Der erste Inszenierungsversuch mit dem neuen Text der gebürtigen Weimaranerin Sibylle Berg ist eine durchaus derbe Enttäuschung – was vielleicht aber nicht an der Autorin liegt. Denn "Paul oder Im Frühling ging die Erde unter", die Coming-out-Erinnerung eines Jungen in tieferer Provinz, könnte Kraft und Atmosphäre entwickeln, wenn sie denn ernst genommen würde.
Regisseur Ersan Mondtag aber und vor allem Solo-Darsteller Benny Claessens, für den Bergs Text angeblich konzipiert worden ist, verkitschen die Phantasie zielstrebig und absichtsvoll zur Trash-Show. Claessens in verschiedenen Fummel-Klamotten mit viel bloßer Brust und nacktem Bauch darunter sowie mit endlos albernen Improvisationen über die "Sehnsucht nach Theater" zu Beginn, Mondtag mit sehr viel Musik, von Wagner bis Joni Mitchell, sowie an sehr langen Haaren herbei gezogenen szenischen Einfällen.
Schnickschnack überall
Nachbildungen des Goethe-und-Schiller-Monuments werden bemüht, das "in echt" ja vor dem Nationaltheater in Weimar steht – durch Frau Berg heute spräche wohl der Goethe von damals, raunt Claessens. Eine englische Telefonzelle steht nutzlos herum, und der Schauspieler kommt lohengrinsend in einem Schwan-Modell herein gerollt. Schnickschnack überall. Bergs Text über Paul, der gegen Ende die eigene Homosexualität entdeckt, wird dazu mal vom Blatt gelesen, mal vom Tonband zugespielt:
"Der Junge hieß Paul; ‚Paul‘ nannte ihn seine Mutter. Ob sie an Paul McCartney gedacht hatte bei seiner Geburt, fragte er sich lieber nicht. Das wäre zu erbärmlich. Die Wahrheit war: Seine Mutter hat an nichts gedacht damals außer: Lass den Mist vorbei gehen."
Berg: "Texte werden überschätzt"
Aber zum Glück ist auch der Autorin selbst, die zwischendurch mal kurz angerufen wird, die eigene Arbeit und wie die aufbereitet wird offenbar ziemlich egal. Texte würden generell überschätzt, sagt sie, und Claessens könne ja auch ein bisschen was tanzen, wenn er nicht mehr weiter wisse. Und all dieser Unfug ist nur dafür gut, dass sich das Festival noch einer Uraufführung rühmen kann. Derart zusammen geschludertes Zeug aber ist nur peinlich und beschädigt im Grunde den guten Ruf von allen Beteiligten.
Doktor Faust im Lockdown
Ganz anders und erheblich klüger gedacht und gemacht ist Falk Richters neuer Text in der Regie des Autors selbst: "Five deleted messages" deliriert sich mit einem geschickten Kniff in die paranoiden Phantasien eines Schauspielers hinein, der im Lockdown alle Jobs und Perspektiven verliert.
Faust sollte er spielen am Nationaltheater in Weimar! Jetzt schaut er wirre Videos, er vereinsamt dramatisch und wird immer anfälliger für gefährliches Geschwätz und haltloses Geschwafel nach Art der Demo-Parolen von Corona-Leugnern. Immer tiefer spinnt sich die Figur - die auch noch, wie bei Kafka, "Herr K." heißt - in die Isolation hinein, als wäre mit Quarantäne und Lockdown das öffentliche Leben zum Erliegen gekommen. Der Stillstand aber ist in ihm und immer bleibt es fünf Uhr nachmittags auf der Uhr von Herrn K.
Sich in einen Corona-Leugner hineinversetzen
Eigentlich spricht er nur noch mit sich selber, nachts nackt vor dem Kühlschrank und ins Eisfach hinein. Aus aktuellem Anlass phantasiert er auch noch die Rolle des Retters von Tieren aus Massenhaltung und Massenschlachtung für sich selbst herbei … und all diese Alpträume verunsichern ihn derart, dass das Potenzial zum Verschwörungsideologen in ihm beständig wächst.
Wer Gedanken und Motive demonstrierender Corona-Leugner noch immer gern "verstehen" würde, kann der psychopathologischen Verirrung in Einsamkeit und Verfolgungswahn mit Richters Text sicher gut folgen, zumal der Autor sie sehr geschickt spiegelt in der Entwicklung der klassischen Faust-Figur, an der Herr K. ja eigentlich gerade arbeitet.
Durch diesen Echo-Raum wird aus dem starken Text ein richtig gutes Stück, natürlich auch durch das extrem reflektierte Spiel von Dimitrij Schaad, sowohl live als auch in den brillanten Videos von Chris Kondek. Und so startet das Kunstfest Weimar unentschieden: mit Top und Flop.