Was macht Sie da so zuversichtlich, dass das für ein deutsches Rückkehrerprogramm klappen könnte?
Pfeiffer: Ich sage nicht zuversichtlich. Ich wäge nur Optionen ab, die wir haben, und da fällt doch auf, dass die Länder, aus denen diese Flüchtlinge gekommen sind, sich bisher ziemlich hartnäckig weigern, ihre Landsleute zurückzunehmen. Da, meine ich, muss man prüfen, ob Entwicklungshilfegelder hier zu einer veränderten Einstellung und Verhaltensweise der Länder führen. Und dann sehe ich die Notwendigkeit, dass man diese Flüchtlinge auch an unseren Kursen teilnehmen lässt. Denn wenn sie Deutsch gelernt haben, wenigstens einigermaßen, dann können sie zu Hause in der Touristikbranche irgendwo einen Job finden. Wenn sie Grundfertigkeiten in bestimmten Arbeitssektoren erreicht haben, dann können sie zu Hause auch einen Job finden. Also all das lohnt sich, die Investitionen in diese Menschen, damit sie rückkehrwillig sind. Und wenn der Staat dann auch noch Geld dafür bekommt, dass er große Arbeitsmarktprogramme bei sich für diese jungen Männer entfalten kann, dann weiß ich nicht, was da falsch sein sollte.
Integration der hier lebenden Migrantenfamilien sehr gut gelungen
Schulz: Ja, das ist eine Diskussion, die jetzt sicherlich auch Zukunftsmusik ist in weiten Teilen. Wenn wir jetzt noch mal auf die aktuelle Situation schauen, da ist ja eine große sehr positive Nachricht aus Ihrer Studie, dass die Gewaltkriminalität zurückgeht, anders, als das der eine oder andere Bürger vielleicht gefühlt wahrnimmt. Was ist da der Unterschied, warum unterscheiden sich die Flüchtlinge so in diesem Bild, warum weichen die da so deutlich ab?
Pfeiffer: Erst einmal, die Ausgangsbevölkerung Deutschlands, da haben wir seit Langem stabile Verhältnisse, weil sich bei uns die Erziehungskultur verändert hat, mehr Liebe, weniger Hiebe der Eltern. Weil die Jugendarbeitslosigkeit zurückgegangen ist, weil die Integration der hier lebenden Migrantenfamilien sehr gut gelungen ist. Wir haben lauter Erfolgsmeldungen bis zu dem Jahr, als dann die große Flüchtlingswelle kam. Und das bleibt ja alles unverändert im Trend erhalten. Die mit einem deutschen ausgestatteten Migranten, all die sind ja nicht mehr gewalttätig, sondern weniger. Jetzt kommt es allesentscheidend darauf an, dass wir diesen guten Trend, den wir eigentlich haben, auch übertragen können auf die Kriegsflüchtlinge, die hier bleiben dürfen. Da sehe ich Chancen und würde mich nicht wundern, wenn sich deren Stabilisierung im Jahr 2017 gut fortgesetzt hat und wir dort sogar sinkende Zahlen haben werden. Und dann hängt alles von dieser einen großen Gruppe ab der Flüchtlinge, die wir unwillkommen geheißen haben, die wir nicht hier haben wollen. Dass wir da Lösungen finden. Wenn das auch gelingen sollte, dann kann man wieder entspannter in die Zukunft schauen.
Schulz: Der Kriminologe Christian Pfeiffer, Mitautor einer Studie der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland mit dem Schwerpunkt Jugendliche und Flüchtlinge, heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk im Interview. Danke Ihnen ganz herzlich!
Pfeiffer: Danke, Frau Schulz!
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