Der mit der Coronakrise verhängte Lockdown wird inzwischen nach und nach aufgehoben, die Geschäfte sind offen, man kann wieder essen gehen, die Kinder dürfen wieder in der Schule lernen. Parallel werden Hilfsmaßnahmen von nie dagewesenem Ausmaß angeschoben, das Kurzarbeitergeld wurde ausgeweitet, große Firmen und Klein-Selbstständige konnten direkt Geld erhalten, es wird Unterstützung für Eltern geben und große Konjunkturprogramme. Die Kosten der COVID-19-Maßnahmen werden so immer deutlicher. Ihre Erfolgsbilanz dagegen scheint vielen fraglich: "War das alles wirklich nötig?"
"Die Menschen können sehr stolz sein"
Die Zeitschrift "Nature" veröffentlichte dazu zwei Artikel, die versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Und über die weltweiten Maßnahmen gegen die Ausbreitung von COVID-19 scheibt Solomon Hsiang von der University of California Berkeley in den USA:
"Die Welt hat in diesem Moment zusammengearbeitet und es hat funktioniert, das Virus wurde ausgebremst. Noch nie in der Geschichte der Menschheit wurde so viele Leben in so kurzer Zeit gerettet. Wir haben das alle zusammen geschafft durch gemeinsames globales Handeln auf globaler Ebene. Ich denke, die Menschen können darauf sehr stolz sein."
Wie haben Schulschließungen, das Verbot von Großveranstaltungen, schließlich der Lockdown, wirklich funktioniert?
Da sind die beiden Analysen vom Imperial College in London und von der Universität von Kalifornien in Berkeley sich wirklich einig: ohne die drastischen Einschränkungen wäre COVID-19 wirklich außer Kontrolle geraten. Hunderte Millionen Menschen wären zusätzlich infiziert worden, allein in Europa hätte es drei Millionen Tote mehr gegeben. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Solomon Hsiang meint, wir können alle gemeinsam stolz sein, dass wir SARS-CoV-2 unter immensen ökonomischen, persönlichen, psychologischen Kosten in vielen Ländern ausgebremst haben.
Wie sind die Wissenschaftler aus dem kalifornischen Berkeley vorgegangen?
Beide Teams haben jeweils geguckt, wie COVID-19 in unterschiedlichen Ländern verlaufen wäre, wenn die Regierungen nicht gehandelt hätten und dann haben sie geguckt, wie die Epidemie auf die unterschiedlichen Maßnahmen reagiert hat. Das amerikanische Team um Solomon Hsiang konzentrierte sich auf sechs Länder - konkret China, Südkorea, Italien, Frankreich, Iran und die USA. Da stiegen die Infektionszahlen anfangs jeden Tag um 38 Prozent an. Das heißt, alle zwei, drei Tage verdoppeln sich die Zahlen. In den sechs Länden gab es zu unterschiedlichen Zeiten und jeweils in unterschiedlichen Regionen über 1.700 Maßnahmen. Schulschließungen, das Verbot von Großveranstaltungen, das Schließen von Grenzen, ein Lockdown. Unterm Strich konnten so allein in diesen sechs Ländern bis Anfang April 500 Millionen Infektionen verhindert werden.
Was haben die Wissenschaftler aus London gemacht?
Die haben sich nicht die Infektionszahlen angesehen, da gibt es ja Probleme, weil nicht überall gleich viel getestet wird. Sie haben sich die Todeszahlen angesehen und von da zurückgerechnet auf Erkrankungsfälle und letztlich auch auf die Infektionszahlen. Wenn sie dann wieder vergleichen, wie hätten sich die Zahlen ohne Gegenmaßnahmen entwickelt? Dann gehen die Forscher um Sami Bhatt davon aus, dass in der Zeit bis zum 4. Mai in diesen europäischen Ländern über drei Millionen Todesfälle verhindert werden konnten und dass COVID-19 überall auf dem Rückzug ist. Erhebliche Unterschiede gibt es in der Ausbreitung des Virus in verschiedenen Ländern. In Belgien haben inzwischen acht Prozent der Bevölkerung COVID-19 durchgemacht, in Schweden 5,5 Prozent in Deutschland nur 0,85 Prozent. Das heißt, unterschiedliche Strategien haben das Virus tatsächlich unterschiedlich effektiv zurückgedrängt.
Kann man den Effekt einzelner Maßnahmen auseinander rechnen?
Das gelingt in beiden Analysen nur begrenzt, auch weil die unterschiedlichen Maßnahmen so rasch hintereinander eingeführt wurden, da verwischen sich die Effekte sozusagen. Klar ist, wenig überraschend, ein kompletter Lockdown hat die größte Wirkung. Am wenigsten effektiv scheint die Schließung der Grenzen zu sein. Dagegen lohnen sich Reisebeschränkungen im Land, die Aufforderung zur sozialen Distanzierung und das Verbot von Großveranstaltungen. Unklar bleiben die Effekte von Schulschließungen. Für beide Gruppen ist die entscheidende Aussage: Die politischen Maßnahmen zusammengenommen haben funktioniert und funktionieren, die Details lassen sich leider nach wie vor nicht sicher ableiten.
Was lässt sich aus den Analysen folgern?
Also erst einmal, gilt für alle Länder, die aktuell mit großen COVID-19 Ausbrüchen kämpfen: Zeit ist ein entscheidender Faktor. China und Südkorea haben sehr schnell reagiert und konnten so die Ausbreitung des Virus fast stoppen. Andere Länder waren zögerlicher. Die Analyse zeigt, schon wenige Tage Unterschied haben zwei Wochen später dramatische Folgen für die Ausbreitung des Virus. Das Tempo ist entscheidend, selbst wenn man auf die Schnelle vielleicht manches nicht ganz zielgerecht macht - das ist für Solomon Hsiang die wichtigste Botschaft seiner Analyse. Wie gesagt, die Bedeutung der Einzelmaßnahmen lassen sich nach wie vor nur begrenzt vorhersagen. Eine weitere wichtige Botschaft für Europa lautet: Hier sind Länder noch weit von einer Gruppenimmunität entfernt, dafür müssten ja deutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung die Infektion durchgemacht haben und selbst in Belgien sind es weniger als zehn Prozent. Und das heißt, das Virus ist noch da und wird sich wieder ausbreiten, wenn es die Chance dazu erhält. Da sind sich beide Gruppen einig.
Die Artikel aus der Zeitschrift "Nature":
"Estimating the Effects of Non-Pharmaceutical Interventions on COVID-19 in Europe"
Bhatt et. al. Nature 8.6.2020
Bhatt et. al. Nature 8.6.2020
"The Effect of Large-Scale Anti-Contagion Policies on the COVID-19 Pandemic"
Hsiang et. al. Nature 8.6.2020
Hsiang et. al. Nature 8.6.2020