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Stützle: Frankreich erschwert Abzug aus Afghanistan

Walther Stützle warnt die NATO-Staaten davor, sich "von der französischen Krankheit anstecken" zu lassen. Der Abzug aus Afghanistan könne nur ohne "nationale Eigenbröteleien" gelingen. Insofern unterstütze er Außenminister Guido Westerwelle, der vor einem Abzugswettlauf warne.

Jasper Barenberg sprach mit Walther Stützle | 22.05.2012
    Jasper Barenberg: Eine einflussreiche Denkfabrik ist das Atlantic Council in Washington - auch, weil dort führende US-Außenpolitiker vertreten sind. Auch in ihrem Namen warnt eine Studie der Organisation, dass ein schwaches Deutschland auch die NATO schwächt. Mehr Engagement wird dort von Berlin verlangt, politisch und militärisch. Begleitmusik für einen Gipfel, auf dem am letzten Tag vor allem der Zeitplan für den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan festgezurrt wurde. Frankreich sorgte mit seiner Entscheidung für einen rascheren Abzug dabei durchaus noch für Irritationen. Walther Stützle beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den transatlantischen Beziehungen, ebenso wie mit Verteidigungspolitik, derzeit bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, davor unter anderem als Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium. Schönen guten Morgen, Herr Stützle.

    Walther Stützle: Guten Morgen, Herr Barenberg.

    Barenberg: Herr Stützle, lassen Sie uns vielleicht zuerst über die unmittelbaren Ergebnisse des NATO-Gipfels reden. Es geht um den Zeitplan zum Abzug in Afghanistan. Zuletzt ist ja der Eindruck entstanden, dass sich NATO-Länder gegenseitig mit Abzugsplänen für ihre Soldaten überbieten. Ist denn aus Ihrer Sicht jetzt mit dem Ergebnis, das auf dem Tisch liegt, gewährleistet, dass es einen halbwegs geordneten Übergang der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen dann gibt?

    Stützle: Wenn mehr Länder sich noch von der französischen Krankheit anstecken lassen, wird das ein sehr schwieriges Unternehmen. Der Abzug aus Afghanistan ist das größte multinationale Rückzugsunternehmen, das die Allianz zu bewerkstelligen hat, und das kann, wenn überhaupt, nur gelingen, wenn diejenigen, die das zu organisieren haben, Gewissheit haben, dass nicht nationale Eigenbröteleien ihnen die Aufgabe zusätzlich schwer machen. Und zu denen, die es zu organisieren haben, gehört unter anderem die Bundeswehr.

    Barenberg: Und insofern hat Außenminister Westerwelle durchaus Recht, wenn er warnt vor einem Wettlauf, der jetzt beginnen könnte?

    Stützle: Ja. Er hat sehr recht und deutet damit auf diplomatisch vornehme und zurückhaltende Art und Weise an, Leute, macht uns die Rückzugsaufgabe nicht unnötig schwer. Die Franzosen sind im Süden Afghanistans stationiert, sie haben keine Verantwortung für irgendein Regionalkommando, ganz anders als die Bundeswehr, die im Norden stationiert ist und dafür sorgen muss, dass der Abzug über den Norden reibungslos – und das Wort ist schon eine Verschönerung der Situation – stattfinden kann, zumal wenn es nicht gelingt (und das ist ja noch keineswegs garantiert), dass die Passagen durch Pakistan wieder geöffnet werden können. Das ist ja offenbar in Chicago auch noch nicht gelungen, obwohl der pakistanische Präsident dort gewesen ist.

    Barenberg: Ich verstehe Sie also richtig: Was die Franzosen betrifft, so ist es jedenfalls militärisch gesehen, was die Lage vor Ort angeht, kein großer Beinbruch, was François Hollande da angekündigt hat, ganz anders bei der Bundeswehr, die im Grunde genommen gar keine Wahl hat?

    Stützle: Es ist insofern ein Beinbruch, als die Franzosen ja der Hilfe ihrer Verbündeten bedürfen, um dort abzuziehen, und auch der Hilfe der Bundeswehr bedürfen, und da kommt es natürlich auch politisch nicht sehr gut an, wenn man solche Eigenbröteleien macht. Hollande möchte gerne den Afghanistankurs der Atlantischen Allianz korrigieren. Dafür habe ich allergrößtes Verständnis, denn ich bin mit Volker Rühe der Meinung, dass dieses Afghanistandesaster einer der größten Fehler der Atlantischen Allianz war. Aber es hat keinen Zweck, darüber jetzt noch lange zu argumentieren. Es geht jetzt um einen geordneten Abzug, und da stört Frankreich mit seinem eigenbrötlerischen Weg, und ich verstehe, dass die Bundeskanzlerin sagt, das spielt alles keine so große Rolle. Das sagt sie natürlich aus diplomatischen Gründen, denn am Mittwochabend sitzt sie ja schon wieder mit dem französischen Staatspräsidenten in der Europäischen Union, die in Afghanistan leider total versagt hat, zusammen, um über die Währungskrise und über die Finanzkrise zu reden, und da braucht sie Frankreich, um eine europäische Position zustande zu bringen. Wie überhaupt, wenn ich das an der Stelle einfügen darf, es zu den Merkmalen des Afghanistandesasters gehört, dass Europa als europäischer Akteur nicht aufgetreten ist, und auch in Chicago hat die Europäische Union nicht das bewerkstelligt, nicht das gemacht, wofür sie sich im Vertrag von Lissabon eindringlich und klar verpflichtet hat, nämlich eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu vertreten. Das ist der Jammer, den auch Verteidigungsminister Gates im letzten Jahr beklagt hat, und das ist die Situation, mit der Obama zurechtkommen musste.

    Barenberg: In diesen Jammer gehört ja – Sie haben es angesprochen – auch der langjährige Streit um eine gerechte Lastenverteilung im Bündnis. Auch das hatte Robert Gates ja vor einem Jahr sehr deutlich angesprochen. Die USA schultern inzwischen etwa 70 Prozent der Kosten und, wenn es nach Robert Gates geht, wohl auch der Risiken. Nun macht es der Spardruck in Europa ja nicht eben leichter, daran etwas zu ändern. Ist Geldmangel ein, wenn nicht der neue Feind der Allianz?

    Stützle: Geldmangel ist ein Feind einer geordneten und einer modernen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Aber der wirkliche Mangel ist nicht das Geld, sondern der wirkliche Mangel ist ein Mangel an Konzepten. Die Atlantische Allianz hatte bis 1989, bis zur Wende im Ost-West-Verhältnis, eine führende konzeptionelle Rolle gespielt. Danach hat sie dies leider vergessen und ist in globale Ausflüge ausgewichen und sie steht nun vor dem Scherbenhaufen, der in einem nur schwer lesbaren Kommuniqué von Chicago in zahlreichen Worten nun manifestiert ist. Zwei Kernaufgaben sind völlig liegen gelassen worden: Erstens ein geordnetes strategisches Verhältnis mit Russland, ohne dass es – damals war es die Sowjetunion – die Wende im Ost-West-Verhältnis nicht gegeben hätte, übrigens auch keine deutsche Einheit, und zweitens der Aufbau einer europäischen politischen Union. Beides ist liegen geblieben und dafür zahlt man jetzt, und das wird man mit Geld auch nicht nachholen können und auch nicht mit einzelnen Rüstungsprojekten, so sinnvoll oder unsinnig sie im einzelnen auch sein mögen.

    Barenberg: In diesen Zusammenhang gehört ja auch die Kritik, die ich schon angesprochen hatte, vonseiten des Atlantic Council, der ja zu dem Schluss kommt, dass das mangelnde politische und militärische Engagement Berlins die größte Gefahr für die Zukunft der Allianz darstellt. Ist das angemessen oder überzogen?

    Stützle: Das ist eine sehr pointierte Kritik. Ein amerikanischer Kollege hat dieser Tage im Gespräch gesagt, ihr Deutschen habt das Geld, aber ihr habt keine Vision. Ob wir das Geld haben, lasse ich mal dahingestellt sein, aber das ist die Wahrnehmung der deutschen Politik bei einem wichtigen Bündnispartner und das ist keine einzelne Stimme. Es ist wahr, dass Deutschland nicht gerade durch konzeptionelle, originelle Gedanken aufgefallen ist, und es wäre natürlich die Hauptaufgabe gerade Deutschlands, in der Atlantischen Allianz dafür zu sorgen, dass das Verhältnis zu Russland auf eine ordentliche Grundlage gestellt wird und nicht durch Spielereien unter dem Thema Raketenabwehr zusätzlich beschädigt wird, und es wäre natürlich die Aufgabe der Wirtschaftsweltmacht Deutschland, die Macht dazu zu nutzen, die Kraft dazu zu nutzen, um Europa voranzubringen, und zwar nicht durch Zahlungen in nationale Haushalte, über deren Verwendung man dann keine Kontrolle mehr hat, sondern durch die Fortentwicklung der Integration zur politischen Union und das bedeutet Verzicht auf Souveränität. Aber an dieses Thema will keiner ran. Man müsste vielleicht gelegentlich bei Konrad Adenauer noch mal nachlesen, der das Grundgesetz als Glücksfall bezeichnet hat, und zwar schon 1949, weil es die Übertragung von Hoheitsrechten vorsieht. Das scheint man in Berlin ein bisschen vergessen zu haben.

    Barenberg: Walther Stützle, Analyst und Verteidigungsexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen.

    Stützle: Ich danke Ihnen, Herr Barenberg!

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