Braucht man Religion oder eine Vorstellung von Gott, um ein moralischer Mensch zu sein? Das Meinungsforschungsinstitut Pew Research Center aus den USA ist dieser Frage 2019 in einer globalen Umfrage nachgegangen und hat sehr detaillierte Ergebnisse vorgelegt. Demnach waren grob 45 Prozent aller Befragten der Meinung, dass Religiosität und der Glaube an Gott notwendig sind, um ein moralischer, ein "guter" Mensch zu sein. Die Ergebnisse wurden jetzt unter dem Titel "The Global God Divide", was man mit "der globale Gottesgraben" übersetzen kann, veröffentlicht. Andreas Robertz hat mit Umfrageleiter Jacob Poushter über die Ergebnisse gesprochen.
Für knapp die Hälfte aller Befragten ist Moral ohne Gott nicht denkbar
"2019 haben wir in unserer jährlichen Umfrage mehr als 35.000 Interviews in 34 Ländern geführt. Es ging um internationale Beziehungen, Demokratieverständnis und Globalisierung. Und wir wollten mehr über Moral- und Wertvorstellungen erfahren."
Sagt Jacob Poushter. Das Umfrageteam wollte genau wissen, wie Menschen auf der ganzen Welt den Zusammenhang zwischen Religiosität und Moral empfinden. Dabei wurden die Begriffe Moralität, "ein guter Mensch sein" oder "gute Werte haben" synonym benutzt und nicht weiter inhaltlich bestimmt. Jeder konnte darunter verstehen, was er wollte.
"Das Interessanteste ist aus meiner Sicht, dass übergreifend in diesen 34 Ländern 45 Prozent der Menschen die Meinung vertraten, dass der Glaube an Gott notwendig für Moral und gute Wertvorstellungen ist."
Das bedeutet auch, dass 55 Prozent glaubten, dass auch nicht-religiöse Menschen moralisch gut sein können. Unter den teilnehmenden Ländern der Umfrage waren neben den meisten europäischen Ländern so kulturell unterschiedliche Nationen wie Südafrika, die Philippinen, Russland, Brasilien, Mexiko, Japan, Kenia, Israel und Indonesien.
"In einigen Ländern wie Indonesien, den Philippinen, Kenia und Nigeria fanden mehr als 99 Prozent, dass es notwendig ist, an Gott zu glauben, um gut zu sein. In Schweden glauben das gerade mal 9 Prozent."
In armen Ländern ist Religion präsenter
Neben dem Kontext von wirtschaftlicher Entwicklung, Bruttosozialprodukt, Zugang zu Bildung und der demografischen Entwicklung der verschiedenen Regionen wollten die Meinungsforscher herauszubekommen, wie wichtig der Glaube an Gott und das Gebet als Symbol eines praktizierten Glaubens im Leben der Einzelnen ist. Für 62 Prozent der Befragten war der Glaube an Gott persönlich wichtig und für 53 Prozent spielte das Gebet eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Jacob Poushter:
"In den Entwicklungs- und Schwellenländern sagt ein Großteil der Bevölkerung, dass Gott und das Beten eine wichtige Rolle im Leben der Einzelnen spielt. In den wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern sagen im Allgemeinen mehr Menschen, dass der Glaube an Gott wichtig ist als das Gebet. Das liegt daran, dass Länder mit einem höheren Bruttosozialprodukt dazu tendieren, weniger religiös zu sein."
Soweit ist das nichts Neues: Menschen in ärmeren Ländern mit weniger Zugang zu Bildungseinrichtungen tendieren dazu, mehr in ihrer Religion und in traditionellen Moralvorstellungen verwurzelt zu sein, bei Älteren mehr als bei Jüngeren.
Die USA sind eine Ausnahmeerscheinung
Interessant sind allerdings die Details der Umfrage. So konnte seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein klarer Anstieg der Religiosität in den Ländern des früheren Ostblocks beobachtet werden. Interessant auch der Vergleich zwischen Polen und Deutschland: Obwohl in Polen viel mehr der Befragten aussagten, Religion und Gebet seien persönlich wichtig für sie, waren genau wie in Deutschland 62 Prozent aller Befragten davon überzeugt, dass auch Atheisten moralische Werte haben können. Das zeugt von einer sehr viel toleranterer Haltung unter polnischen Katholiken gegenüber Nicht-Gläubigen, als das zum Beispiel in Brasilien der Fall ist. Dort hielten 82 Prozent die Religion für die Moral unabdingbar.
Grundsätzlich kann man sagen, dass je liberaler und reicher eine Gesellschaft ist, umso weniger spielt Gott und Gebet eine Rolle, wenn es darum geht, moralisches Handeln zu begründen.
Eine Ausnahme unter den reichen Ländern sind die USA: Dort halten immerhin 44 Prozent der Menschen den Glauben an Gott für unumgänglich, um ein moralisch guter Mensch zu sein. Hier ist der sogenannte "Gottesgraben" am deutlichsten zu sehen. Denn Moralität, die sich ausschließlich aus der religiösen Praxis herleitet, tendiert dazu, weit weniger tolerant gegenüber anderen Lebensentwürfen zu sein als Moralität, die sich in einem modernen Menschenverständnis gründet. Zum Beispiel bei gesellschaftlich relevanten Fragen wie Homosexualität, gleichgeschlechtlicher Partnerschaft und Schwangerschaftsabbruch.
"Ideologie und Politik spielt ebenfalls eine Rolle"
Eine Umfrage aus dem Jahr 2014 zeigt, wie erheblich sich die Wertevorstellung zwischen religiösen und nicht-religiösen Gruppierungen unterscheiden. Jacob Poushter sagt:
"Dies ist wichtig im Auge zu behalten. Man geht immer davon aus, dass, wenn die Welt wohlhabender wird, sich auch die Wertvorstellungen ändern und die Globalisierung neue Ideen bringt. Eine der großen Erkenntnisse hier ist, dass es nach wie vor diese fundamentalen Unterschiede gibt, wenn es darum geht, was richtig und was falsch ist. Ideologie und Politik spielt da ebenfalls eine Rolle. Die, die sich mehr auf der rechten Seite des politischen Spektrums sehen, sind auch oft religiöser."
Wenn man sich weitere Umfragen des Institutes ansieht, kommt man zu einem faszinierenden Gesamtbild, in dem der Kulturkampf, den so viele im Moment wahrnehmen, auch tatsächlich mit Daten belegt werden kann. Aus den Befragungsergebnissen kann man nicht herauslesen, dass religiöse Menschen grundsätzlich weniger tolerant sind. Aber: Wenn jemand seine Wertvorstellungen ausschließlich an die Religion bindet, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er oder sie abweichende Lebensvorstellungen ablehnen.
Das Institut bietet dazu keine Interpretationen an. Das überlässt es anderen, aus den Daten ihre Rückschlüsse zu ziehen. Aber die Umfrage macht deutlich, dass noch viel getan werden muss, damit Gläubige und Nicht-Gläubige gemeinsame Leitlinien für ihr Verhalten entwickeln können. Das ist heute besonders wichtig, will man den großen Herausforderungen unserer Zeit entschlossen entgegentreten: die Klimakrise, Armut und die Ungerechtigkeitsspirale zwischen Arm und Reich.