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Studien für Steppkes

Wenn Kinder schwer krank werden, dann haben sie oft nicht nur mit der Krankheit selbst zu kämpfen, sondern auch mit den Medikamenten, die ihnen eigentlich helfen sollten. Sie erhalten Arzneimittel, die für Erwachsene entwickelt wurden, deren Wirkung auf den kindlichen Organismus nicht erforscht ist. Eine neue EU-Verordnung will dies im nächsten Jahr ändern.

Von Eva Schindele | 19.11.2006
    "Hannes hat im Zuge seines angeborenen Herzfehlers immer eine Menge Medikamente gekriegt und viele sind nicht zugelassen für Kinder."

    Hannes ist jetzt fast acht und inzwischen ziemlich fit. Nur dass er beim Fußball nicht so schnell rennen kann, wie die andern Jungs ärgert ihn immer wieder. Seine Mutter Kerstin Skiba Hunkel engagiert sich beim Göttinger Elternverein "Gekko" für mehr Sicherheit von Kinderarzneimitteln.

    "Der Auslöser war tatsächlich, dass mein Sohn als er eine Woche alt war operiert wurde und nach der Operation hatte er Schwierigkeiten, hatte er Nierenversagen und er stand auf der Kippe, das es hieß: er muss ans Dialysegerät oder aber er bekommt ein Medikament, was selten bei Kindern angewandt wird und was aus der Erwachsenenmedizin kommt und ich wurde gefragt, ob wir das einsetzen wollen oder Dialyse und dann haben mein Mann und ich entschieden, das er dieses Medikament bekommen soll und dann ging es ihn nach zwei Tagen besser. In dieser Situation geht es ums Überleben. Da liegt das Kind auf der Intensivstation. Man hat die schwere Herz-Op geschafft und dann kommt der Kreislauf nicht in Wallung. Es ist wie die Wahl zwischen Pest und Cholera."

    Wenn Kinder schwer erkranken, müssen sich Eltern mit Fragen beschäftigen, über die sie vorher nie nachgedacht haben. Zum Beispiel darüber, dass rund die Hälfte der verordneten Medikamente, sich zwar bei Erwachsenen bewährt haben, aber weder an Kindern ausreichend erprobt, noch für sie zugelassen sind. Je kränker und jünger Kinder sind, desto dramatischer ist diese Situation: für die Kinder und ihre Eltern, aber auch für die behandelnden Ärzte.

    Gerd Glaeske:
    "Das größte Problem war für die Ärzte und Ärztinnen, dass sie die Medikamente im "off label use" eingesetzt haben, also eine Anwendung außerhalb der Zulassung bei der die Herstellerfirma nicht mehr die Haftpflicht für die Anwendung übernimmt."

    Der Arzneimittelforscher Gerd Glaeske ist Mitglied des Sachverständigenrates für das Gesundheitswesen, einem unabhängigen Beratungsgremium des Bundesgesundheitsministerium.

    "Insofern waren die Ärztinnen und Ärzte in einer schwierigen Situation, weil sie dann plötzlich das Risiko der Haftung übernehmen mussten und im Prinzip die Anwendung dieses Arzneimittels auf der Basis von wenigen Informationen durchzuführen hatten. Das war ein Risiko für die Ärzte, aber auch für die Kinder."

    An Kindern können Pharmafirmen nicht viel verdienen. Sie sind selten schwer krank und brauchen dementsprechend weniger Medikamente. Deshalb wurden Arzneimittel selten an Kindern systematisch getestet. Da nützte auch der jahrelange Appell von Ärzten und Politikern an das Verantwortungsbewusstsein der Industrie wenig. Andere Strategien waren notwendig, um die Hersteller in die Pflicht zu nehmen. Ende Oktober verabschiedete der Ministerrat die Verordnung zu Kinderarzneimitteln, die Anfang 2007 in Kraft treten wird.

    "Mehr Sicherheit für Kinderarzneimittel – Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft verabschiedete die Verordnung über Kinderarzneimittel.", so die Pressemitteilung des Bundesministeriums für Gesundheit vom 24. Oktober.

    "Ziel der Verordnung ist es, die für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen benötigten Arzneimittel so sicher zu machen, wie es bei den Arzneimitteln für Erwachsene selbstverständlich ist."

    Mit Zuckerbrot und Peitsche wollen die Europäer Pharmaunternehmen zwingen, jedes Medikament vor der Zulassung auch auf seine Kindertauglichkeit zu prüfen.

    Glaeske:
    "Und das ist natürlich was ganz Neues. Es wird nicht mehr in die freie Entscheidung der Hersteller gelegt, sondern es wird deutlich gemacht, dass über einen Ausschuss in dem vor allem die Kinderärzte befinden, ob dieser Wirkstoff der neu auf dem Markt ist – auch für Kinder notwendig und sinnvoll ist und das therapeutische Repertoire erweitert und wenn dies der Fall ist , dann ist der Hersteller verpflichtet … Kinderstudien anzuhängen."

    Pharmafirmen müssen zukünftig ein so genanntes "pädiatrisches" Prüfkonzept für jedes Medikament vorlegen, das sie auf den Markt bringen wollen. Ob und wann die Substanz dann an Kindern der verschiedenen Altersstufen getestet werden soll, entscheidet der "Pädiatrieausschuss". Er ist an der europäischen Zulassungsbehörde EMEA angesiedelt. Die erhobenen Daten zu Wirkungen und Nebenwirkungen - müssen veröffentlicht werden - auch dann, wenn sich das Medikament als untauglich für die Kindertherapie herausgestellt hat. Für seinen zusätzlichen Aufwand wird der Hersteller mit einer sechsmonatigen Patentverlängerung belohnt. Dadurch kann er das Präparat länger zu einem teureren Preis verkaufen. Dieser Bonus gilt übrigens auch, wenn die Arzneimittelprüfung keine Kindereignung ergeben hat. Doch auch Medikamente ohne Patentschutz, die bereits als Nachahmerprodukte, als so genannte Generika auf dem Markt sind, sollen zukünftig für Kinder sicherer werden.

    Glaeske:
    "Die Regelung sagt bei den Mitteln, die schon aus dem Patent herausgelaufen sind, dass ein Generika-Hersteller sagen kann: ich halte diesen Wirkstoff für interessant in der Anwendung für Kinder und dass dieser Hersteller, sich dann ebenfalls an den Ausschuss der EMEA wendet…"

    …und zum Beispiel beantragt eine kindergerechte Darreichungsform zu entwickeln, wie einen Saft, der nach Himbeeren schmeckt oder Lutschtabletten.

    Glaeske
    "Dann kann auch der Hersteller, obwohl er nicht ursprünglich das Patent inne hatte dieses Wirkstoffes, quasi ein Patent erreichen für die Anwendung bei Kindern, also er bekommt die Erlaubnis die klinische Prüfung durchzuführen, bekommt eine zehnjährige Schutzfrist in der er alleine dieses Mittel für die Anwendung bei Kindern anbieten darf."

    Rote Nasen, grün-weiße Ringelstrumpfhose, Filzhut und viel zu große Schuhe schlürfen über den Flur der Bremer Professor Hess Kinderklinik. Schnell spricht es sich rum unter den Kindern und Eltern: Wilma und Susi sind hier – die beiden Clowns.

    "Tam, Tam. Mutter: Du musst jetzt rufen …Clowns …habt ihr mich gerufen. Wilma: Da sitzt eine, Susi… ein Kind das hat Clowns gerufen …"

    Marie sitzt blass und scheu im viel zu großen Klinikbett und klammert sich an die Hand ihrer Mutter. Dabei hatte die Dreijährige schon lange auf die Clowns gewartet. Jetzt verbirgt sie ihr Gesicht hinter ihren kleinen Händen. Sie will nicht gesehen werden.

    Einige Kinder, die hier auf der Station liegen, sollen auf Medikamente neu eingestellt werden. Richtige Dosierungen von nicht zu gelassenen Medikamenten zu finden, ist oft schwierig, selbst für erfahrene Ärzte. Denn Kinder sind weder kleine Erwachsene, noch ist Kind gleich Kind. Der Stoffwechsel unterscheidet sich in den verschiedenen Entwicklungsstufen und dementsprechend ist auch die Pharmakokinetik – also der Abbau der Medikamente im Körper unterschiedlich.

    Bernd Mühlbauer:
    "So ist natürlich ein Neugeborenes in den ersten vier Lebenswochen mit ganz anderen Körperfunktionen ausgerüstet als ein Einjähriger und diese beiden wieder ganz anders als ein Achtjähriger, so dass wir verschiedene Entwicklungsstufen beachten müssen."

    Bernd Mühlbauer leitet das pharmakologische Institut in Bremen.

    "Das spiegelt sich einerseits wieder in verschiedenen Verteilungsräumen, wie die Mediziner das nennen, also wie sich das Flüssigkeitsvolumen und das Fettvolumen im Verhältnis zueinander entwickeln, aber auch zum Beispiel Ausscheidungsfunktionen der wichtigen Ausscheidungsorgane. Zum Beispiel wissen wir, dass im ersten Lebenshalbjahr die Leber noch eine bestimmte Reifungszeit braucht bis sie tatsächlich alle Funktionen entwickelt hat, auch die Niere braucht eine gewisse Zeit bis sie voll funktionsfähig ist."

    Der kindliche Organismus hat seine Eigenheiten. Das belegt auch eine Studie mit dem Wirkstoff "Sotalol". Sotalol ist ein Betablocker, der Erwachsenen seit vielen Jahren bei Herzrhythmusstörungen hilft. Kinder sprachen dagegen auf das Medikament nicht an. Der Grund: Die Dosis war zu niedrig gewählt. Die Studie gilt als Meilenstein in der Kinder-Pharmakologie.

    Mühlbauer:
    "Diese Arbeitsgruppe aus Hamburg und Göttingen hat sich die Mühe gemacht eben zu sehen, mit welchen Dosen, welche Blutspiegel erzeugt werden und diese Arbeitsgruppe hat festgestellt, dass man im Vergleich zum Erwachsenenalter deutlich höhere auf das Körpergewicht bezogene Dosen brauchte, als man das erwartet hatte."

    Säuglinge im Alter von sechs Monaten benötigten sogar die dreifache Menge pro Kilogramm Körpergewicht im Vergleich zu Erwachsenen. Das Neugeborene kommt dagegen mit der halben Ration aus, da seine Nieren noch nicht ausgereift sind und deshalb das Medikament langsamer abbauen. Diese optimalen Dosierungen fanden Ärzte durch häufige Blutuntersuchungen heraus. Will man unterschiedliche Arzneimitteltherapien dagegen miteinander vergleichen braucht es Vergleichsgruppen. Eine solche Pionierarbeit mit Betablockern leitete der Göttinger Kinderkardiologe
    Martin Hülpke-Wett:

    "Das ist eine so genannte randomisierte prospektive Studie gewesen, das bedeutete, dass die Patienten in Gruppen gewürfelt wurden, also zufällig einer Behandlungsgruppe zugeordnet wurden. Alle Kinder wurden behandelt, aber die Patienten in der Betablocker Gruppe haben eben zusätzlich ein Medikament erhalten."

    Und diese Betablocker haben den herzkranken Neugeborenen geholfen, die akute Notsituation bis zur Herzoperation gut zu überbrücken. Solche randomisierten Studien sind allerdings in Deutschland erst seit 2004 mit Inkrafttreten der 12. Arzneimittelnovelle erlaubt.

    "Im Interesse der von allen Seiten geforderten Verbesserung der Arzneimittelsicherheit für Kinder wird die klinische Prüfung bei Kindern und Jugendlichen unter bestimmten Voraussetzungen auch dann gestattet, wenn nicht nur ein individueller Nutzen für die betreffende Person, sondern auch ein künftiger Nutzen für die betreffende Patientengruppe erwartet werden kann", schreibt das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung in der Pressemitteilung zur 12. Arzneimittelnovelle.

    Die Gesetzesänderung markiert einen Bewusstseinswandel. Bis dahin wurden Studien an und mit Kindern als ethisch bedenklich beurteilt. Zu präsent waren noch die Forschungen der Nazi-Medizin an behinderten und kranken Menschen. Nichteinwilligungsfähige Menschen – und dazu zählen auch Kinder - sollten nicht als Versuchskaninchen missbraucht werden. Doch auch ungeprüfte Therapiekonzepte oder Arzneimittel können Kinder unnötig gefährden. Ein ethisches Dilemma, das durch besondere strenge Regeln beim Studiendesign aufgefangen werden soll.

    Mühlbauer:
    "Bereits bei der Planung einer solchen Studie muss der Forscher ….einem Prinzip folgen, das die Europäische Union als "minimal risk" und "minimal burden" formuliert hat. Dahinter steckt nichts anderes, als dass das geringste denkbare Risiko nur in Kauf genommen werden darf und dass auch die Belastung, also "burden", die Belastung eines Kindes in einer klinischen Studie, sei es durch Blutabnahmen, sei es durch zusätzliche diagnostische Untersuchungen möglichst gering gehalten werden muss, um diesen wissenschaftlichen Nutzen zu erreichen."

    Wer entscheidet, was dem Kind zumutbar ist? Immer wieder erschrecken Zwischenfälle bei Arzneimittelprüfungen, wie dieses Jahr in England passiert, die Öffentlichkeit. Ein neuer Wirkstoff aus monoklonalen Antikörpern schädigte die Testpersonen lebensbedrohlich. Eine solche Gefährdung ist nie ganz auszuschließen. Deshalb verbietet die europäische Kinder-Arzneimittelverordnung sog. "Phase- I- Studien" an gesunden Kindern. Das heißt bevor neue Wirkstoffen an kranken Kindern geprüft werden, müssen sie bereits an gesunden Erwachsenen ihre Unbedenklichkeit bewiesen haben. Die Rechte von Studienteilnehmern schützen Ethikkommissionen. Sie sind in Deutschland bei den Bundesländern angesiedelt.

    Dieter Hart:
    "Die Ethikkommission ist seit der 12. Novelle zum Arzneimittelgesetz eine Entscheidungsinstanz und nicht mehr nur eine Beratungsinstanz, d.h. ohne eine positive Bewertung der Ethikkommission darf keine klinische Arzneimittelbewertung durchgeführt werden."

    Der Medizinrechtler Dieter Hart ist Vorsitzender der Ethikkommission in Bremen.

    "Bei Kinderprüfungen ist sehr genau zu darauf zu achten, ob eine Nutzen-Risiken-Bewertung stattfindet, die die Risiken für die teilnehmenden Kinder möglichst gering hält. Die Nutzen-Risiko-Abwägung muss sich in der Patienteninformation genau abbilden und da ist darauf zu achten: einerseits die Information für die Eltern zur Verfügung steht aber auch für die Kinder eine adäquate Patienteninformation notwendig ist. Es reicht bei Kindern nicht aus, dass Eltern nur über die Information zustimmen, sondern es bedarf bei einwilligungsfähigen Jugendlichen deren Einverständnis und bei Kindern, denen diese Einwilligungsfähigkeit nicht attestiert werden kann, ist auf jeden Fall auch eine Befragung und Information durchzuführen und das Urteil des Kindes ist zu berücksichtigen."

    "Eines Tages guckte sie aus dem Fenster und sah eine weiße Feder. Die schwebte direkt vor ihrer Nase und sie musste zum Fenster raussehen. Oh Mutter: Wollen wir es zu den Clowns wieder hinfliegen lassen?"

    Die kleine Marie hat sich im Bett aufgerichtet. Freut sich an der Feder. Pustet sie hin und her, juchzt:
    "Marie, Marie. Die Feder wollte nur noch zu Marie."

    Mütter, Väter, Omas sitzen an den Betten ihrer Kinder und freuen sich an dem Spiel der beiden Clowns. Auch Kerstin Skiba-Hunkel kann sich noch gut an die vielen Wochen erinnern, in denen sie am Bettchen ihres gerade geborenen Hannes saß und einfach nur hoffte. Anfangs, dass er die nächste Tage überlebt, dann dass er die Herzoperationen und die anschließenden Komplikationen übersteht, später, dass sie ihn mit nach Hause nehmen kann. Das ist nun schon sieben Jahre her. Inzwischen begleitet sie Familien mit herzkranken Kindern.

    "Ich habe Eltern herzkranker Kinder befragt, die Erfahrungen mit Klinikaufenthalten und Operationen haben, ob sie sich vorstellen könnten, ihr Kind in eine klinische Studie zu geben und da haben wirklich die meisten Eltern schwere Bedenken geäußert und haben gesagt, die Belastung die sie im Alltag haben ist schon sehr hoch und sie können sich nicht vorstellen eine zusätzliche Last auf die Schultern ihrer Kinder zu laden. Das ist das zentrale Problem: Man trifft ja eine Entscheidung für sein Kind und mein Kind muss vielleicht die Konsequenzen von meiner Fehlentscheidung tragen – das ist was anders. Die Kinder müssen ohnehin schon so viel aushalten", gibt die Familienberaterin Skiba-Hunkel zu bedenken. Sie erzählt, wie ihr Sohn Hannes heute noch die Zähne zusammenbeißt, wenn er zum Kontrolltermin in die Klinik muss.

    "Unsere Kinder sind ja alle ein bisschen Krankenhaus traumatisiert. Sie sind das ja alle gewohnt, dass sie ständig untersucht und überwacht werden. Auch ein Piks einmal am Tag der stört und wenn dann alle halbe Stunde jemand kommt zum Blutdruckmessen das stört und Kinder nervt es schon, wenn sie ein Braunüle im Arm haben und sie ihren Arm nicht vernünftig bewegen können. Das scheint für Mediziner eine Kleinigkeit zu sein, aber für Kinder ist das wirklich ein Eingriff in ihre kleine Persönlichkeit. Die Sorge der Eltern ist einfach, dass man die Kinder noch mit etwas zusätzlich belastet und man sie einfach am liebsten mal lassen würde."

    Diese Sorge kennt auch Veronika Sanders aus Wilhelmshaven. Ihre Tochter Deborah leidet seit vier Jahren an entzündlichem Rheuma. Vor allem als sie die Einwilligungserklärung für die Arzneimittelstudie unterzeichnen musste, war ihr sehr mulmig zu mute.

    "Wir kriegten die Nebenwirkungen und das waren zwei DIN-A4-Seiten und es war kleingeschrieben und dann habe ich gelesen und dann habe ich gedacht, was wäre wenn Spätfolgen eintreten, wie werden wir das beweisen können, haben wir die Nachweispflicht, also wenn sie Magenbluten kriegt und alles habe ich schuld, habe ich ihr das zumuten dürfen."

    Mutter Sanders und ihre dreizehnjährige Tochter Deborah sitzen gemeinsam auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer. Dem Mädchen sieht man auf den ersten Blick die Krankheit nicht an.

    "Ich habe noch fünf Geschwister. Ich gehe halt noch zur Schule mit meiner Zwillingsschwester in einer Klasse, mit der streite ich mich oft. Meine Hobbys sind eher Playstation spielen, so Kampfspiele finde ich toll, wo man eine Person ist und verschiedene Sachen erobern muss und so was finde ich einfach toll."

    Mutter und Tochter erzählen von dem monatelangen Spießrutenlaufen durch Arztpraxen. Obwohl die kleine Deborah kaum mehr Gehen konnte und unter starken Schmerzen litt, nahmen Kinderärzte und Orthopäden ihre Beschwerden nicht ernst. Erst in der Bremer Professor Hess Klinik wurde das Rheuma diagnostiziert.

    "Ich habe mich nicht interessiert, was ich hatte. Erst als ich stationär überall lag, habe ich erst angefangen das richtig zu begreifen …. Sie haben mich immer untersucht, Blutabnahme, Durchbewegung des ganzen Körpers, Fieber messen und dann haben sie mich immer gestochen und den Schlauch gelegt, wo ich die Medizin durchbekommen habe."

    Anfangs half dem Mädchen die Cortisonstoßtherapie. Bald konnte sie wieder einen Stift halten und den Schlüssel umdrehen. Doch dann verbesserte sich ihre Verfassung nicht weiter. Die betreuenden Ärzte schlugen vor, eine neue Substanz auszuprobieren, die die Aktivierung von T-Zellen bremsen und somit die zerstörende Immunreaktion an den Gelenken hemmen sollte. Dieses Medikament ist in den USA für Erwachsene zugelassen und wurde in verschiedenen Zentren weltweit an etwa 200 Kindern getestet.

    "Das waren natürlich Sachen, wo ich mir überlegt habe – darfst du das? Ich muss ganz ehrlich sagen, ich habe viel darüber gebetet und habe dann letzten Endes mit meinem Mann beschlossen: gut, wir stimmen da zu. Deborah darf an dieser Studie teilnehmen. Wir haben sie auch selber gefragt, ob sie das möchte, ob sie sich das traut."

    "Mit deiner Teilnahme an der Studie kannst du das neue Medikament Abatacept erhalten. Hierdurch können sich deine Schmerzen, Bewegungseinschränkungen und dein Befinden bessern."

    So stand es in der Patienteninformation, die die damals elf-jährige Deborah von ihrem Arzt in die Hand gedrückt bekam.

    "Allerdings ist es auch möglich, dass das Medikament bei dir keine Besserung bewirkt. Während der Studie wirst du besonders gründlich von deinem Studienarzt oder deiner Studienärztin untersucht und betreut."

    "Das haben sie mir alles erzählt, dass ich öfters hin muss und dass meine Eltern hinterher immer einen Bogen ausfüllen müssen. Das war eine richtig dicke Mappe. Dass sie meine Knie bis zum Po bewegen und meine Füße einzeln durch bewegen; meine Wirbelsäule haben sie angeguckt."

    Ein, zwei Mal im Monat fuhren Deborah und ihre Mutter die 100 Kilometer ins Bremer Krankenhaus –fünf Monate lang. In der Vorlaufphase wurde das Vorgängerpräparat abgesetzt, Mediziner nennen es "auswaschen", damit die Wirkung des Prüfmedikaments nichts verfälscht wird. Dann bekam sie durch einen Tropf die neue Substanz verabreicht. Gleichzeitig wurde ihr jedes Mal Blut abgenommen, um die Wirkung des Wirkstoffs im Organismus zu kontrollieren.

    "Was ich bei der Studie blöd fand, dass sich meine Gelenke ziemlich verschlechtert hatten und dann haben meine Eltern und ich einstimmig beschlossen, dass ich damit aufhöre, weil es so schrecklich wurde. Nach der Studie konnte ich nicht mehr länger laufen. Ich konnte keine Faust mehr machen. Das fand ich blöd."

    "Wir beide hatten als Eltern bei Deborah das große Glück, dass wir zwei Ärzte dabei hatten, von denen wir uns wirklich betreut gefühlt haben und dass wir denen sehr vertraut haben und wenn diese Vorbedingung stimmt, dann denke ich schon, ist es sinnvoll an Studien teilzunehmen. Es geht nicht nur um das eigene Kind, sondern auch um andere. Mit dem Medikament, das bei Deborah nicht angeschlagen hat, wird man wohl wissen, dass es anderen auch nicht hilft. Davon gehe ich aus."

    Ob der amerikanische Pharmakonzern, der das Rheumamedikament an Kindern weltweit testen ließ, auch diese Negativ-Daten veröffentlichen wird? Eine kürzlich im amerikanischen Wissenschaftsmagazin JAMA veröffentlichte Untersuchung der "Duke University" über Kinderstudien fand, dass Pharmahersteller negative Studienergebnisse oft nicht publizieren. Dadurch werden Kinder möglicherweise weiteren unnötigen Tests ausgesetzt. Außerdem fehlen Ärzten und Eltern die Grundlagen für ihre Therapieentscheidungen. Die EU will das besser machen. Sie verpflichtet die Pharmafirmen ihre Studienergebnisse in einer europäischen Datenbank zu dokumentieren. Inwieweit auch Laien darauf Zugriff haben, ist noch nicht entschieden.

    "Schade ist natürlich, dass wir nicht erfahren haben, wie die Studie im Ganzen gewirkt hat, hätte mich interessiert, ob es irgendwie positive Berichte gegeben hat."

    Die US-Amerikaner sammeln bereits seit 1998 Erfahrungen mit dem Zulassungsmodell, das nun mit einigen Abweichungen ab 2007 auch in Europa gelten soll. Die Bilanz fällt erst einmal positiv aus: Klinische Prüfungen von Arzneimitteln für Kinder boomen. 253 Studien wurden in den ersten sechs Jahren der Gesetzesänderung durchgeführt. Davon führte die Hälfte zu einer Zulassung beziehungsweise einer Änderung der Zulassung, zum Beispiel der Dosierungsempfehlungen. Aber es gibt auch Kritik: Die Arzneimittelausgaben sind durch den verlängerten Patentschutz immens angestiegen. Außerdem nutzten einzelne Pharmaunternehmen die neue Regelung aus: Sie testeten Substanzen an Kindern nur deshalb, um für das Erwachsenenpräparat den Patentschutz länger zu erhalten. In Europa soll der Pädiatrieausschuss solche Auswüchse verhindern. Seine Mitglieder müssen dokumentieren, dass sie von Pharmainteressen unabhängig sind.

    "Der Pädiatrieausschuss ist ganz wichtig", sagt Hans Joachim Weber, medizinischer Direktor beim amerikanischen Pharmariesen Lilly.

    "Es ist ja ein Expertengremium mit dem wir unsere klinischen Programme abstimmen und das ist die Vorraussetzung dafür, dass die Ergebnisse dieser Studien auch anerkannt werden. Das wir also nicht ins Blaue hineinforschen und unnötige Studien machen, sondern tatsächlich Studien machen, die hinterher zu einer Umsetzung in den Produktinformationen führen."

    Für den Vertreter der forschenden Arzneimittelindustrie ist die neue EU-Kinderverordnung ein akzeptabler Kompromiss zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen und dem Wunsch Kinder zukünftig mit sicheren und geprüften Medikamenten zu versorgen. Der Kinderonkologe Joachim Boos:

    "Ich bin ganz sicher, dass die EU-Verordnung etwas verändern wird und ich würde sogar weitergehen und sagen, sie hat schon eine ganze Menge verändert, weil es in den letzten Jahren zu einer deutlich intensiveren Kommunikation zwischen den Beteiligten gekommen ist. Also, zwischen Behörden, die Arzneimittel zulassen, zwischen pharmazeutischen Unternehmen, die ihre Verantwortung für Kinder da inzwischen auch erkennen und zwischen den Kinderärzten, die sich um dieses Thema bemühen."

    Joachim Boos leitet an der Universtitätsklinik Münster ein Zentrum für Klinische Studien im Bereich Kinderkrebs. Es gehört zum PädNet, einem deutschen Netzwerk das Kinderstudien durchführt und koordiniert. Seit 2002 wird diese Infrastruktur vom Bundesforschungsministerium finanziell unterstützt. Außerdem will das 7. Europäische Forschungsrahmenprogamm die medizinische Forschung mit und für Kinder besonders fördern. Es gilt für den Zeitraum von 2007 bis 2013 und soll Ende November vom Europaparlament verabschiedet werden.

    "Das wird schon weiterhin so sein, dass die Entwicklung von Therapiekonzepten bei Kindern eine Aufgabe der Gesellschaft ist und nicht der Industrie und letztlich halte ich das auch für absolut richtig", betont der Kinderarzt Joachim Boos.

    "Ein gutes Beispiel ist die Entwicklung von Therapiekonzepten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo natürlich immer die Frage ist, behandele ich jetzt ein Aufmerksamkeitssyndrom oder eine Ernährungsstörung mit Medikamenten, mit familienorientierter Psychotherapie, was weiß ich, was es da so alles gibt. In anderen Bereichen in der Neurologie ist es vielleicht die Frage, führe ich bei Kindern mit Muskelverspannungen lieber ein Medikament ein oder lieber eine Krankengymnastik. Wenn man eigentlich zeigen will, das geht genauso gut mit Krankengymnastik oder das geht eigentlich besser mit einer familienbasierten Psychotherapie, dann ist man da in einer kritischen Situation. Und eigentlich kann das Ziel der Gesellschaft, die ja nach der Verfassung nun mal die Gesundheitsfürsorge zu garantieren hat, nicht sein, möglichst viele Arzneimittel einzusetzen, sondern möglichst optimale Gesamtheitskonzepte zu erarbeiten."

    "Tschüss Melanie, Tschüss Jason. Kannst du mir noch was draufschreiben?"

    Es ist später Nachmittag. Die Schwestern beginnen das Abendbrot auszuteilen. Drei Stunden lang haben die beiden Clowns Susi und Wilma für gute Stimmung auf der Station gesorgt und doch noch nicht alle Kinder einzeln begrüßt. Ein zehnjähriges Mädchen will noch unbedingt ein Autogramm auf ihr Gipsbein haben.

    "Klar, das machen wir noch. Schreib ich Wilma auf den großen Gips. Da mal ich doch eine dicke Clownsnase und S-u-s-i."