Sandra Pfister: Kinder, die nicht ihren unmittelbaren Impulsen nachgeben, sondern die sich zusammenreißen können, führen später tendenziell ein glücklicheres Leben. Das ist das Ergebnis des schon etwas älteren und sehr berühmten Marshmallow-Experiments. Kinder bekamen ein Marshmallow hingestellt und gesagt, wenn sie es schaffen, ihn nicht zu essen, dann bekommen sie später noch einen zweiten. Viele Kinder haben es nicht geschafft, aber die, die es hinbekommen haben, die haben mit allen Mitteln versucht, sich nicht verführen zu lassen: weggucken, Augen schließen, vom Tisch wegdrehen, sich ablenken. Sie wussten, der Wille ist schwach, man muss ihm ein wenig auf die Sprünge helfen.
Beim Marshmallow-Experiment ging es darum, etwas nicht zu tun. Umgekehrt müssen wir oft was erledigen und schieben es immer weiter weg. Prokrastination heißt der Fachbegriff, Aufschieberitis. Die hat auch was mit Willenskraft zu tun, mit fehlender – oder?
Dazu gibt es jetzt eine neue Studie von der Uni Halle-Wittenberg. Darüber rede ich mit dem Psychologen Johannes Hoppe, der die Studie mitgeschrieben hat. Guten Tag, Herr Hoppe!
Johannes Hoppe: Guten Tag!
Pfister: Herr Hoppe, es gibt ja Tipps wie Sand am Meer, wie man Aufgaben erledigen kann, insbesondere wie man seine wissenschaftlichen Arbeiten zu Ende bringt. Warum sind Sie da jetzt noch mal rangegangen?
Hoppe: Das Marshmallow-Experiment finde ich klasse, weil es zeigt, wie schwierig es für uns manchmal ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen, und Prokrastination ist ganz klar ein Modethema.
Was wir hinsichtlich des Umgangs mit Prokrastination bemängeln, ist, dass die Ursache hierfür stets beim Individuum gesucht wird. Wir konnten nämlich zum Beispiel zeigen in unserer Studie, dass Studierende dann prokrastinieren, wenn sie Aufgaben haben, von denen sie nicht wissen, wie sie sie lösen sollen, weil sie vielleicht zu schwierig oder besonders komplex sind. Und wenn Studierende prokrastinieren, weil die Arbeitsaufgabe unklar formuliert ist, dann besteht die Gefahr, durch Selbstoptimierung nur die Symptome zu kurieren, aber nicht die eigentlichen Ursachen in Angriff zu nehmen. Und das kann dann im schlimmsten Fall dazu führen, dass Menschen aus dem Teufelskreis aus Vermeidung und Aufschieben nicht mehr alleine herauskommen.
Pfister: Sie spielen den Ball ein wenig zurück an die Professoren, an die Lehrenden und sagen, es sind nicht nur die Studierenden schuld, sondern ihr solltet bitte auch eure Aufgaben klarer fassen.
Hoppe: Ja, genau. Es ist auf jeden Fall die Verantwortung der Studierenden, sich an die Arbeit zu setzen und vereinbarte Fristen einzuhalten, das ist ganz klar, aber gleichzeitig können auch bestimmte Sachen helfen, die Betreuende oder Lehrende verändern können, wie zum Beispiel, dass man in regelmäßigen Abständen vereinbarte Fristen für Teilziele formuliert und überhaupt eine transparente Zeitplanung für beide Seiten hat, zum Beispiel, das haben wir auch gefunden, dass das Protokollieren und das Gegenlesen von Besprechungen zwischen Studierenden und Betreuenden sehr viel helfen kann.
Protokolle formulieren Verbindlichkeiten für beide Seiten
Pfister: Was bringt das, wenn man das schriftlich festhält?
Hoppe: Einmal, dass es ein beiderseitiges Verständnis von den gleichen Sachen gibt. Ich erlebe das häufig, ich betreue auch Abschlussarbeiten, dass ich etwas formuliere, und wenn die Studierenden das dann aufschreiben sollen, dann haben die was ganz anderes verstanden. Das ist das eine. Und das Zweite ist, dass Protokolle auch ein Stück weit Verbindlichkeit schaffen für beide Seiten, sodass man genau sagen kann, vor zwei Monaten haben wir aber das vereinbart. Das hilft beiden Seiten sehr.
Pfister: Also das ist schwarz auf weiß, das ist da eine klare Aufgabenstellung.
Hoppe: Genau.
"Man schafft den großen Berg immer in Etappen"
Pfister: Sie haben auch noch was gesagt, dass man in regelmäßigen Abständen Zwischenergebnisse vorlegen sollte, also meinen Sie, einfach schon mal ein Kapitel zu einem bestimmten Zeitpunkt fertigstellen, dann hat man schon mal die erste Hemmung überwunden.
Hoppe: Genau. Also eine goldene Regel besagt, dass man Oberziele, also sehr komplexe Aufgaben, in realisierbare Teilzielketten untergliedern sollte, als ob man auf einen großen Berg steigen möchte. Man steigt auch nicht von heute auf morgen auf den Mount Everest, sondern man geht erst mal zum Basislager und dann zum Basislager zwei, man schafft den großen Berg immer in Etappen, sodass da der Betreuende oder die Betreuende unterstützen kann. Wenn man jetzt zum Beispiel einen Ansatz formuliert oder seine Ergebnisse im Colloquium vorstellt, so was kann dann sehr helfen, den großen Berg zu unterteilen in kleinere Happen.
"Ich wehre mich gegen den Begriff der engeren Führung"
Pfister: Das hört sich für mich alles sehr plausibel an. Mein Einwand wäre bei dieser engeren Führung von Studierenden bei ihrer Abschlussarbeit durch ihren Professor – bei einer wissenschaftlichen Abschlussarbeit soll man ja auch nachweisen, dass man so ein Thema selbst erschließen und strukturieren kann, wenn die Profs das jetzt mit meinem Einverständnis in kleine Einheiten zerlegen und vorkauen und das dann auch noch schriftlich fixieren, dann kriegen ja viele Studierende ganz sicher ihre Abschlussarbeit hin, aber die Selbstständigkeit, die haben sie dann nicht unter Beweis gestellt.
Hoppe: Ich wehre mich gegen den Begriff der engeren Führung, ich würde sagen bessere Führung. Das bedeutet nicht, dass die Professore- eher das Gegenteil, die Professoren sollen den Studierenden das nicht vorgeben, die Inhalte, das wäre wahrscheinlich sogar kontraproduktiv, sondern zum Beispiel die Studierenden beteiligen an der Zielstellung. Die andere Seite der Medaille ist natürlich, dass man den Studierenden nie das Denken und Problemlösen abnehmen sollte, sondern Studierende müssen die Fähigkeit beweisen, solche Unklarheiten auszuhalten, die Widersprüche aufzulösen und damit innovativ zu denken, weil nur so Wissenschaft auch wirklich neues Wissen schaffen kann.
Pfister: Da haben wir das Innovative, welche Rolle spielt die Routine, inwiefern erleichtert das, dass man sich immer an den gleichen Schreibtisch zur immer gleichen Zeit setzt, dass man das Ding auch fertig kriegt?
Hoppe: Da kann ich nur aus persönlicher Erfahrung sprechen und sagen, dass Routinen und feste, regelmäßige Arbeitszeiten ungemein helfen.
"Ich versuche, mich aktiv damit auseinanderzusetzen"
Pfister: Haben Sie irgendwas, womit Sie sich selbst überlisten als Prokrastinationsexperte?
Hoppe: Ich versuche, mich aktiv damit auseinanderzusetzen, welchen Teil meiner Aufgabe ich eigentlich gerade nicht verstehe und wo ich hake und wo ich noch Informationen brauche, und dann hole ich mir ganz häufig Unterstützung bei meinen Kollegen oder bei meiner Chefin und frag da nach.
Pfister: Johannes Hoppe vom Institut für Psychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg über eine neue Studie mit dem Ergebnis, Studierende, die Abschlussarbeiten aufschieben, die sind oft einfach nicht zu faul oder zu willensschwach, sondern sie kriegen manchmal auch zu unkonkrete Aufgaben oder werden zu schlecht betreut. Danke, Herr Hoppe!
Hoppe: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.