Regina Brinkmann: Ganztagsschulen verbessern das Sozialverhalten, aber nicht unbedingt die Leistungen der Schüler. Das ist in aller Kürze ein zentrales Ergebnis der sogenannten "StEG"-Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen, über die wir hier vor ziemlich genau zwei Wochen berichtet haben. Doch damit ist offensichtlich noch nicht alles gesagt zur Situation im Ganztagsschulwesen. Heute hat nämlich die Bertelsmann-Stiftung nachgelegt und eine weitere Studie veröffentlicht. Einer ihrer Autoren ist Dirk Zorn. Ich habe ihn gefragt, warum noch eine Studie über Ganztagsschulen, und was hat sie zu bieten?
Dirk Zorn: Die Berichterstattung vor zwei Wochen, als die Ergebnisse der "StEG"-Studie vorgestellt wurden, hat ja darauf hingewiesen, dass sich Ernüchterung breit gemacht hat im Land der Bildungseuphoriker, die gesagt haben, Ganztagsschule soll für Chancengerechtigkeit wirken. Mich hat diese Ernüchterung ein wenig erstaunt, denn man kann sich eigentlich nur ernüchtert fühlen, wenn man glaubt, dass alle Schulen schon über gleiche Voraussetzungen verfügen, um überhaupt chancengerecht wirken zu können. Unsere Studie hingegen zeigt, dass wir, bevor wir über Qualität und Wirkung von Ganztagsschule sprechen können, zunächst mal auf Rahmenbedingungen und Ressourcen schauen sollten.
"Uns hat selbst erstaunt, dass die Spannweiten zwischen den Ländern so dramatisch ausfallen"
Brinkmann: Auf welche Rahmenbedingungen haben Sie geschaut, und zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Zorn: Wir haben uns in der Studie, die wir heute veröffentlicht haben, die gesetzlichen Vorgaben in den 16 Bundesländern für gebundene Ganztagsschulen, weil gebundene Ganztagsschulen nach unserer Auffassung die Schulen sind, die das meiste Potenzial für individuelle Förderung und Chancengerechtigkeit bieten. Uns hat insbesondere interessiert, wie viel zusätzliche Lernzeit über den Unterricht hinaus und mit welcher pädagogischen Ausstattung durch das Land werden diese Schulen versorgt, denn diese beiden Faktoren, mehr Zeit und qualifiziertes Personal sind die entscheidenden Voraussetzungen, damit Schulen überhaupt chancengerecht wirken können.
Brinkmann: Nun haben Sie ja die Länder untereinander verglichen. Da kann man ja schon ahnen, ein Bundesland macht eine gute Figur, ein anderes eine schlechtere. Wie haben sie abgeschnitten?
Zorn: In der Tat ist es so, uns hat selbst erstaunt, dass im Ländervergleich die Unterschiede, die Spannweiten zwischen den Ländern so dramatisch ausfallen. Weiterhin unterscheiden sich die Länder hier auch zwischen den Schulstufen. Insgesamt muss man sagen, schneiden Grundschulen im Mittel am besten ab. Hier stehen im Mittel über alle Länder 14 zusätzliche Stunden pro Woche für das Lernen und für individuelle Förderung bereit. Die Spannweite liegt hier zwischen acht und 22 Stunden pro Woche. In den weiterführenden Schulen sieht es noch schlechter aus.
Brinkmann: Aber nennen Sie doch mal Ross und Reiter. Wer hat jetzt gut abgeschnitten, wer eher schlecht?
Zorn: Insgesamt hat über alle Schulstufen nach der Gesetzeslage das Saarland sehr gut abgeschnitten, und auch Berlin stellt über alle Schulstufen hinweg nach unserer Auffassung ausreichend zusätzliche Lernzeit bereit, liegt in diesem Gradmesser über dem Durchschnitt und gewährt auch landesseitig ausreichend Personal in Form von Lehrkräften oder einem Mix aus Lehrkräften und Sozialpädagogen, um diese Lernzeit sinnvoll nutzen zu können.
"Der nächste Schritt wäre, Standards auch für die außerunterrichtliche Zeit zu definieren"
Brinkmann: Warum verfahren die Länder so unterschiedlich damit? Ist bei ihnen noch nicht angekommen, was Ganztagsschulkonzept sein kann, dass es eben mehr ist als vielleicht nur eine AG anzubieten, sondern vielleicht auch Unterricht passend in den Nachmittag zu verlegen?
Zorn: Ich glaube, Sie haben recht damit, dass sich hier eigentlich ein Konflikt um die Deutungshoheit oder um die richtige Interpretation dessen abspielt, was Ganztagsschule sein soll. Eigentlich kann man diese Disparitäten nur damit erklären, dass für viele Länder Ganztagsschule auch in gebundener Form nach wie vor ein Betreuungsmodell ist, wo es letztlich darum geht, die verbleibende Zeit zwischen Öffnungszeit und Unterricht die Kinder adäquat zu betreuen, sie aber nicht zu bilden und diese Zeit nicht als Lerngelegenheit zu begreifen. Hier gibt es noch keinen Konsens, das deutet auf ein großes konzeptionelles Vakuum auf Ebene der KMK hin. Mein Eindruck ist, dass die KMK sich bislang darum gedrückt hat, hier verbindliche Standards für alle Länder festzuschreiben, genauso, wie sie es ja originär ihrer Aufgabe entsprechend tut für alle Fragen, die den Unterricht betreffen. Hier gibt es Bildungsstandards, hier gibt es zentrale Abiturprüfungen und so weiter. Der nächste Schritt wäre, solche Standards auch für die außerunterrichtliche Zeit zu definieren.
Brinkmann: Hoffen Sie denn nun, indem Sie bestimmte Länder – man kann es ja vielleicht mal so sagen, an den Pranger stellen – wir haben ja jetzt eben eigentlich nur über positive Beispiele, eben Saarland und Berlin gesprochen, aber indem halt bestimmte Länder doch noch mal in ihren Defiziten in dieser Studie vorgeführt werden, dass Sie da einen gewissen Druck ausüben, der dann auch in die KMK hinein wirkt?
"Unser Ziel ist, dass die Länder sich zusammensetzen und begreifen, dass eine Ganztagsschule eine Bildungseinrichtung ist"
Zorn: Der Mehrwert unserer Studie besteht nicht darin, einzelne Länder an den Pranger zu stellen. Das möchte ich ganz klar betonen. Unsere Botschaft, die wir mit dieser Studie verknüpfen, liegt genau auf der Ebene der KMK, also auf dem länderübergreifenden Bild des Flickenteppichs an unterschiedlichen Regelungen und Prioritätensetzung, das sich hier bietet. Unser Ziel ist, dass die Länder sich zusammensetzen und begreifen, dass eine Ganztagsschule eine Bildungseinrichtung ist, in der es um Chancengerechtigkeit geht, und dass aus diesen Gründen dringend ein länderübergreifender Standard für Rahmenbedingungen, Ressourcen und für die pädagogische Praxis für die ganze Zeit in diesen Schulen definiert werden müssen. Das wäre ein ganz wichtiger Schritt.
Brinkmann: Wie bereitwillig haben die Länder denn Ihre Zahlen und Daten über ihre Ganztagsschulen denn an Sie weitergegeben?
Zorn: Das war sehr unterschiedlich. Insgesamt hat mich bei der Bearbeitung der Studie überrascht, wie viel Detektivarbeit und kriminalistische Energie man schon fast aufwenden musste, um an einzelne Daten zu kommen. Selbst in dem gerade von der Kultusministerkonferenz Ende letzten Jahres veröffentlichten Sachstandsbericht zum Thema Ganztagsschule, der ein bisschen wie ein Feigenblättchen daherkommt in Ermangelung echter KMK-Standards zu Ganztagsschulen, muss man sagen, finden sich Fehler und unvollständige Angaben. Diese mussten wir mühsam auch mit Hilfe weiterer Forscher nachrecherchieren. Teilweise musste ich mir sogar findige Wege ausfindig machen, um über Internetrecherchen an Daten heranzukommen, die ich auf offiziellem Weg über Anfragen beim Ministerium einzelner Länder nicht erhalten habe.
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