Michael Böddeker: Zunächst schauen wir mal auf ein Thema, das Deutschland schon lange bewegt und auch jetzt gerade wieder ganz besonders: die Rechtschreibreform. Seit 20 Jahren gibt es die inzwischen schon. Später wurde die Reform dann reformiert. Ludger Fittkau erklärt, was bisher geschah.
So weit der Stand der Dinge. Und die Kritik reißt nicht ab. Neue Argumente liefert da jetzt auch das neue Buch von Bildungsforscher Uwe Grund, denn da lautet ja der Befund: Nach der Rechtschreibreform ist die Rechtschreibung bei deutschen Schülern schlechter geworden. Darüber habe ich unter anderem mit Heinz-Peter Meidinger gesprochen, dem Vorsitzenden des Deutschen Philologenverbands. Er ist der Meinung, dass die Rechtschreibreform nicht die Ursache ist für die zunehmende Zahl von Fehlern. Warum?
"Rechtschreibreform kann gar nicht die Ursache sein für die steigende Fehlerhäufigkeit in Deutschaufsätzen"
Heinz-Peter Meidinger: So ist es, weil ganz einfach, selbst wenn man die Studie von Herrn Grund anschaut, seine Anfangsdaten stammen aus den 70er-Jahren, und es wird auch belegt in seiner Studie, dass der Verfall der Rechtschreibung, wenn ich das so nennen darf, bereits viel früher eingesetzt hat. Also, die Rechtschreibreform kann gar nicht die Ursache sein für die steigende Fehlerhäufigkeit in Deutschaufsätzen.
Böddeker: Zugeschaltet ist uns auch Josef Lange. Er ist seit Kurzem der neue Vorsitzende des Rats für Deutsche Rechtschreibung. Herr Lange, würden Sie dieser Diagnose zustimmen?
Josef Lange: Ich teile die Auffassung von Herrn Meidinger in wesentlichen Punkten, denn es gibt andere Untersuchungen, die zu dem Ergebnis kommen, dass erstens Sprachgebrauch und -regeln in den letzten zehn Jahren, also seit Inkrafttreten des Regelwerks, in einem hohen Maße übereinstimmen. Und der zweite Punkt ist, wenn man sich anschaut, in welchem Umfang die Bedeutung der Orthografie in der Schule zurückgenommen worden ist, wie teilweise wenig Wert gelegt wird außerhalb des Faches Deutsch auf deutsche Rechtschreibung und die deutsche Orthografie in der Lehrerausbildung, -fort- und -weiterbildung kaum berücksichtigt wird, dann darf man sich nicht wundern, wenn das Empfinden und das Wissen um die Bedeutung des Kulturguts Rechtschreibung und der Kulturtechnik Rechtschreibung verloren geht.
Böddeker: Das heißt aber, dem Befund, dass die Rechtschreibung schlechter geworden ist, dem würden Sie beide zustimmen?
Lange: Das kann vermutlich der Vertreter der Schulen besser beurteilen als ich. Ich kann da nur Studien zitieren, auf die der Rat für Deutsche Rechtschreibung hingewiesen hat, dass der beobachtete Gebrauch der Sprache und die Normen für die Sprache in hohem Maße übereinstimmen. Die Frage, ob Schüler heute besser oder schlechter sind als vor 20 oder 30 Jahren, ist eine Frage, die Lehrerinnen und Lehrer besser beurteilen können als ich.
Böddeker: Ja, dann geben wir es doch mal weiter an den Vertreter der Gymnasien. Herr Meidinger, wird denn in der Schule heute zu wenig Wert gelegt auf Rechtschreibung?
Meidinger: Zum einen, um die Frage noch zu beantworten, es gibt ja neben dem Herrn Grund auch breiter angelegte Studien, beispielsweise von Professor Harald Marx, die ja das auch dokumentieren, dass in den letzten Jahrzehnten die Rechtschreibkenntnisse nachgelassen haben. Deckt sich auch mit der Beobachtung vieler Lehrer, übrigens auch von Hochschulprofessoren. Auf der anderen Seite, es ist vollkommen richtig, ich stimme da auch Herrn Lange zu, dass auf Rechtschreibung in der Schule weniger Wert gelegt wird als früher. Das kann man an Lehrplänen ablesen, und es hat natürlich auch Gründe. Wir haben in den 70er-, 80er-Jahren eine Diskussion gehabt, wo Rechtschreibung als Bildungsbarriere definiert worden ist, als etwas, was selektiert, was verhindert, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten im Schulsystem aufsteigen. Und anstatt, dass man den richtigen Schluss gezogen hätte, nämlich die Rechtschreibförderung zu verbessern, insbesondere von Kindern bildungsferner Schichten, hat man das Gegenteil gemacht, man hat die Rechtschreibung zurückgefahren – und das war ein Fehler.
"Das Kennen von Sprache und Sprachregeln ist nicht hinreichend verbreitet"
Lange: Und eine Beobachtung aus dem Wissenschaftsbereich: Wenn Professorinnen und Professoren darüber klagen, dass sie auch in Bachelor- und Masterarbeiten manchmal erschreckend viele Rechtschreibfehler finden, dann ist dies aus meiner Sicht nicht nur eine Konsequenz der Tatsache, dass die Schreiberinnen und Schreiber nicht mal die Rechtschreibprogramme ihrer Computer nutzen, sondern auch, dass das Empfinden für Sprache und das Kennen von Sprache und Sprachregeln nicht hinreichend verbreitet sind. Wenn aber Sprache Grundlage unseres Zusammenlebens ist, und zwar nicht nur als gesprochene, sondern auch als geschriebene Sprache, dann gehört dieses zu den Kulturtechniken, die in der Schule beigebracht werden müssen und für die mehr Zeit aufzuwenden ist als für manche Spezialausbildung in der gymnasialen Oberstufe, die durch die Entwicklung der Wissenschaft ohnehin in wenigen Jahren überholt ist.
Böddeker: Dann lassen Sie uns zum Schluss noch mal kurz auf die Rechtschreibreform zurückkommen, die ja auch noch mal reformiert worden ist später. Laut dieser neuen Studie ist die Rechtschreibreform ihren Ansprüchen nicht gerecht geworden. Herr Meidinger, wie beurteilen Sie das Ganze so im Rückblick? War das eine gute Reform?
Meidinger: Im Laufe der Diskussion sind viele, viele Kompromisse gemacht worden teilweise auch sinnvolle Kompromisse, und es hat sich dann am Schluss tatsächlich die Frage gestellt, ob das, was übrig geblieben ist, den großen Aufwand noch wert ist. Da bin ich der Meinung, war es wohl nicht mehr wert. Es hätte auch genügt, wenn man das, was jetzt der Fall ist, dass ein Rat für Rechtschreibung immer wieder maßvolle Anpassungen vornimmt, wenn man das damals schon gemacht hätte. Ich bin also kein Fan der Rechtschreibung, ich bin allerdings auch keiner, der damals die Befürchtung geteilt hat, und das ist auch heute noch so, damit wäre sozusagen der Kulturverfall in Deutschland eingeleitet und nicht mehr zu stoppen. Beides sind Überbewertungen. Man hat sich zu viele Hoffnungen gemacht, dass die Fehler weniger werden. Das war von Anfang an nicht gerechtfertigt. Und man hat auf der anderen Seite natürlich auch zu negativ die Folgen beschworen.
"Die Behauptung, die Rechtschreibreform sei ein Flop, ist eine polemische Übertreibung"
Böddeker: Herr Lange, noch kurz – Ihr Fazit?
Lange: Mein Fazit ist, die Behauptung, die Rechtschreibreform sei ein Flop, ist eine polemische Übertreibung, die zwar für eine nachrichtenarme Zeit in der Sommerpause taugt, die aber der Realität nicht entspricht. Und eine zweite Schlussfolgerung: Der Rat für Deutsche Rechtschreibung wird, wie es sein Auftrag ist, weiterhin die Entwicklung der Sprache beobachten, die sich in einer rasanten Entwicklung befindet. Denken Sie nur an Begriffe, die sich aus der Digitalisierung unserer Welt ergeben. Heißt es "downgeloadet" oder "gedownloadet"? Sie finden beide Gebräuche in der schriftlichen und in der gesprochenen Sprache. Da werden wir zuwarten müssen, und ich glaube, es empfiehlt sich bei der weiteren Entwicklung der Sprachnormen ein gewisses Maß an Gelassenheit und weniger Aufgeregtheit.
Böddeker: Das waren Heinz-Peter Meidinger, der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands, und Josef Lange, der Vorsitzende des Rates für deutsche Rechtschreibung. Mit ihnen habe ich darüber gesprochen, ob die Rechtschreibreform womöglich die Ursache sein könnte für viele Rechtschreibfehler, die Schülerinnen und Schüler machen. Beide meinen, dass die Gründe dafür anderswo liegen.
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