Was so reizvoll ist an einem Stummfilm in Zeiten knalliger Toneffekte, ist nicht leicht zu erklären. Trotzdem repräsentiert "Blancanieves" aus Spanien in Schwarz-Weiß und ohne Dialoge einen aktuellen Trend, der nicht erst seit den fünf Oscars für "The Artist" – darunter der für den Besten Film - im letzten Jahr zu beobachten ist. Manche Filmhistoriker betonen, dass der Stummfilm in seinen Hochzeiten in den 1920er-Jahren nicht einfach Film ohne Tonspur war.
Vielmehr war es eher eine ganz eigene Kunstform mit besonderen ästhetischen Gesetzmäßigkeiten, die nach der Entdeckung des Tons völlig verschwunden ist. Das gilt jedoch nur teilweise. Das kann man immer wieder beobachten, wenn man einmal die Kinovorführung eines Klassikers mit Live-Musik besucht. Die Stärke des stummen Films liegt in seiner außergewöhnlichen Emotionalität. Was der Tonfilm mit Ach und Krach und vielen Soundeffekten herzustellen versucht, gelingt dem Stummfilm mit einfacher Gebärdensprache und Fingerspiel, mit aufgerissenen Augen und übertriebener Gestik.
Jede Gefühlsregung wird bis ins kleinste Detail filmisch realisiert und ausgereizt. Ein Gefühl dauert eben manchmal länger, als es die erzählerische Zeit zulässt. Dass es dazu einer führenden Musik bedarf, versteht sich von selbst. Und so stehen Stummfilme strukturell dem Musikalischen meist näher als den realistischeren Bühnenkünsten. Leichtes Klavierspiel begleitet die Exposition der Story. Sehr viel später darf die Musik dann auftrumpfen.
Der spanische Regisseur Pablo Berger hat versucht in seiner modern erzählten Geschichte von Schneewittchen, mit böser Stiefmutter und den guten Zwergen, eine dieser Stummfilmzauberwelten wiederauferstehen zu lassen. Das ist ihm auf eindrucksvolle Weise gelungen. Es handelt sich übrigens keineswegs um einen Kinderfilm, wie auch die klassischen Grimms Märchen eigentlich nicht für Kinder gedacht waren. Und weil es ein spanischer Film ist, steht der Stierkampf im Zentrum.
Der Vater von Carmencita ist in den 1920er-Jahren ein berühmter Matador, wird verletzt und sitzt fortan im Rollstuhl. Nachdem die kleine bei der Großmutter aufgewachsen ist, liebt er es seiner Tochter beim Einüben der Torera-Rolle mit dem roten – hier natürlich schwarzen - Capote-Tuch zuzuschauen. Doch als er seine Pflegerin heiratet, ist es mit der Vater-Tochter-Idylle vorbei.
Als konsequent grotesk-sadistische Figur gezeichnet vertreibt die böse Stiefmutter Carmencita aus dem Haus. Die totgeglaubte schöne junge Frau wird von einer umherziehenden Gruppe zwergwüchsiger Toreros - "Los Enanitos Toreros" - gefunden und gerettet. Bald entdecken sie das Talent ihres Schützlings für den Stierkampf und bauen sie als neue Attraktion in ihrer Show auf. Umgeben von einer ergebenen Komikertruppe kann das Mädchen endlich ihren Traum als Torera leben.
Natürlich kann die märchenhafte Karriere der bösen Stiefmutter nicht gefallen. Sie versucht, als sadistische Furie noch einmal einzugreifen. Aber was kann man schon machen, wenn sieben kleine Toreros zusammenhalten. So weit, so schön. Der Film hält stets die Balance zwischen gefühlsseligem Melodrama und komischer Travestieshow mit Zwergenhumor und das bis zum bitteren Happy End. Pablo Berger versteht es, der Stummheit seines Films immer neue Pointen abzutrotzen und weil er dabei äußerst konsequent bleibt, seinem Publikum das ungefilterte Erlebnis eines "echten Stummfilms" gönnt, ist "Blancanieves" ein vergnüglicher und erfahrungsreicher Ausflug in eine Welt, die Flüstern und Schreien noch nicht kannte. Man wünscht sich mehr solcher Filme. Auf Flamenco, der von der Musik eher zitiert als illustriert wird, darf diese Geschichte am Ende dann doch keinesfalls verzichten.