Der Soziologe Oliver Nachtwey hat für eine Studie zur "Politischen Soziologie der Corona-Proteste" Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei Corona-Demonstrationen in Deutschland und der Schweiz befragt. Ergänzt durch Befunde aus einem Telegram-Chat ergab sich eine Stichprobe von 1.150 Kritikern der Corona-Politik – die zwar nicht repräsentativ ist, aber ein durchaus überraschendes Ergebnis liefert.
Oliver Nachtwey: Das ist eine neuartige und auch überraschende Bewegung, weil sie mitunter sehr disparate Milieus miteinander verbindet: Menschen, die eher aus dem anthroposophischen, alternativen Spektrum kommen, die zu ganzheitlichem Denken und esoterischem Denken neigen und wahrscheinlich eher die Grünen gewählt haben. Aber auf diesen Demonstrationen haben wir dann auch gesehen, dass durchaus sehr Konservative und mitunter auch Rechtsextreme mitgelaufen sind.
"Entfremdung zum traditionellen politischen System"
Das Überraschende an dieser Bewegung war, dass dort auch viele Bürgerliche oder Linke vor Ort waren, die aber kein Problem damit hatten, dass rechte Symbolik gezeigt wurde. In unserer Studie konnten wir sehen, dass man zumindest in Deutschland sagen kann, dass es eine Bewegung ist, die zum Teil von links kommt, aber eher nach rechts geht. Was man zum Beispiel daran sehen kann, dass etwa 25 Prozent der Studienteilnehmer in Deutschland bei der nächsten Wahl die AfD wählen möchten. Was charakteristisch für diese Bewegung ist, ist vor allen Dingen ihre große Entfremdung vom traditionellen politischen System, von den Volksparteien, von der Wissenschaft, von den Medien – da herrscht eine ganz große Distanz.
Barbara Weber: Das ist auf der anderen Seite erstaunlich. Sie sprachen davon, es herrscht eine große Distanz auch von der Wissenschaft. Eines ihrer Ergebnisse ist aber, dass erstaunlich viele Akademikerinnen und Akademiker dabei sind.
"Höhere Qualifikation schützt nicht vor Verschwörungsdenken"
Nachtwey: Ja, es ist sozialstrukturell eine Bewegung, die durchaus qualifiziert, mitunter sogar hochqualifiziert ist, und ich hatte auch überraschende Erfahrungen, dass mich dann Akademiker*nnen, Promovierte, angeschrieben haben – dass die Pandemie anders zu deuten sei. Da können wir zumindest sehen, dass auch eine höhere Qualifikation nicht vor einem gewissen Verschwörungsdenken schützt. Was wir sehen können, ist: Eine niedrige Qualifikation lässt ein Verschwörungsdenken etwas stärker ausgeprägt sein, aber eben auch Hochqualifizierte neigen dann dazu. Es hängt natürlich auch immer ein bisschen von der sozialen Position ab, von den Milieus, in denen man sich bewegt. Aber es ist sicherlich ein überraschendes Ergebnis, dass so viele mit einem Universitätsabschluss – oder wir haben sogar vier Prozent mit einem Doktortitel, die promoviert sind – dann die sich der Bewegung anschließen.
Weber: Ich möchte zwei Stichworte da mal in den Raum stellen: ganzheitlich und esoterisch. Was verbirgt sich dahinter?
Nachtwey: In unserer Stichprobe hatten wir einen relativ großen Anteil von Menschen, die eine gewisse Neigung zum anthroposophischen, zum ganzheitlichen Denken hatten, die eine, wenn man so möchte, Kritik an der industriellen Rationalität, an unserer Hypermoderne geübt haben und sich ein Zurück zur Natur wünschen. Das war sehr, sehr augenfällig, und das sehen wir auch an den qualitativen Interviews, die wir gerade noch auswerten. Es ist geradezu fast ein romantisches Motiv, was sich darin wiederfindet, eine Ablehnung der verwalteten und vollständig rationalisierten Welt. Das zeigt sich eben gerade darin, dass man auf alternative Medizin zum Beispiel hofft und sagt, die sollte der Schulmedizin gleichgestellt werden. Dass man ein Zurück zur Natur fordert, dass man generell eine neue Spiritualität im Leben anstrebt – das vermisst man. Oder dass man auch zum Beispiel seinen Gefühlen stärker vertraut als den sogenannten Experten.
"Die gestiegene Komplexität unserer Gesellschaft stellt zivilisatorische Normen infrage"
Weber: Eigentlich alles erstaunliche Faktoren, die Sie eben benennen, weil man davon ausgehen sollte – jetzt spiele ich noch mal auf die Akademiker und Akademikerinnen an –, dass die ja während ihres Studiums etwas anderes gelernt haben.
Nachtwey: Ja, aber wenn wir uns die AfD anschauen und uns da die sozialen Strukturen anschauen, dann sind es ja auch nicht unbedingt die Abgehängten, es sind auch nicht unbedingt die niedrig Qualifizierten, sondern da kommen ganz andere Faktoren ins Spiel. Das sind Menschen, die sozusagen ein wissenschaftliches Selbstverständnis erfahren haben, aber unsere Gesellschaft zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass auch wissenschaftliche Erkenntnis – und das bemerken wir ja unmittelbar – sehr, sehr stark unsicher ist und revidiert werden muss. Am Anfang wurde uns gesagt, und dafür gab es gute Gründe, dass man keine Masken tragen solle, das würde nichts nützen. Später heißt es: Bitte tragen Sie alle Masken. Mittlerweile heißt es sogar: Bitte tragen Sie alle FFP2-Masken. Das heißt, die Wissenschaft und ihre aus den Studien gewonnenen Empfehlungen für Maßnahmen muss ihre eigenen Befunde beständig überprüfen und falsifizieren und auch verändern. Für viele Menschen erscheint dann eben die Wissenschaft sehr, sehr stark hermetisch mit der Politik und den Medien verbandelt, dass da auf der Hinterbühne etwas stattfindet, was eigentlich dunklen Interessen entspricht, auch für Leute mit einer wissenschaftlichen Ausbildung. Es ist bedauerlich, dass sie das quasi dann in ihrem Studium und aus ihrer Promotion dann nicht mehr mitgenommen haben, aber es scheint zumindest aus meiner Sicht so zu sein, dass die Unsicherheit und die gestiegene Komplexität unserer Gesellschaft sehr viele zivilisatorische Normen infrage stellt.
"Aus antiautoritären Rebellen können regressive Rebellen werden"
Weber: Sie haben eben angesprochen, dass eine relativ hohe Akzeptanz von AfD-Positionen besteht beziehungsweise diese Partei auch womöglich eher gewählt werden würde. Das ist ja ursprünglich eigentlich ein Milieu, was von den Grünen kommt. Wie lässt sich das erklären?
Nachtwey: Ich bin mir noch nicht ganz schlüssig mit der Interpretation der Daten. Wir sehen, dass die AfD in unserer Umfrage bei etwa 25 Prozent liegt, was ein sehr, sehr hoher Wert ist. Aber gemessen daran, dass die AfD sehr stark auf diese Bewegung zugegangen ist und dass sie versucht hat, sich als parlamentarischer Arm dieser Bewegung darzustellen, sind die Erfolge relativ bescheiden. 60 Prozent der Befragten wollen ganz andere Parteien wählen – die Alternative WiR2020, bislang im Grunde vollständig unbekannte Parteien.
Was wir sehen in unseren Daten, ist, dass sehr, sehr viele Leute zunächst erst mal gewissermaßen antiautoritär geprägt sind – im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung keine besonders stark ausgeprägten antimuslimischen Ressentiments, einen relativ geringen Sozialchauvinismus und generell im Grunde fast für einen antiautoritären Erziehungsstil zu haben sind, also fast eher linksliberal sind. Was ich aber in anderen Studien feststellen konnte – wir haben zuvor in einer qualitativen Untersuchung Personen in biografischen und narrativen Interviews befragt, die vorher zivilgesellschaftlich aktiv waren und dann zu AfD-Anhängern wurden –, dass dort eine große Transformation stattfinden kann bei diesen Leuten. Dass diese Leute etwas Antiautoritäres, im Grunde Rebellisches haben, aber dass eben aus den antiautoritären Rebellen später regressive Rebellen werden können, in dieser Bewegung, in dem Wüten gegen das System, in dem Wüten gegen eine vermeintlich illiberale Anmaßung der Regierung. Dort gehen ganz viele Werte, die man zuvor auch hatte, verloren, und das heißt, dass diese Menschen dann plötzlich, obwohl sie ganz anders, linksliberal, grün sozialisiert sind, dann doch in der AfD, weil sie gegen das Establishment ist, eine Alternative sehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.