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Stuttgart 21: Tunnelbau in gefährlichem Gestein
Anhydrit - der quellende Alptraum

"Mit dem Wissen von heute würde man Stuttgart 21 nicht mehr bauen", räumte Bahn-Chef Richard Lutz 2018 ein. Er gab damit Kritikern recht, die exorbitante Kostensteigerungen vorausgesagt hatten. Doch auch vor einem ingenieurtechnischen Desaster wurde vorab gewarnt - da steht die Stunde der Wahrheit nun an.

von Karl Urban |
Drei Männer in Warnwesten gehen durch einen Tunnel des Bahnprojektes Stuttgart 21.
Alles trocken im Tunnel des Bahnprojektes "Stuttgart 21" - ob das auch so bleibt, ist eine spannende Frage (dpa / picture-alliance / Sebastian Gollnow)
Stuttgart bekommt einen neuen Bahnhof. Zehn Jahre bohrten und sprengten sich Mineure dafür durch das Gestein unter der Stadt, damit nicht nur der Kopfbahnhof zum Tiefbahnhof wird. Auch 55 Kilometer Tunnel mussten quer durch die Hügel rund um die Innenstadt getrieben werden. Die Planer gingen dabei ein Wagnis ein, denn unter Stuttgart liegt viel Anhydrit. Dieses Mineral bildet ein Gestein, das bei Wasserkontakt aufquillt wie ein Hefekuchen. Der Druck kann so stark werden, dass sich Fahrbahnen heben, meterdicke Betonwände brechen. Ein Dutzend Tunnel in mehreren Ländern scheiterten am Anhydrit. Jahrzehntelang musste immer wieder saniert werden, auch im Umfeld von Stuttgart. Im Hinblick auf die geplante Fertigstellung von Stuttgart 21 - mittlerweile ist das Jahr 2025 angepeilt- stellt sich die entscheidende Frage: Sind die Tunnel beim Bau wie geplant trocken geblieben – und werden sie halten?

Bei Nieselregen und fünf Grad marschieren gut 200 Menschen durch die Königstraße in Stuttgart in Richtung Hauptbahnhof. Wieder einmal. Die 504. Montagsdemo, gegen einen Bahnhof, der längst gebaut wird.
Vor über zehn Jahren fing hier alles an. Bald demonstrierten tausende Menschen im Schlossgarten. Gegen den Tiefbahnhof und gegen 55 Kilometer neue Tunnel direkt unter der Stadt. Auch durch ein, wie die Gegner sagten, hochproblematisches Gestein. Durch ein Gestein, durch das man, wie die Befürworter sagten, geradewegs hindurch bohren und sprengen könne.
Und jetzt steht die Stunde der Wahrheit an: Sind die Tunnel beim Bau wie geplant trocken geblieben – und werden sie halten?
"Warum ausgerechnet durch den Anhydrit?"
Es ist früh am Morgen und ich fahre von meinem Wohnort in Tübingen nach Stuttgart. Hinter Esslingen am Neckar heben sich die Dunstschleier und eine von Deutschlands größten Baustellen rückt ins Blickfeld, die eine ganze Stadt durchzieht. Es geht vorbei an nagelneuen Gleisbetten und leeren Tunneleinfahrten in gleißendem Licht der Baustrahler. Damals, als die Polizei erstmals mit Wasserwerfern gegen friedliche Demonstranten vorging, studierte ich noch Geologie. Schon damals wunderte ich mich mit den Bahnhofsgegnern: Warum ausgerechnet durch den Anhydrit?
"Ist das, hoffentlich, klar beantwortet, Herr Dr. Geißler?"
"Weiß ich nicht, ob das …"
Am 11. November 2010 überträgt Phoenix live aus dem Stuttgarter Rathaus. Es geht um Geologie.
"Da müssen Sie nochmal fragen."
"Also, wo ist der Anhydrit? Ist das Gips?"
Unscheinbares Gestein mit Sprengpotential
Anhydrit bildet ein graues, mit schwarzen Schlieren durchzogenes, unscheinbares Gestein, das tief unter Stuttgart liegt. Kommt er mit Wasser in Kontakt, kann er quellen. Das heißt, er löst sich in Wasser und kristallisiert zu Gips aus. Der Gips braucht aber 60% mehr Platz als der Anhydrit und kann beim Quellen einen immensen Druck aufbauen. Ein Druck, der sich auf den Tunnel überträgt, ihn beschädigen oder sogar zerstören kann. In einem Dutzend anderer Tunnel gab es solche Schäden. Und in Staufen im Breisgau hob sich in Folge einer Bohrung nach Erdwärme die historische Altstadt.
Risse in einem Gebäude in Staufen im Breisgau nach Erdwärme-Bohrungen, Staufen im Breisgau (2012) 
Hebungen durch quellenden Anhydrit haben in Staufen zahlreiche historische Gebäude schwer beschädigt (imago / Imagebroker)
In Stuttgart aber soll das Quellen ausbleiben, sagt Walter Wittke, der Tunnelbau-Sachverständige der Deutschen Bahn für Stuttgart 21. Manche nennen ihn Tunnelbau-Papst:
"Ich fasse zusammen: Kein Wasser, kein Quellen. Das ist eine ganz wesentliche Aussage. Wenig Wasser, wenig quellen."
"Viel Wasser, viel quellen."
"Das ist richtig, das habe ich deshalb nicht dahin geschrieben, weil wir das nicht erleben werden."
Die denkwürdige Schlichtung mit Heiner Geißler ist jetzt fast zehn Jahre her. Und Walter Wittke hatte damals etwas versprochen. Er werde gleich vier zweiröhrige Strecken, also acht Tunnelröhren quer durch den Anhydrit bauen lassen, die gleichermaßen stabil und standsicher für 100 Jahre sind.
Ausflug in die Erdgeschichte
Ende 2019 bin ich bin mit dem Geologen Ralf Laternser verabredet, einem Gegner des Tiefbahnhofs. Eigentlich wollen wir im alten Kopfbahnhof ein Café besuchen, im denkmalgeschützten Bonatzbau von 1928, aber das Café hat wegen der Bauarbeiten geschlossen. Erst am Rand des Schlossgartens finden wir eine leere Bank. Hier hilft er mir, mein Wissen aufzufrischen.
"Also wir sind im süddeutschen Schichtstufenland. Ich kann ja mal grob sagen, was ich im Kopf habe."
"Das höre ich gern, da bin ich mal gespannt."
Tektonische Kräfte haben Süddeutschland angehoben, von West nach Ost, zwischen Oberrhein und Bayerischem Wald wie eine gewaltige, jetzt schief stehende Tischplatte. Dazwischen kamen dank der Erosion, durch Wasser und Wind, Gesteine des Erdmittelalters zum Vorschein.
Hohler Zahn im Untergrund
"Stuttgart liegt im Keuperbergland."
"Man sagt sogar eine Keuperrandbucht."
"Wieso Bucht?"
"Bucht sagt man, weil es morphologisch so ein Talkessel ist. Hat nichts mit der Schifffahrt zu tun."
Und Stuttgart liegt mittendrin. Und eine Gesteinsschicht ist geradezu durchzogen von Rissen und Klüften, der Gipskeuper. Ralf Laternser:
"Dieser Gipskeuper hat ganz viele tonige, weiche oder lösliche Gesteine und die werden von der Erosion, das heißt von Wind und Wasser relativ schnell weggeräumt. Das heißt, hier wurde quasi ein hohler Zahn angeknackst. Und nachdem er mal hohl war, ist er dann vor sich hingegammelt."
Doch tief unter dem hohlen Zahn, auf dem Stuttgart steht, liegt die noch immer intakte Zahnwurzel: der Anhydrit.
50 Kilometer Tunnel für einen Bahnhof
"So viele Tunnel: 50 Kilometer. Wenn man überlegt, so viel wie der Gotthard-Tunnel insgesamt, aber wir brauchen das hier nur, um den Bahnhof zu erreichen. Da ist noch lange nicht alles fertig. Und manche gehen halt nach Untertürkheim, Obertürkheim, es gehen welche nach Feuerbach. Es gibt den Fildertunnel. Es gibt also Tunnel über Tunnel."
Blick auf den Bohrkopf nach dem Durchbruch im Fildertunnel. Der Fildertunnel ist der längste Tunnel des Bahnprojekts Stuttgart 21 und wird nach seiner Fertigstellung der drittlängste Eisenbahntunnel Deutschlands sein.
Wichtige Zielmarke für Stuttgart 21: Feier zum Durchbruch des Fildertunnels im September 2019 (imago / Arnulf Hettrich)
Die Tunnel wurden gebohrt und gesprengt. Im August 2019 feierten die Mineure auch im letzten Tunnel den Durchschlag, dem 9,4 Kilometer langen Fildertunnel zum Flughafen. Was hat sich in all der Zeit getan? Wie gut beherrschen die Geologen inzwischen das Gestein?
In der Bergbau-Akademie Freiberg
500 Gleiskilometer von Stuttgart entfernt beginnt meine Recherche. Freiberg in Sachsen. Vier Gleise. Ein schmuckloser Provinzbahnhof. Es zieht. Freiberg liegt am Rand vom Erzgebirge und ist Sitz der ältesten noch existierenden Bergbau-Universität der Welt.
Hinter einer schweren Holztür liegt ein 200 Jahre alter Schatz. Ein gewaltiger Saal, holzgetäfelt, dutzende hell angestrahlte Vitrinen.
Paläontologische Sammlung im Institut für Geologie, Freiberg. Im Vordergrund ein Karbon Sigillaria aus Zwickau dahinter versteinerte Baumscheiben aus dem Bereich Chemnitz. Die Sammlung umfasst ca. 114.000 Makro- und fast eine Million Mikrofossilien. Die fast 250 Jahre alte Bergakademie ist die älteste noch bestehende montanwissenschaftliche Bildungseinrichtung der Welt.
Zeugnisse der Erdgeschichte: Gesteinsproben und Fossilien in der Freiberger Sammlung (imago / Rainer Weisflog)
"Wenn man jetzt nach dem Anhydrit guckt, würde ich zuerst hier in der Ausstellung nach den Sulfaten schauen."
Abraham Gottlob Werner soll sich Ende des 18. Jahrhunderts als einer der ersten mit dem Gestein beschäftigt haben. Gerhard Heide wurde mir empfohlen als eine Art Nachlassverwalter.
"Da finden wir Strontiumsulfat, den Coelestin in verschiedenen Varianten."
Es funkelt golden und silbern, es leuchtet violett, blau oder grün. Und dann haben wir ihn.
"Repräsentativ und schön ist er nicht"
"Da ist der Anhydrit."
"Ist aber bei weitem nicht so beeindruckend."
"Richtig, beim Anhydrit ist es nicht so typisch, dass er schöne große Kristalle bildet. Er bildet Kristalle, das schon. Aber repräsentativ und schön ist er nicht. Das stimmt."
Anhydrit, auch bekannt als Angelit und Engelstein, als Knötchen, als Kristall und als getrommelter Halbedelstein
Anhydrit, auch Angelit oder Engelstein genannt, lässt sich gut bearbeiten (imago / Angela Serena Gilmour)
Eigentlich suchen wir auch nicht das schönste Stück, sondern das älteste. Es steckt in einer Pappkiste, gemeinsam mit einem vergilbten Etikett.
"Was wahrscheinlich, höchstwahrscheinlich sogar, von Werner selbst geschrieben ist."
"Es sieht nach Federkiel aus."
"Das war ja damals üblich, mit Tinte zu schreiben, weil die beständig ist und über viele Jahrhunderte hält. Und wenn man das transliteriert."
"Das ist die Katalogbezeichnung. Und auf dem Etikett steht: Würfelspat von Hall in Tyrol. Nähert sich den An-Hydrit."
Name stamt vom "Vater der deutschen Geologie"
"Und dann hat sich der Name Anhydrit durchgesetzt, den Werner vorgeschlagen hat."
"Also von ihm ist der Name."
"Ja. Weil er schon chemisch verstanden hat, dass zwischen Gips und Anhydrit eine gewisse Verwandtschaft besteht, eben eine chemische Verwandtschaft und dass dem Anhydrit das Wasser fehlt. An – zur Negation. Anhydrit ist eben der Wasserfreie."
Es war eine Zeit, in der neue chemische Verfahren entwickelt wurden. Abraham Gottlob Werner erkannte, was in dem Anhydrit steckt – und was nicht: Wasser. Aber wieso eigentlich?
Porträt von Abraham Gottlob Werner (1749 - 1817)
Abraham Gottlob Werner gilt als "Vater der deutschen Geologie" (imago / Imagebroker)
Um das zu beantworten, springen wir weit in die Vergangenheit. Sehr weit, bis in die Keuperzeit. Das, was heute Südwestdeutschland ist, ist vor 230 Millionen Jahren ein Meer. Die ersten Dinosaurier ziehen gerade über die Welt. Die Region um Stuttgart liegt auf Höhe der Sahara, im Trockengürtel des Superkontinents Pangäa. Das Land hebt sich und das nahe Tethysmeer zieht sich zurück. Es ist brütend heiß, tagsüber weit über 40 Grad. Und die Reste des Meeres verdampfen.
Überbleibsel eines eingedampften Meeres
"Wenn ein Meer eindampft, dann fallen die verschiedenen Minerale nach ihrer Löslichkeit aus."
Sagt Christoph Butscher, auch er Geowissenschaftler an der TU Freiberg. Das Wasser verdampfte, darin gelöste mineralische Salze aber nicht. Die blieben übrig.
"Das, was am schlechtesten lösbar ist, fällt zuerst aus. Und was am besten löslich ist, fällt zuletzt aus. Dann gibt es diese typische Abfolge."
Das ist zuerst der Kalk. Eine weiße Kruste am Grund des Meeres.
"Und dann kommen diese Sulfate, in dem Fall Gips oder Anhydrit. Und es entsteht nur, wenn wir eine Eindampfung von einem Meer haben."
Eine zweite dünne Kruste, auch weiß. Aus dem Meer wird ein Salzsee. Gleißende Inseln aus Kalk, Gips und Salz, über denen die Luft wabert, während immer heißere Tümpel mit einer lebensfeindlichen Brühe zurückbleiben. Bis ein seltener Starkregen einbricht oder eine Sturmflut. Und der Salzsee wird für kurze Zeit wieder zum Meer.
"Mengenmäßig sind von diesen gelösten Mineralen so wenige drin. Ich brauch das Ganze zyklisch."
Drei Millionen Jahre Wasserschwappen
Wasser schwappt herein. Es verdampft. Wasser schwappt herein. Es verdampft. Wieder. Und noch einmal. Drei Millionen Jahre lang.
"So muss man sich das vorstellen. Es sollte einen schlechten Austausch mit dem offenen Meer haben, damit es diese Eindunstungen gibt. Es braucht aber einen gewissen Austausch, damit das Material auch wieder nachgeliefert wird, weil wenn ein Meer nur einmal verdampft, entsteht zu wenig Mächtigkeit."
Der Gipskeuper ist entstanden, eine zuweilen dicke Schicht aus Ton, vor allem aber Gips. Und dazwischen der Anhydrit. Er ist die letzte Unbekannte. Gerhard Heide:
"Wenn man es ganz brutal sagt, kann man bis heute nicht erklären, wie sich der Anhydrit gebildet hat."
Eine naheliegende Erklärung lautet so: Wenn Gips über die Jahrmillionen von immer mehr Sediment überdeckt wird, wird er zusammengepresst und verliert dabei irgendwie sein Wasser. Wird der harte Anhydrit dann durch Erosion wieder freigelegt, ist er mangels Druck eigentlich instabil. Hart bleibt er nur, solange er nicht mit Wasser in Kontakt kommt.
Die ersten großen Tunnel im Anhydrit
"Wie Anhydrit entstanden ist, da streiten sich die Gelehrten noch."
Das gibt auch Tunnelbauingenieur Dieter Kirschke freimütig zu. Sein Büro liegt in einem Wohngebiet am Rand von Karlsruhe, in einem unscheinbaren Mehrfamilienhaus.
"Ich bin schon ein etwas älteres Semester, aber immer noch berufstätig und habe ein Ingenieurbüro für Felsmechanik und Tunnelbau."
Dieter Kirschke hat Jahrzehnte Berufserfahrung, war Honorarprofessor für Tunnelbau an der TU Darmstadt. Er war dabei, als die ersten großen Tunnel im Anhydrit geplant wurden. Und er war dabei, als das wasserfreie Mineral begann, große Probleme zu machen.
Stuttgart gilt in den 1980er Jahren als Provinzbahnhof, denn die Stadt ist von einer hügeligen Landschaft und Mittelgebirgen umgeben. Im Westen liegt der Schwarzwald, alle Gleistrassen sind kurvig. Doch die Bahn will das ändern. Der ICE soll schon in wenigen Jahren durchs Land rasen, mit 250 Kilometern pro Stunde. Die kurvige Strecke soll eine schnurgerade Alternative mit einem langen Tunnel erhalten. Erst durch brüchiges Gipsgestein. Als sich das als zu schwierig erweist, lässt die Bahn umplanen.
"Das Schwellproblem war vollkommen unterschätzt"
Der neue Freudensteintunnel soll direkt durch den Anhydrit verlaufen. Im bis dahin längsten Tunnelabschnitt in diesem Gestein. Er soll fünf Kilometer lang werden. Kirschke:
"Dann haben wir angefangen zu recherchieren. Was gibt die Literatur her? Mit welchen Drücken muss man rechnen? Es war bekannt, dass Anhydrit aufschwellen kann und dann entweder Hebungen oder hohe Drücke hervorrufen kann."
Beim Anhydrit ist das Bemessen knifflig. Trockener, harter Anhydrit ist standfest wie ein felsiges Gebirge und eine dünne Betonschale kann ihn tragen. Beginnt der Anhydrit aber zu quellen, wandelt sich das harte Gestein in Gips um, der auf den Tunnel drückt.
Roher Anhydrit in der Nahaufnahme 
Roher Anhydrit in der Nahaufnahme: Solides Gestein, wenn es trocken bleibt (imago / Blickwinkel)
"Das Schwellproblem war zwar bekannt, aber es war vollkommen unterschätzt. Man hatte offensichtlich die Schwellversuche immer nach der ersten Hebung und einem scheinbaren Abklingen abgebrochen."
Versuchsstollen für Druckmessung
Die Bahn entschied deshalb, entlang des neuen ICE-Tunnels unter dem Freudenstein einen Versuchsstollen einzurichten. 120 Meter lang, etwas schmaler als der eigentliche Bahntunnel. Die Ingenieure statteten den Stollen mit etlichen Messgeräten aus, bohrten Löcher in die Tunnelwand und pumpten Wasser hinein. Sie ärgerten das Gestein bewusst und wollten beobachten, wie der Anhydrit reagiert.
"So haben wir bei den Versuchen für den Freudenstadttunnel ein Jahr lang jeden Tag die Probe wieder entlastet, und jeden Tag war der Druck am nächsten Tag wieder da."
Ein gängiges Verfahren bei Tunneln in Tonstein: Man wartet ab, bis sich der Ton mit Wasser vollgesogen hat.
Anhydrit hört nicht auf zu quellen
Tatsächlich hört Ton nach einigen Tagen wieder auf zu quellen. Im Anhydrit-Versuchsstollen dagegen stieg der Druck auf die Tunnelwände an. Der Druck ließ nicht nach. Nicht nach Tagen. Nicht nach Wochen. Nicht nach Monaten.
"Bis wir gemerkt haben, da ist wohl noch mehr da."
Die Druckmessdosen an der Außenseite der Betonschale zeigten zwei Megapascal. Drei. Vier.
"Da müssen wir neue stärkere Druckmessdosen einsetzen und messen, wie viel Druck ist wirklich da? So sind wir dann von dem bis dahin maximalen Wert von vier Megapascal, dann auf acht Megapascal gekommen."
Druck-Messgeräte überfordert
Acht Megapascal, das entspricht 800.000 Kilogramm pro Quadratmeter.
"Diese Dosen haben auch nicht ausgereicht, so dass wir auch dort nicht wussten, wie viel es noch mehr würde. Aber wir haben die Sache dann zumindest unter Kontrolle gebracht, indem wir dann wieder entlastet haben."
All das geschah wohlgemerkt in einem Teststollen. Dem Bahntunnel selbst ist der Ernstfall eines Wasserkontakts erspart geblieben. Die ICEs fahren bis heute durch den Freudensteintunnel. Jahre später begann Dieter Kirschke allerdings an einem weiteren Tunnel am Engelberg westlich von Stuttgart mitzuarbeiten. Bis dahin hatten sich die Versuche aus dem Freudensteintunnel nicht nur in der Fachwelt herumgesprochen. Dieter Kirschke:
"Während der ganzen Bauzeit gab es ja eine alte Dame, die hatte immer ein Schild vorne auf der Brust und auf dem Rücken. Und sie bevorzugte eine andere Trasse, die nicht durch den Anhydrit durchgefahren wäre. Sie hat recht gehabt, aber sie wurde damals immer belacht."
"Anhydrit ist vom Teufel"
Dieser Tunnel war ein Mammutprojekt: Es ging um zwei breite, ovale Röhren für eine sechsspurige Autobahn.
"Damals war der Ministerpräsident Herr Teufel, und da schrieb sie immer, Anhydrit ist vom Teufel."
Die Autobahn 81 war notorisch überlastet. Die Zahl von Staus sollte nun reduziert und gleichzeitig die Luftbelastung im nahen Leonberg verbessert werden. Mit einem Tunnel, der auf 450 Metern quer durch den Anhydrit verlief. Ging es nicht anders?
"Wenn es nun unbedingt erforderlich ist, muss man eben hindurchbohren, wobei man beim Engelbergtunnel darüber streiten konnte."
Das sagt Dieter Kirschke heute. Damals glaubte auch Dieter Kirschke an ein widerstandsfähiges Tunnelgewölbe:
"Das heißt, man hat ganz dicke Wände und eine ganz starke Eisenbewehrung geplant, damit der Tunnel trotz seiner relativ ungünstigen Form, denn es ist ja ein Autobahntunnel, der breiter als hoch ist, dass er trotzdem den angenommenen Anhydritdruck aushält."
Wasseransammlung durch Kapillarwirkung
Zudem bestand die Hoffnung, dass Wasser möglichst gar nicht mit dem Anhydrit in Kontakt kommen würde. Eine fromme Hoffnung.
"Das hat sich dann beim Bau leider ziemlich schnell herausgestellt, dass das nicht möglich war. Wir haben zwar trocken gearbeitet. Aber das Gebirge war schlauer. Durch den Berg zogen sich Fasergips-gefüllte Klüfte. Der Fasergips zieht das Wasser durch und hat eine Kapillarwirkung wie ein Löschblatt, so dass sich plötzlich, ohne dass es direkt einen Kluftwasserzufluss gab, in der Tunnelsohle trotzdem Wasser sammelte. Und nach kurzer Zeit haben wir dann den Versuch, das Wasser aufzufangen und abzusaugen, aufgegeben."
Desaster beim Engelberg-Autobahntunnel
Der Rest ist Geschichte: Das Wasser ließ den Anhydrit quellen – und das massiv. Schon während der Bauphase drückte der quellende Anhydrit in den Tunnel. Die Sohle, also der Tunnelboden, hob sich binnen weniger Wochen um einen ganzen Meter. Gleichzeitig zeigten sich auch Risse im gerade erst erhärteten Spritzbeton an den Seiten. Der quellende Anhydrit durchbrach spielend eine ein Meter dicke und mit Stahl bewehrte Betonseitenwand. Der Tunnel drohte einzustürzen.
"Als jetzt das Spritzbetongewölbe am Rand durchbrach, mussten wir handeln. Da wurde kurzfristig beschlossen, das ganze Bauprinzip dieses Tunnels umzustellen und dem Tunnel nach unten eine Polsterschicht, eine sogenannte Knautschzone, zu geben, mit der dann das Schlimmste dieses sich entwickelnden Druckes abgefangen werden konnte."
Vier Sanierungen, immense Kosten
Eine teure Notlösung: Die erste Sanierung des Engelbergtunnels begann, bevor er überhaupt fertig war. Baukosten Engelberg-Basistunnel: 580 Millionen Euro.
Die Knautschzone, eine 1,7 Meter dicke Schicht aus Blähtonkügelchen, wurde tief unter der Fahrbahn verlegt. Der Anhydrit aber quoll weiter und verschob Deckenplatten und die frei gelagerte Fahrbahn. In nur zehn Jahren musste der Tunnel dreimal saniert werden; 2006, 2008, 2010. Jetzt steht die nächste Sanierung an. Weitere 135 Millionen Euro.
"Gibt es denn in so einem Fall irgendwann so einen Punkt, wo man sagen kann, jetzt hat das Gebirge aufgehört oder jetzt sind die Ausdehnung und das Schwellen so gering, dass das kein großes Problem darstellt? Gibt es diesen Punkt irgendwann oder ist das dann eine Dauergeschichte?" Dieter Kirschke:
"Es hat noch keiner abgewartet, bis ein schwellender Tunnel wirklich Ruhe gegeben hat. Unsere Messungen beim Engelberg-Basistunnel in Verbindung mit der Sanierung zeigen ja nun, dass die Drücke weiter ansteigen und die Verformungen weiter zunehmen."
"Bis heute steigen die Drücke an?"
"Ja, eindeutig."
Neue Anhydrit-Tunnel "unüblich großes Risiko"?
Die nächstlängeren Anhydrit-Tunnel wurden trotzdem gebaut: An der Stuttgarter Jägerstraße steige ich mit einer Gruppe interessierter Bauingenieure viele Stufen hinab in die Baugrube des Cannstätter Tunnels. Wir stehen auf der Westseite des neuen Tiefbahnhofs. Ein Projektingenieur von Stuttgart 21 führt unsere Gruppe vorbei an gepanzerten Tunnelbaubaggern und an einem Schalwagen, der die immense Tunnelschale mit Spritzbeton ausgekleidet hat.
Er sagt - unter uns - das Gestein werde sicher irgendwann quellen. Aber die Deutsche Bahn lässt ihre Experten in der Regel nicht freimütig ans Mikrofon. Erst 2016 befand ein Gutachten im Auftrag der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG, die Bahn sei "ein im Ingenieurbau unüblich großes Risiko" eingegangen. Das Gutachten entstand im Auftrag der Bahn und wurde nie veröffentlicht. Mir bleibt nur eine E-Mail an den Tunnelbaupapst direkt. Und Walter Wittke lädt mich tatsächlich ein, ihn zu besuchen.
Besuch beim "Tunnelbaupapst"
Das Büro von Dieter Kirschke war klein. "Wittke Beratende Ingenieure" residiert dagegen in einem dreigeschossigen schneeweißen Bürobau mit riesigen Fensterfronten. Walter Wittke empfängt mich gekleidet wie in der Schlichtung, in Anzug und Krawatte.
"Ich habe Sie einen Moment warten lassen, bitte um Entschuldigung."
"Kein Problem, hallo Herr Wittke."
Er hat die neuen Stuttgarter Tunnel geplant, durchgerechnet. Er kontrolliert die Mineure bei ihrer Arbeit. Der Tunnelbau-Experte ist jetzt 85 Jahre alt, seine Kinder haben einen Teil der Geschäfte übernommen, aber auch er geht noch immer unter Tage.
"Tunnelpapst" Walter Wittke in einer orangenen Jacke und mit Schutzhelm auf der Baustelle des Tunnels Untertürkheim, 15.11.2019. 
Walter Wittke vor Ort bei der Durchschlagung des Tunnels Untertürkheim (imago / Arnulf Hettrich)
Noch nie Probleme mit dem Anhydrit
Wir reden über die Anfänge des modernen Tunnelbaus, bei denen dank dünnen Spritzbetons erstmals große Gewölbe gebaut werden konnten. Und der Anhydrit? Der habe ihm noch nie Probleme bereitet:
"Es ist nicht immer allen gelungen, die Tunnel ohne Schäden und ohne Folgeschäden zu bauen. Das ist den Schweizern, den Österreichern nicht gelungen. Die Schweizer sind da überhaupt nicht besser, wie man immer liest, das ist nicht richtig."
"Eigentlich ist es allen anderen nicht gelungen. Außer bei den Tunneln, an denen Sie beteiligt waren."
"Ich weiß das nicht."
"Ich habe hier so eine Liste."
"Ich kenne ja nicht alle Tunnel."
"Das ist aus einem Fachbuch: Verkehrstunnel im Anhydrit, im quellfähigen Gipskeuper seit 1957."
"Ich kenne ja nicht weltweit alle Tunnel. Wenn ich so etwas sagen würde, würde ich vielleicht der Unwahrheit überführt. Aber es in der Tat so, dass es damals gelungen ist, diese Tunnel ohne Schäden zu bauen. Und dass viele Tunnel nicht ohne Schäden gebaut worden sind."
Glück oder Können?
Die Wendeschleife und der Hasenbergtunnel der Stuttgarter S-Bahn. Zwei von weltweit einem guten Dutzend im Anhydrit. Unter beiden hätte sich der Untergrund heben können, die Tunnelwand zerdrücken. Aber es geschah nicht. War es Glück oder Können, Herr Wittke?
"Sie haben ja sicher über die letzten 30 Jahre nichts von Schäden in diesen beiden Tunneln gehört. Und etwa so lange stehen die. Es ist gelungen, die auch ohne Schäden zu entwerfen, zu planen und herzustellen damals."
Skeptiker wenden ein, die zwei Stuttgarter Tunnel Walter Wittkes befänden sich in einem Teil der Stadt, wo nur wenig Regenwasser versickert. Dass hier das Gestein quillt, sei schlicht unwahrscheinlicher als anderswo. Und bei Stuttgart 21? Vier jeweils zweiröhrige Tunnel hat Wittkes Firma dort geplant, entworfen und deren Bau überwacht. Alle laufen teilweise durch Gips- und Anhydritgestein.
"Man muss dafür sorgen, dass Wasser möglichst keinen Zutritt findet zum Anhydrit. Das kann man beim Bau dadurch sicherstellen, dass man absolut trocken baut. Und das ist auch geschehen in Stuttgart."
Neue Techniken gegen das Wasser
Was im gewaltigen Autobahntunnel unter dem Engelberg so grandios scheiterte, wird hier derzeit fertiggestellt, auf der dreißigfachen Strecke im Anhydrit. Mit einer ganzen Reihe neuer Techniken: In Risse und Klüfte im Anhydritgstein wurden Acrylatgele und Polyuretane gespritzt, bis sie wieder dicht waren. Maßnahme zwei: Drainageschicht. Wasser, das dennoch entlang der Außenwand einsickert, wird aufgefangen.
Maßnahme drei: Dammringe. Ein Damm rund um den Tunnel soll verhindern, dass Grundwasser am Stollen entlang bis in den Anhydrit gelangt. Dafür wurde das schon durch die Bauarbeiten zerrüttete Gestein rundum ausgefräst, abgedichtet und betoniert. Wittke:
"Wir haben versucht, das Gebirge weitgehend in einen Zustand zu versetzen, den es vorher hatte."
Das heißt: Der Anhydrit in der Tiefe war vor dem Tunnelbau trocken. Und laut Walter Wittke ist er es nun wieder.
Ein Kipplader und Container in der Baustelle Stuttgart Nord. (2016)
Tunnelbau im Anhydrit: Baustelle Stuttgart Nord (imago / Lichtgut)
Versprechen von 2010 gehalten?
Ich laufe zurück zum Weinheimer Bahnhof. Mit dem Intercity zurück nach Stuttgart. Und mir fällt noch etwas ein: Wittke hatte 2010 vollmundig versprochen, man werde dort absolut trocken bauen. Ich rufe ihn einige Wochen später nochmal an. Ist wirklich kein Wasser in den Tunnel gelangt? Er überlegt.
"Nein. Mit Ausnahme von Regenereignissen, aber das hat mit dem Gebirge nichts zu tun."
Wenn es stark regnet, kann von oben etwas Wasser in Tunnel mit einem Gefälle laufen. Und sonst?
"Und da ist mal eine Leitung geplatzt. Aber sonst ist da nichts gekommen. Das ist nicht unbedingt etwas, das man an die große Glocke hängen sollte, weil das ist behoben und da gibt es nur wieder Ärger."
Die Tunnelschale sei damals schon abgedichtet gewesen, sagt Wittke. Der Tunnelboden wiederum habe sich nirgendwo mehr als einige Millimeter gehoben. Und das sei einkalkuliert gewesen.
Grundwasseranhebung ist Stunde der Wahrheit
Jetzt steht noch die letzte kritische Phase an: Das für die Bauarbeiten abgesenkte Grundwasser wird wieder angehoben. Wird der Anhydrit trocken bleiben? Das frage ich Dieter Kirschke, den Tunnelbauingenieur, der im Stuttgarter Engelbergtunnel so viele schlechte Erfahrungen mit dem Anhydrit gemacht hat.
"Nachdem dieser Zustand erreicht ist, kann man sagen: Entwarnung. Dem Tunnel wird auch in Zukunft nichts mehr passieren."
"Da sind Sie sicher?"
"Ja!"
Gilt Stuttgart 21 schon bald als Meilenstein für sauberen Tunnelbau quer durch den Anhydrit? Maßnahmen wie Dammbau und Kunstharzverfüllung waren zumindest teuer. Seit Baubeginn haben sich die Projektkosten von 4,1 auf 8,2 Milliarden Euro verdoppelt. Aufwendige Verfahren beim Tunnelbau im Anhydrit hatten laut Bahn-Aufsichtsrat einen Anteil daran.
Anhydrit immer noch nicht berechenbar?
Und von einem tiefen Verständnis des Materials könne auch nach diesem Mammutprojekt nicht die Rede sein, meint Dieter Kirschke:
"Man ist noch keinen Schritt weiter. Man hat noch kein Stoffgesetz für den Anhydrit. Man kann ihn nicht berechnen. Und Berechnung ist ja auch keine technische Lösung. Berechnung wäre ja nur die Grundlage einer Bemessung. Irgendwo ist der Druck zu groß. Dann kann ich ihn nicht mehr bemessen."
Geologen an einer spanischen Universität haben kürzlich ein theoretisches Modell entwickelt, das erstmals physikalische, chemische und hydrologische Prozesse beim Anhydritquellen zusammenbringt. Doch es kann den immensen Quelldruck noch nicht voll nachbilden, der entstehen kann.
Kontroverse Einschätzungen unter den Experten
Deswegen ist auch Christoph Butscher zurückhaltend.
"In meinen Augen tritt Herr Wittke und die Firma so auf, als ob sie sagen würden, wir haben jetzt alles erforscht, wir haben alles im Griff. Wir können das berechnen. Wir haben alles verstanden. Ich bin der Meinung, so weit sind wir noch nicht. Es gibt noch viele unverstandene Prozesse, und mit den Modellen, mit denen sie arbeiten, werden wesentliche Prozesse nicht berücksichtigt."
Der Tunnelbaupapst selbst ist naturgemäß anderer Ansicht:
"Ich meine, wir sind ja ziemlich führend, glaube ich; wir mit unserem Team und haben die Nase vorn. Und das ist der Unterschied. Das ist noch nicht nachvollzogen worden von anderer Stelle in der Form."