Anfang Mai 2019: „Achtung Aufnahme“ blinkt die Leuchttafel vor dem Studio des Deutschlandfunks. Drinnen sitzt die ehemalige Fußballerin Nadine. Sie gibt ihr erstes öffentliches Interview. Sie nennt ihren Vornamen, ansonsten möchte sie anonym bleiben.
Zur ihrer Unterstützung hat Nadine zwei Vertrauenspersonen mitgebracht. In dem langen Gespräch schildert die damals 39-jährige, wie die Übergriffe durch einen Betreuer begonnen haben: Ungewollte Berührungen seien es gewesen, dann habe er seine Taten immer weiter gesteigert:
„Da war dann nichts mehr mit Anfassen, das war dann mit Vergewaltigung und Übergriffen jeder Art, die man sich vorstellen kann.“
Häufig sei die Zehnjährige nach dem Training die letzte gewesen, die der Betreuer nach Hause fuhr, erinnert sich Nadine in dem Interview. Im Auto seien die Taten geschehen, unzählige schwerste Übergriffe.
Folgen der Gewalterfahrungen
“Im Deutschlandfunk hat Andrea Schültke Anfang Mai ein bewegendes Interview mit einer Betroffenen geführt", berichtet die Sportsoziologin Bettina Rulofs vor drei Jahren in einem Vortrag. Damals hatte die Professorin der Sporthochschule Köln Nadine für eine Studie interviewt:
“Nadine war in Folge der Gewalterfahrungen wie gelähmt. Sie entwickelte schwere gesundheitliche und psychische Probleme, die erst im Erwachsenenalter so richtig aufgebrochen sind. Sie hat sich immer irgendwie über Wasser gehalten. Und ich kann Ihnen sagen ich finde es beachtlich, dass sie überhaupt noch am Leben ist.“
Die Teilnahme an dem Forschungsprojekt und dann den anstrengenden Schritt ins Deutschlandfunk-Studio und an die Öffentlichkeit vor mehr als drei Jahren, beschreibt uns Nadine später als Teil eines Heilungsprozesses.
Wir bleiben weiter in Kontakt, treffen uns unter anderem wieder bei der Veranstaltung der Aufarbeitungskommission vor zwei Jahren in Berlin.
Veranstaltung der Aufarbeitungskommission
13 Oktober 2020. Es geht um sexuellen Kindesmissbrauch im Sport…Aus gutem Grund:
Millionen von Kindern in Deutschland treiben Sport. Die Hälfte aller Mädchen und 60 Prozent der Jungen sind in einem Sportverein. Bewegung ist gesund, Sport hat ein positives Image. Das bröckelt. Nicht zuletzt durch vor wenigen Tagen veröffentlichte Studienergebnisse: Knapp dreiviertel aller Vereinsmitglieder hat dort Erfahrungen gemacht mit irgendeiner Form von Gewalt, auch mit sexualisierter Gewalt.
Die Zahl der Betroffenen im Sport muss also größer sein als in jedem anderen Freizeitbereich. Die Veranstaltung der Aufarbeitungskommission im Oktober 2020 setzt also ein wichtiges Zeichen: Viele sind nach Berlin gekommen, darunter auch zahlreiche Betroffene, Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend im Sport sexualisierte Gewalt erfahren haben.
Alles beginnt anderthalb Jahre zuvor: „Ihre Geschichte kann etwas ändern“. „Ihre Geschichte gibt anderen Mut“, heißt es in einem online-Aufruf der Kommission Anfang Mai 2019.
Betroffene, die im Sport sexuelle Gewalt erfahren haben, können sich melden, ihre Erfahrungen schildern. In einer persönlichen Anhörung oder schriftlich. Auch Nadine meldet sich. Die ehemalige Fußballerin stellt ihre Geschichte der Kommission zur Verfügung und geht bei der Veranstaltung in Berlin dann einen weiteren Schritt
„Macht was damit“
Im Interview mit der ehemaligen Bundesfamilienministerin Christine Bergmann sitzt Nadine auf der Bühne. Die übertragenden Kameras sind ausgeschaltet. Sie spricht vor Publikum über das Erlebte und Erlittene und stellt dann diese Forderung auf:
„Das ist meine Geschichte, macht was damit… „
Es ist das letzte Mal, dass Nadine öffentlich zurückblickt. Ihre Aussagen aus unserem Archiv dürfen wir senden, sagt sie. Aber sie selbst schaut nach vorn, ist mittlerweile beruflich aktiv in der Betreuung von Betroffenen.
„Macht was damit“ - Seit ihrer öffentlichen Aufforderung vor zwei Jahren ist einiges passiert:
Die damals in Berlin vorgestellte Idee einer unabhängigen Institution, die sich um das Thema Gewalt im Sport kümmert, nimmt Gestalt an. Die Bundesregierung hat das sogenannte „Zentrum für Safe Sport,“ im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Als Schritt dahin gibt es seit Mai eine erste unabhängige Anlaufstelle für Betroffene von Gewalt im Sport.
Auch der der Deutsche Olympische Sportbund, die Dachorganisation des Sports in Deutschland begrüßt das Zentrum nach einem langen Abstimmungsprozess. Mitfinanzieren will er das Ganze allerdings nicht. Für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Sport entwickelt der Dachverband seit einigen Monaten Leitlinien.
Heute der nächste Schritt: Als Ergebnis ihres Aufrufs vor drei Jahren veröffentlicht die Aufarbeitungskommission heute ihren Bericht.
Entwicklungschancen genommen
„Es ist die größte Studie, die sich mit Berichten von Betroffenen in einer detaillierten Art und Weise auseinandersetzt.“, bilanziert Studienleiterin Bettina Rulofs, Sportsoziologin aus Köln, die Nadine bereits aus einem anderen Forschungsprojekt kennt.
Nadines Geschichte und die von 71 anderen Betroffenen aus allen Sportarten sind in die Studie eingeflossen. Einige der geschilderten Taten liegen Jahrzehnte zurück, andere nur wenige Jahre. Täterstrategien, wie auch Nadine sie geschildert hat, finden sich dort und erschütternde Leidensgeschichten der Betroffenen:
„Für sie ist der Sport zerstörend gewesen, weil der Sport ihnen sozusagen Entwicklungschancen genommen hat durch die Missbrauchserfahrungen, die sie dort machen mussten.“
Niemand glaubte den Betroffenen
Gemeinsam ist vielen Erfahrungsberichten: Niemand hat den Betroffenen geglaubt, wenn sie von den Taten berichtet haben. Es gab keine Unterstützung. Im Gegenteil. Beim positiven Image des Sports und den oft familiären Strukturen fehlt häufig die Vorstellung, dass es auch dort zu Gewalthandlungen kommen kann.
„Die Studie zeichnet ein Bild des Sports, das viele so nicht wahrhaben möchten. Es ist eben der Hinweis darauf, dass auch im Sport schwerste Menschenrechtsverletzungen stattfinden können. Und zwar hier in Deutschland. Hier nebenan im Sportverein kann das passieren.“
Es sind die Betroffenen, die diese Erkenntnis möglich machen. Die Geschichten von Nadine, den 71 anderen Menschen, und aller, die noch kommen werden. Sie sprechen, auch damit anderen das nicht passiert, was ihnen widerfahren ist. Und sie fordern zum Handeln auf: „Macht was damit“.