"Inklusion, also das ist schon eine schwierige Frage, aber ich denke mal das bedeutet, dass man mit allen Kindern zusammen leben soll, also mit allen Leuten halt zusammen leben soll und ja, egal ob im Rollstuhl oder nicht im Rollstuhl – das ist völlig egal.
Der 10-jährige Lorenz trifft den Kern: Zusammen in Vielfalt, das ist Inklusion. Wie das gehen kann, hat seine Grundschule in Wolperath-Schönau gezeigt und dafür im letzten Jahr den Jakob-Muth-Preis für gute Inklusionspraxis bekommen. Die Gemeinschaftsgrundschule in Nordrhein-Westfalen gibt es seit 2005. Sie hat von Anfang an behinderte Kinder aufgenommen, so wie den 10-jährigen Finn. Der schwer körperbehinderte Junge schwingt in einer Nestschaukel, während seine Klassenkameraden neben ihm Sportunterricht haben.
Finn:
"Weil es einfach Spaß macht mit den anderen Kindern zu sein."
Lehrerin:
"Draußen spielen die Kinder auch miteinander und schieben dann mit dem Rollstuhl. Aber allein die Geräuschkulisse ist für Finn noch einmal was Besonderes, auch gewöhnungsbedürftig. Aber er ist halt mit dabei."
Inzwischen besucht fast jedes dritte Kind mit Förderbedarf eine Regelschule. Das ist ein Anstieg um 71 Prozent im Vergleich zum Schuljahr 2008/2009. Eine Erfolgsmeldung, kommentierte kürzlich die Bertelsmann-Stiftung die Ergebnisse ihrer diesjährigen Studie zum Stand der Inklusion. Aber kein Grund zum Feiern, meint Professor Rolf Werning vom Institut für Sonderpädagogik an der Universität Hannover.
"Was wir eigentlich sehen, und das haben wir auch im Bildungsbericht 2014 dargestellt, ist, dass wir eine Zunahme von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben, die in Regelschulen unterrichtet werden. Wir haben aber keinen substanziellen Abbau von Kindern, die in Förderschulen unterrichtet werden. Inklusion ist eher eine Erweiterung zurzeit und keine Veränderung des Systems, wie es ja eigentlich in der UN-Behindertenrechtskonvention gefordert wird."
Grundlegend neue Ausrichtung des Schulsystems
Es geht nicht allein um Behinderung und sonderpädagogischen Förderbedarf, sondern um eine grundlegend neue Ausrichtung unseres Schulsystems. Und bis dahin, ist es noch ein weiter Weg und er ist gepflastert mit Stolpersteinen. Denn es prallen Welten aufeinander, meint auch Birgit Lütje-Klose, Professorin für Sonderpädagogik an der Uni-Bielefeld:
"Wir haben ein hoch seperatives Schulsystem, wir haben sieben verschiedene Förderschulformen und das dreigliedrige Regelsystem. Das ist eine hoch seperative Struktur, die gibt es ja kaum sonst irgendwo auf dieser Welt."
Und dieses Trennsystem soll sich nun weit öffnen. Das gegliederte Schulsystem beruht auf dem Grundgedanken, dass Kinder besser in leistungsgleichen Gruppen lernen. Ein Irrtum, sagt der Pädagoge Rolf Werning:
"Forschungen zeigen, das ist nicht so. Das heißt, wenn man einen adaptiven, individualisierten Unterricht macht, dann profitieren alle Schüler davon, leistungsstarke, leistungsschwächere, also es geht nicht nur um Kinder mit Förderbedarf, sondern es geht um alle Kinder. Aber dazu braucht man eine gute Mischung, es muss eine gute Mischung von Kindern mit breiten Fähigkeiten und Kompetenzen sein, sodass sich ein gutes Lernmilieu in diesen Gruppen entwickeln kann."
Das Institut für Sonderpädagogik an der Uni Hannover hat dazu gerade eine Studie abgeschlossen, die im November veröffentlicht wird. Im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung hat Rolf Werning mit seinem Team gute inklusive Praxis untersucht und Kriterien abgeleitet.
"Wir haben zwei Typen eigentlich von guten inklusiven Schulen gefunden. Das eine waren Schulen, die schon ganz lange mit diesem Thema Integration beschäftigt waren, zum Teil schon 30 Jahre. Das waren häufig Schulen, die das gemeinsame Lernen als Gründungsmerkmal hatten. Und dann haben wir Schulen, wo eigentlich die Entwicklung hin zu einer inklusiven Schule eher dem geschuldet ist, dass sich die Schule immer adaptiver gestaltet hat, das heißt mehr auf die Anforderung, die die Schüler mitbringen eingestellt hat. Das Einzugsgebiet änderte sich, wir hatten mehr Kinder mit besonderen Problemsituationen, dass leistungsstarke Kinder bei uns nicht angemeldet wurden und wir mussten was verändern. Und dann haben wir Schulprojekte gemacht zum individualisierten, selbst-reguliertem Lernen und dann stellte sie auf einmal fest, wir werden immer inklusiver."
Zusammenarbeit als Hauptprogramm der integrativen Schule
So ging es der evangelischen Gemeinschaftsgrundschule Kerpen. Irgendwann stimmte die Mischung nicht mehr, leistungsstärkere Kinder blieben weg. Heute kann die Schule gar nicht alle Schüler aufnehmen.
"Wir sind eine andere Schule. Wir sind Kinder aus Afrika und halt Türkei, aber auch ganz viele aus Deutschland. Und wir helfen uns gegenseitig und wir machen fast alles zusammen. Wir sind eine 1-4-Schule, das bedeutet, wir sind vom ersten bis zum vierten Schuljahr in einer Klasse. Dass wir so wie eine Familie sind. Wir haben auch bunte Türen – ja, wir sind halt so eine bunte Schule."
Eine bunte Schule, von außen und von innen. Vor 10 Jahren hat das Lehrerteam begonnen, Vielfalt als Stärke und nicht als Störfaktor zu sehen. Alle Klassen sind inzwischen altersgemischt vom ersten bis zum vierten Schuljahr. 16 Stunden lernen die Kinder zusammen, den Rest in altersgleichen Gruppen. Der Schritt in die Inklusion vor einem Jahr sei deshalb ganz selbstverständlich gewesen, erklärt die Schulleiterin Bettina Strunk.
"Natürlich hat unser Verständnis vom Menschen das geprägt. Wir haben gesagt: Jeder, so wie er ist, ist hier richtig. Wir gehen darauf ein und machen uns nicht die Kinder passend. Und eigentlich ist es ein ganz tolles Zusammensein. Also ein sehr vertrauensvolles Verhältnis von allen Beteiligten, mit den Kindern, mit den Eltern, weil allen klar ist, das können wir nur gemeinsam schaffen."
Zusammenarbeit ist Programm an der Gemeinschaftsgrundschule Kerpen. An diesem Tag arbeiten die Kinder der gelben Gruppe an Referaten über verschiedene Tiere. Nina macht die ersten Versuche im Lesen und Schreiben. Marlene Niedenhoff, die stellvertretende Schulleiterin hilft ihr dabei. Alle Kinder haben untereinander die Aufgaben abgesprochen und arbeiten jetzt selbständig. Der Lehrerin bleibt deshalb viel Zeit für einzelne Kinder:
"Man ist viel mehr im 1:1 Dialog mit dem Kind über eine Sache. Das ist früher gar nicht möglich gewesen, früher sind wir doch eher im Gleichklang vorangegangen. Also man lernt den Buchstaben B in der 2. Woche oder was auch immer. Das machen wir ja gar nicht mehr."
"Das ist ein Ergebnis, alle diese Schulen setzen Schülerinnen und Schüler in den heterogenen Lerngruppen in den Mittelpunkt und versuchen, sich stärker an die Schüler anzupassen. Was sonst in Schulen eher umgekehrt ist, Schüler müssen sich an die Schule anpassen. Inklusive Schulen drehen das ein bisschen um, indem sie sich stärker an den Schüler anpassen, indem sie wahrnehmen, was braucht der, wo steht der, was sind die nächsten Schritte und damit individualisiertes Lernen realisieren."
Sieben Merkmal für gute integrative Schulpraxis
Insgesamt sind es sieben Merkmale, die eine gute inklusive Schulpraxis ausmachen, erklärt Rolf Werning die Ergebnisse der Studie am Institut für Sonderpädagogik in Hannover. Im Zentrum stehe immer eine Schulkultur, die alle Kinder sieht und fördert. Nötig sei darüber hinaus eine gute Zusammenarbeit von Schulleitung, Lehrern und Eltern. Selbständiges Lernen und eine regelmäßige individuelle Selbsteinschätzung und Leistungsrückmeldung gehöre ebenso dazu.
Den Grundschulen fällt eine solche Öffnung für alle Schüler leichter, sie mussten schon immer mit Verschiedenheit umgehen. Eine aktuelle Studie von Professor Klaus Klemm belegt einen Inklusionsanteil von fast 50 Prozent an Grundschulen. Hingegen nur jeder zehnte Förderschüler lernt an einer Realschule oder am Gymnasium. Wenn überhaupt findet weiterführende Inklusion an Gesamt- aber vor allem an Hauptschulen statt, erklärt Brigit Lütje-Klose von der Uni Bielefeld. Sie hält das für problematisch.
"Es ist natürlich so, dass durch diese Dreigliedrigkeit bzw. Vielgliedrigkeit wir in der Hauptschule die Schülerinnen und Schüler vorfinden, die ohnehin im niedrigsten Leistungsbereich sind, die auch vielfach von soziokultureller Benachteiligung betroffen sind und mehrere Problemlagen da haben. Insofern ist natürlich das Risiko da, dass die Hauptschulen, wenn da viele Kinder mit Förderbedarf hingehen, die noch weiter runter gehen mit ihrem Leistungsniveau. Dann hätten wir quasi wieder eine andere Form der Förderschule."
Das ist ein Problem des Übergangs und es ist nicht das einzige. Inklusion gleicht auf der Länderebene einem Flickenteppich. Während in den Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin oder in Schleswig-Holstein die Mehrheit der Förderschüler an Regelschulen lernt, sind es in Hessen und Niedersachsen weniger als ein Viertel. Dabei wechseln kaum Kinder von Förderschulen zu Regelschulen. Die Exklusionsquote ist seit Jahren konstant geblieben. Und insgesamt steigt sogar die Zahl der Kinder mit einer Förderdiagnose. Seit 2008 ist ihre Quote um 13 Prozent gewachsen. Das heißt: trotz steigender Inklusion haben wir heute mehr Kinder mit dem Etikett 'behindert'.
"Dass der Anteil der Kinder mit Förderbedarf steigt, ist ein Ressourcenetikettierungsdilemma, das heißt durch die Zuweisung eines Förderbedarfs kann man Ressourcen regenerieren, zum Beispiel Zuweisung von Sonderpädagogen-Stunden an die Schule oder die Kinder werden doppelt gezählt im Unterricht. Das heißt, Schulen haben ein Interesse daran, sonderpädagogischen Förderbedarf festzustellen und das ist immer eine in gewisserweise ungünstige Situation, weil dadurch auch die Bereitschaft steigt, Kinder zu etiketieren."
Im Klartext heißt das: Die steigende Inklusionsrate kommt vor allem von Kindern, die schon immer an Regelschulen waren, nur jetzt mit dem Etikett Förderbedarf. Dafür bekommen die Schulen mehr Unterstützung zum Beispiel durch Sonderpädagogen-Stellen. Da beißt sich die Katze selbst in den Schwanz: Denn Inklusion, die den Namen verdient, kommt ohne Etikett aus, meint Prof. Rolf Werning:
"Hier kommen wir an den Punkt, wo es auch ein Stück an das System geht. Inklusion ist eigentlich die Anforderung an Schulen, für alle Schüler gute Lernbedingungen zu schaffen, ohne sie abzusondern."
Kölner Eltern gründen eigene Schule - offen für alle Kinder
Donnerstag, 8.30 Uhr. Eine Lerngruppe der Mittelstufe, 28 Schüler der achten, neunten und zehnten Klassen, haben jetzt offene Lernzeit. Das heißt, die Schüler arbeiten im Team oder alleine – ob Mathe oder Biologie, Deutsch oder Erdkunde, das muss jeder selbst entscheiden. Selbständiges Lernen ist ein Grundprinzip der vor drei Jahren gestarteten Offenen Schule Köln. Die OSK versteht sich konsequent inklusiv, als Schulgemeinschaft für alle Kinder, aller Kulturen und sozialer Schichten, aller unterschiedlichen Lern- und Förderbedürfnisse. Der 16-jährige Clemens Werner ist körperbehindert und im zweiten Jahr auf der OSK. Vorher besuchte er die integrative Klasse einer Gesamtschule.
"Die Initiative kam eigentlich von meinen Eltern und dann bin ich einfach mitgezogen, wegen dem neuen Schulkonzept. Mal gucken, ob es da besser klappt. Und ja, es klappt."
"Was ist denn besser hier?"
"Man lernt wesentlich besser, weil man lernt nicht im Klassendruck ist, man lernt für sich, ja, das ist das, was besser ist. Das Schulklima ist natürlich ganz anders, weil man hat mit ganz andren Menschen zu tun. Auf der alten Schule, man hatte zwar Menschen mit Behinderung, aber man wurde so ein bisschen abgekapselt. Hier wird man ins kalte Wasser geschubst, so machmal."
Eva-Maria Thoms ist Vorsitzende des Elternvereins mittendrin e.V. in Nordrhein-Westfalen und eine der Gründungseltern der Offenen Schule Köln. Ihre 15-jährige Tochter hat das Down-Syndrom und ist vom ersten Tag an Schülerin der OSK.
"Ich bin stolz auf viele Ansätze, die ich da sehe, sowohl was die Unterrichtsgestaltung als auch den Wandel des Blicks betrifft, eben Kinder nicht mehr zu kategorisieren, sondern bei jedem Kind zu gucken, wo stehst du und was brauchst du. Auch stolz darauf, so ne Haltung, die man an anderen Schulen oft trifft, wo es Erwachsenen sehr oft passiert, dass sie ganz leichtfertig Schüler beschämen, weil sie vielleicht im Lernstoff ein bisschen hinterher sind oder so, was mit Sicherheit nicht dazu führt, dass die Schüler besser motiviert sind zu lernen, also dass die Entwicklung eines wertschätzenden Umgangs, dass die vorankommt."
UN-Konvention führte zum Start der Inklusion in Deutschland
Dies sei auch das zentrale Ergebnis der Studie "Gute inklusive Praxis", erklärt Prof. Rolf Werning. Inklusive Schule sei ein Ort zum Lernen und Leben.
"Kinder, die besondere Benachteiligungsmerkmale mitbringen, werden häufig auch von Mitschülern ausgegrenzt. Von daher muss Schule so etwas wie soziales Lernen, achten auf Akzeptanz unter den Schülern beachten und Fördern als Teil des Unterrichts begreifen."
Die Haltung sei dabei fast wichtiger als die finanzielle Ausstattung, erklärt der Erziehungswissenschaftler:
"Das Spannende, was bei unserer Untersuchung herausgekommen ist, dass die Lehrkräfte gesagt haben, ja, Ressourcen sind wichtig, aber sie können nur dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn bei uns auch Professionalität, Haltung entsteht. Das heißt, man versucht das miteinander zu koppeln. Das fand ich spannend, dass da nicht nur so eine Anspruchshaltung entstanden ist."
Inklusion ist ein Weg, und Deutschland befindet sich im internationalen Vergleich noch ganz am Anfang. Die Grundsatzentscheidung wurde mit der Zustimmung zur UN-Behindertenkonvention schon vor Jahren getroffen. Ein Anfang ist gemacht, er zeigt die Probleme und schon gute inklusive Praxis. Daraus sollten wir lernen, fordert der Sonderpädagoge Prof. Rolf Werning.
"Wenn wir es ernst meinen, dann müssen wir die verschiedenen Finanzierungsmodi, die im System sind, miteinander verbinden. Das hängt auch damit zusammen, dass wir nicht sagen können, wir können dauerhaft ein System Förderschule neben ein System inklusiver Schule aufrechterhalten. Das heißt, wir müssen konsequent sein und die Ressourcen, die sich aus der sonderpädagogischen Förderung ergeben in die allgemeinen Schulen umleiten.