Christiane Kaess: Große Überraschungen werden heute wahrscheinlich nicht mehr dabei sein, wenn die katholischen Bischöfe im Rahmen ihrer Vollversammlung in Fulda die lange erwartete Studie zum Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in der Kirche vorstellen. Bei einer Pressekonferenz wollen sich Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz und Wissenschaftler, die an der Untersuchung beteiligt sind, zu der Studie äußern. Wichtige Ergebnisse daraus sind aber bereits bekannt geworden.
Ich kann jetzt darüber sprechen mit Lars Castellucci. Er ist religionspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag und er ist auch Mitglied im Innenausschuss. Guten Tag, Herr Castellucci.
Lars Castellucci: Ich grüße Sie.
Kaess: Welche Konsequenzen muss diese Studie haben?
Castellucci: Ich glaube, die wichtigste Konsequenz wäre, dass so etwas in Zukunft so gut es geht vollständig vermieden wird. Es wird immer auf der Erde einzelne Verfehlungen geben, die keine Organisation der Welt dann verhindern kann. Aber wir brauchen jetzt Aufklärung, es braucht Entschuldigungen, die Entschädigung muss geklärt werden. Ich glaube, das Allerwichtigste ist: Es muss klar werden, wie das in Zukunft verhindert wird.
"Immer wieder unbefriedigend, wie öffentlich gehandelt wird"
Kaess: Wie beurteilen Sie da die Reaktion der Kirche bisher?
Castellucci: Ja, mit gemischten Gefühlen, muss ich Ihnen sagen. Einerseits diese Studie - es ist ja beschrieben worden, dass die nur unter öffentlichem Druck dann auch in Auftrag gegeben wurde. Aber ich glaube, so wie da jetzt gearbeitet wurde, das zeigt schon das Bemühen, auch wenn es zum Teil unbeholfen wirkt, jetzt wirklich aufzuklären, die Dinge auf den Tisch zu legen.
Gleichzeitig, als das vor wenigen Wochen schon bekannt wurde, was Inhalte der Studie sind, habe ich eine lange Pressemitteilung von Herrn Ackermann, dem Bischof, der zuständig ist, gelesen. Die beginnt zwar mit "Ich bedauere", aber dann ging es überhaupt nicht um den Missbrauch - zunächst mal in zwei Absätzen -, sondern dann ging es sehr lange darum, dass nun diese Ergebnisse öffentlich geworden sind. Das zeigt für mich immer wieder, dass es einfach auch im Umgang, wie man das Thema behandelt, so schambesetzt ist und auch viele Ängste natürlich eine Rolle spielen. Man stellt sich der Sache schon, aber es ist tatsächlich immer wieder unbefriedigend, wie öffentlich gehandelt wird.
Kaess: Jetzt wird immer wieder der begrenzte Rahmen der Studie kritisiert. Müssen die Verantwortlichen benannt werden, was bisher ja noch nicht passiert ist?
Castellucci: Zunächst mal ist es gut, wenn Studien einen begrenzten Rahmen haben, weil dann kann man diesen begrenzten Rahmen erst mal wissenschaftlich klar erheben. Ich muss Ihnen sagen, ich kenne die Studie selbst nicht. Sie wird um 13:15 Uhr vorgestellt. Ich hätte erwartet, als das vor 14 Tagen öffentlich wurde in einer Zusammenfassung, dass die Bischofskonferenz unmittelbar die Studie öffentlich zugänglich gemacht hätte und nicht noch diese zwei Wochen gewartet hat. Es ist für mich ein bisschen Stochern im Nebel. Ich würde wirklich gerne erst zur Kenntnis nehmen, was tatsächlich im Einzelnen die Ergebnisse der Studie sind, bevor ich Ratschläge gebe, wie es damit weitergehen kann.
Kaess: Aber meine Frage war ja ganz konkret. Müssen die Verantwortlichen benannt werden?
Castellucci: Ja. Ich glaube, dass darüber zu sprechen sein wird, wie man das auf eine Weise machen kann, die Wunden nicht erneut aufreißt - auch im Sinne der Opfer, die ja viel zu wenig in den Blick kommen. Sie fragen mich jetzt ja auch mit starker Stimme nach den Tätern. Auf der anderen Seite sind die Opfer mit ihren Geschichten und mit ihrem Leiden, und ich glaube, wir müssen da einen Weg des Umgangs finden, der beiden Seiten gerecht wird: Dem Wunsch nach Aufklärung, nach klarer Benennung, aber auf der anderen Seite auch niemanden in die Öffentlichkeit zu zerren, auch unter den Opfern, die dann das Leid noch einmal durchleben würden.
"Kirche muss selber zur Anzeige schreiten"
Kaess: Ich frage deshalb danach, weil ein bisschen der Eindruck für viele von außen entstanden ist, dass die Täter - ich sage es mal zugespitzt - außerhalb des Rechts stehen. Warum ist das denn überhaupt möglich, dass bisher niemand rechtlich belangt wurde?
Castellucci: Ja, ich glaube, dass der Rechtsrahmen eigentlich gilt. Es ist eine Frage von Anzeigeverhalten und von Verhalten von Führungsverantwortung. Diese Umsetzungen, dass jemand eine Verfehlung, die so gravierend ist wie ein Missbrauch an Kindern, begeht oder bis hin zu einer Vergewaltigung, und dann einfach nur den Ort wechseln muss. Das ist ja unglaublich.Und das ist natürlich erst mal das Recht des Arbeitgebers, das hier zum Tragen kam, kirchenrechtlich hier zu agieren. Und die Kirche muss deutlich machen, dass sie in solchen Fällen selber zur Anzeige schreitet und dafür sorgt, dass die Dinge aufgeklärt werden, wenn etwas passiert, und nicht mit einer simplen Umsetzung die Dinge versucht, wieder in den geregelten Lauf zu bekommen.
Kaess: Kann das sein, dass der Staat hier zu viele Rechte an die Kirchen abgetreten hat?
Castellucci: Noch mal: Ich glaube, dass der Rechtsrahmen ein guter Rechtsrahmen ist. Aber wir werden diese Studie auch daraufhin natürlich noch mal prüfen, inwieweit da Fristen, Verjährungsfristen, andere Dinge unzureichend sein sollen. Am Ende sind Menschen verantwortlich für das, was sie tun. Und Führungspersonen sind verantwortlich für die Dinge, die in ihrem Verantwortungsbereich stattfinden. Und ich glaube, das ist jetzt erst mal der Punkt, darauf hinzuweisen. Der Rechtsrahmen kann so gut sein, wie er mag. Wenn nicht danach gehandelt wird, dann kommen wir nicht weiter. Deswegen ist die erste Frage jetzt tatsächlich die Frage der Verantwortungsübernahme und der Konsequenzen, die daraus gezogen werden.
Kaess: Es gibt ja ein Beispiel aus den USA, aus Pennsylvania, wo ein unabhängiger Staatsanwalt Zugang zu allen Akten hat. Sollte das in Deutschland auch passieren?
Castellucci: Ja, das ist ein sehr überlegenswerter Vorschlag. Darüber werden wir beraten müssen.
"Wir haben zu lange weggesehen"
Kaess: Das heißt ganz konkret, Sie erwarten die Zusammenarbeit der Kirche mit der Justiz?
Castellucci: In jedem Fall, ja.
Kaess: Jetzt ist es so, dass das Thema seit Jahrzehnten schwelt. Es ist auch gerade noch mal der Zeitraum gesagt worden, wie lange es überhaupt gedauert hat, bis diese Studie jetzt erstellt wurde. Hat vielleicht auch die Politik zu lange weggesehen?
Castellucci: Ich glaube, dass wir zu lange weggesehen haben, auch als gesamte Gesellschaft zu lange weggesehen haben von dem Thema. Wir reden jetzt heute über die katholische Kirche, aber wir haben den Missbrauch in den Familien, wir haben den Missbrauch im Sport. Allein im letzten Jahr sind 11.500 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern erfasst worden. Da ist die Dunkelziffer noch gar nicht dabei. Wir haben es hier mit einem wirklich gesellschaftlich bedeutsamen Thema zu tun, um das wir uns sehr viel stärker kümmern müssen. Und das richtet sich in erster Linie an die Politik, aber im Zweifel an die ganze Gesellschaft, die hier keine Tabus pflegen darf. Sondern die Dinge auszusprechen, ist immer der erste Schritt, auch zu einer Verbesserung zu kommen.
"Bischöfen die Chance geben, ihrer Verantwortung gerecht zu werde"
Kaess: Aber jetzt steht gerade die Kirche im Fokus. Deswegen noch mal meine Frage: Was kann die Politik denn da eventuell noch mehr tun?
Castellucci: Ich glaube, dass die Politik jetzt in erster Linie einfordern muss, dass die Dinge komplett auf den Tisch gelegt werden und dass es Konsequenzen gibt, da wo der Rechtsrahmen Konsequenzen noch ermöglicht. Das Entschädigungsrecht ist noch mal eine wichtige Frage. Und wenn das nicht ausreichen sollte, dann hat Politik möglicherweise auch noch mal eine Moderationsfunktion, die Leute an den Tisch zu holen und darüber zu sprechen, was darüber hinaus zu passieren hat.
Aber ich habe im Moment, sage ich Ihnen auch, auch das Vertrauen in die Verantwortlichen der Kirche, dass sie nach Vorliegen der Studie jetzt erst mal in ihrem Handlungsrahmen auch tätig werden. Das ist eine Studie, die jetzt vier Jahre lang erarbeitet worden ist. Ich denke, wir müssten jetzt warten, dass die vorgestellt wird, und den Bischöfen auch die Chance und die Gelegenheit geben, jetzt ihrer Verantwortung gerecht zu werden mit den Ergebnissen, die sie vorstellen werden.
"Wir dürfen nicht das Engagement von Kirchen insgesamt negieren"
Kaess: Jetzt fragen sich viele, auch weil die Kirche vom Staat bezahlt wird, ob das uneingeschränkt so bleiben kann unter diesen Umständen.
Castellucci: Ja, da wird jetzt wieder viel reingerührt, was da aus meiner Sicht nicht reingehört. Wir sollten jetzt mal über die Dinge reden, die jetzt auf dem Tisch liegen. Die Frage von Kirchenfinanzierung - im Wesentlichen haben wir die sogenannte Kirchensteuer, die wird vom Staat eingefordert über die normale Steuererklärung und dafür wird eine Gebühr erhoben, mit der auch dieser Verwaltungsaufwand abgegolten wird. Das ist erst mal der große Teil der Finanzierung von Kirchen. Das ist ja in dem Sinne keine Staatsfinanzierung.
Dann haben wir noch die Finanzierung von Kirchengütern und anderen Privilegien, die im Rahmen der Säkularisierung im 19. Jahrhundert abgegolten werden müssen und die noch nicht abgelöst sind. Das sind wichtige Fragen, über die man im Gespräch sein muss, aber die haben jetzt mit der aktuellen Missbrauchsdebatte überhaupt nichts zu tun.
Kaess: Aber die Frage steht ja schon im Raum, ob das moralisch zu verantworten ist, dass eine Organisation, die jetzt so stark in der Kritik steht, unvorbehalten vom Staat Geld in dem Ausmaß bekommen kann, in dem das bisher passiert ist.
Castellucci: Ich kann Gelder an die Kirchen insgesamt sehr gut verantworten, weil wir reden jetzt hier über eine kleine Gruppe, die unermessliches Leid anderen Menschen zugefügt hat, während sich in diesem Land Millionen im Rahmen der Kirche Tag für Tag dafür einsetzen, Wunden zu heilen, statt Wunden aufzureißen. Und wir müssen jetzt auch aufpassen, dass wir nicht aufgrund der Verfehlung einer kleinen Gruppe, die aufgeklärt werden müssen und die auch Konsequenzen haben müssen, in aller Deutlichkeit, dass wir jetzt das Engagement von Kirchen in diesem Land insgesamt negieren. Die Kirchen leisten einen wichtigen Beitrag für Orientierung, für ein gutes Zusammenleben in diesem Land, und das muss an dieser Stelle, glaube ich, schon auch gesagt werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.