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Stuttgarter Band: Die Nerven
Authentizität und Fälschung

Was ist echt, was Lüge? Zu wütenden Gitarrenriffs erkunden Die Nerven auf ihrem neuen Album "Fake" Fragen zum Zeitgeist. "Die Wahrheit ist die Lüge, auf die man sich einigen konnte", sagte Schlagzeuger Kevin Kuhn im Dlf.

Max Rieger und Kevin Kuhn im Gespräch mit Christoph Reimann | 14.04.2018
    Die Musiker von Die Nerven in wilder Verrenkung
    Ermächtigung statt Ohnmacht - das ist der Kurs der Punkband Die Nerven (Starkult / David Spaeth )
    Christoph Reimann: Die Punkband Die Nerven wurde 2010 in Stuttgart gegründet. Nächsten Freitag erscheint ihr das vierte Album der Band mit dem Namen "Fake". Ein sehr gegenwärtiger Begriff, allerdings mittlerweile auch überstrapaziert und überladen. Daher war auch die erste Frage an Max Rieger und Kevin Kuhn, was sie denn an diesem Wort gereizt hat.
    Max Rieger: Als wir auf der Suche waren nach einem Albumtitel, wussten wir, er soll kurz sein, er soll im Idealfall ein englischsprachiges Wort sein. Und das Wort "Fake" ist irgendwann überall aufgetaucht, war omnipräsent. Und wir hatten dann sozusagen mit dem Titel relativ schnell einfach ein, wenn auch loses, aber immerhin ein Konzept für den Rahmen, in dem die Platte selbst stattfinden sollte.
    Reimann: Aber es geht ja nicht um Fake-News im Sinne von den Nachrichten, die zum Beispiel ein Präsident namens Trump verbreitet.
    Rieger: Natürlich spielt das auch mit rein. Und man muss sich natürlich auch bewusst sein, dass es so auch interpretiert werden kann. Ich glaube, uns ging es einfach auch um dieses Hinterfragen der objektiven Wahrheit, ob die überhaupt existiert und was sozusagen "Lüge" ist und was nicht. Und wie jeder seine eigene Wahrheit sich macht. Und diese Sensibilität, die dafür existiert, seitdem dieses Wort eben so im Umlauf ist.
    Reimann: Und haben Sie eine Antwort darauf gefunden – was ist Wahrheit, was ist Lüge?
    Rieger: Nein, natürlich nicht.
    Kevin Kuhn: Die Wahrheit ist die Lüge, auf die man sich einigen konnte.
    "Die am miesesten gelaunte Band Deutschlands"
    Reimann: Songs auf dem Album heißen "Alles falsch", "Aufgeflogen", "Explosionen" – die Songs, die haben etwas Drängendes. Und Sie, Max Rieger, wenn Sie singen, dann klingen Sie manchmal niedergeschlagen und oft auch wütend. Haben Sie eine Ahnung, woher das kommt, so eine Ohnmacht oder so eine Wut?
    Rieger: Vielleicht war es mal früher Ohnmacht und sicherlich auch Wut. Ich würde es heutzutage mehr als Selbstermächtigung und Emanzipation bezeichnen. Dass man sich nicht aufhalten lässt von Dingen, von denen man vermeintlich glaubte, dass man sie nicht kann. Und natürlich schöpfe ich auch Energie aus Momenten, die nicht so gut sind.
    Reimann: "Früher" sagten Sie gerade. Damit meinen Sie frühere Songs Ihrer Band Die Nerven?
    Rieger: Genau.
    Reimann: Was hat sich geändert jetzt?
    Rieger: Wir sind einfach als Band weiterhin unterwegs – aber in eine andere Richtung. Also, es gab immer dieses … Wer hat es geschrieben? "Die Zeit": "Die am miesesten gelaunte Band Deutschlands". Und ich persönlich konnte mich damit nicht identifizieren, aber es war dann irgendwie doch so eine Sache, die halt so rumgereicht wurde. Ich hatte aber den Eindruck nie. Und es geht uns irgendwie um andere Sachen, habe ich den Eindruck, aber es geht nicht mehr darum, sich gegen irgendwas zu positionieren oder so was, sondern ich habe das Gefühl, wir können jetzt zum ersten Mal wirklich anfangen, auszudrücken, worum es uns geht und wirklich auch mal ausdifferenzieren.
    Zwischen Marilyn Manson und Rammstein
    Reimann: "Weil früher alles besser war, denke ich nicht nach und doch zu viel", heißt es im Song "Alles falsch", und dazu erklingt Musik, die könnte in Ansätzen – also in Ansätzen - auch vielleicht von Rammstein kommen. Also so martialisch, militärisch, dämonisch.
    Rieger: (Lacht)
    Reimann: Sie müssen schon lachen? Sehen Sie gar nicht so?
    Kuhn: Das könnte nicht von Rammstein kommen.
    Rieger: Nee, das kommt nicht von Rammstein.
    Kuhn: Weil "Denk ich nicht nach und doch zu viel", das würde Till Lindemann in Millionen Jahren nicht singen.
    Reimann: Nein, ich meinte den Sound gerade, so wie es klingt.
    Rieger: Das würde ich auch verneinen.
    Reimann: Das nun wiederum ist so einer der wenigen Songs, der vielleicht etwas sehr Konkretes behandeln könnte – das Erstarken rechter Tendenzen zum Beispiel in Deutschland.
    Rieger: Also das mit dem Rammstein – okay. Ich habe jetzt mehrfach gehört, es wäre wie ein Marilyn-Manson-Song. Und Max Gruber von Drangsal meint auch, es sei der beste Marilyn-Manson-Song, den er selbst nie aufgenommen hat. Mag so sein. Da ging es einfach nur um handwerklich-technische Fragen. Ich meine, wir haben uns nicht hingesetzt und gesagt: So, das wird jetzt der Rammstein-Part.
    "Ich entdecke jeden Tag neue Musik"
    Reimann: Gehen Sie denn sonst mit einem Plan ans Komponieren ran, oder lassen Sie sich da treiben?
    Rieger: Na ja, erst mal muss man sich treiben lassen – und vor allem muss man erst mal so eine Grundidee entwickeln. Und die Grundidee, die kann man nicht am Klemmbrett entwerfen, sondern die passiert, oder sie passiert nicht. Und dann kann man auf dieser Idee sozusagen dann auch etwas nüchterner aufbauen. Aber die erste Idee, die muss schon im Kontrollverlust beginnen, weil erst da kommen die Ideen, an die man gar nicht geglaubt hätte, dass man sie überhaupt haben könnte.
    Reimann: Sie wollen eine Band fürs "Jetzt" sein, haben Sie kürzlich in einem Interview gesagt.
    Rieger: Ganz recht.
    Reimann: Aber wie lässt man als Musiker von heute diese Referenz-Hölle hinter sich, wenn eigentlich alles schon mal gemacht wurde?
    Rieger: Ich würde verneinen, dass alles schon mal gemacht wurde. Ich entdecke jeden Tag neue Musik, die es so noch nicht gab. Natürlich haben wir uns da schon auch einige Steine in den Weg gelegt, weil wir sind ein Trio mit Schlagzeug, Gitarre, Bass – und sicherlich nicht das erste Trio, was so was macht. Aber dann doch hoffentlich eine Band, die ihren eigenen Weg geht.
    Reimann: Ein Song auf dem neuen Album heißt "Skandinavisches Design", vermutlich anspielend auf diese rötlichen Teakholz-Möbel aus den 60ern und 70ern. Das sind so die Möbel, die sich Leute heute gerne in die Wohnung stellen, wenn sie das erste Geld verdienen. Vielleicht hat das auch was von einer Nostalgie?
    Rieger: Nee, mir ging es da gar nicht um eine Nostalgie. Mir geht es um so eine Oberflächlichkeit, die ich damit verbinde. Also, ich meine, auf der einen Seite ist es ja schön, wenn man sich sozusagen den Ort, an dem man wohnt, häuslich einrichtet – da habe ich überhaupt nichts dagegen. Mir ging es mehr um Allerweltsdinge, wie alle Wohnungen gleich aussahen. Also, wenn man sich so eine Wohnung vorstellt und das ist dann so ein sanierter Nachkriegsbau meistens, mit weißen Wänden und mit den immer selben Möbeln.
    Reimann: Aber Individualität bleibt auf der Strecke?
    Rieger: Ja, auf jeden Fall.
    Reimann: Ist das etwas, was Sie an Ihrer Generation kritisieren?
    Rieger: Auf der einen Seite ja – und auf der anderen Seite ist es aber auch ein bisschen paradox, weil niemals die Leute so individuell sich dargestellt haben. Wenn ich jetzt so überlege, wie meine Großeltern gelebt haben, und wie es da so ganz klare Strukturen gab. Und jeder hat innerhalb dieses Systems existiert. Dann könnte man ja eigentlich heutzutage sagen, mit den ganzen sozialen Medien und allem, was dazu gehört, hat man heutzutage eine viel größere Möglichkeit, sich individuell auszudrücken. Was aber interessanterweise dazu führt, dass es sich nicht so anfühlt, und dass die Leute Angst davor haben, dass sie ihre Eigenheiten haben und dass jeder was eigenes mitbringt – gute wie schlechte Dinge. Dass man das nicht will, das finde ich relativ schade.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.